Einführung in die Behindertenpädagogik

Eine Vorlesung
Buch | Softcover
342 Seiten
2016 | 1., Aufl.
Lehmanns (Verlag)
978-3-86541-832-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Einführung in die Behindertenpädagogik - Wolfgang Jantzen
29,00 inkl. MwSt
Im Unterschied zu der umfangreichen und nicht einfach zu lesenden „Allgemeinen Behindertenpädagogik” führt der Urheber der materialistischen bzw. kulturhistorischen Behindertenpädagogik selbst und in freier Rede in diese anspruchsvolle Theorie ein. Darüber hinaus werden Ideen dieses grundlegenden Werkes unter verschiedenen Aspekten ergänzt und weiterentwickelt. Die „Einführung in die Behindertenpädagogik” ist das überarbeitete Tonbandtranskript einer Vorlesung für die Erstsemester des Studiengangs Behindertenpädagogik der Universität Bremen im Wintersemester
1998/99. Sie zeigt den souveränen Umgang des Autors mit einer anspruchsvollen Theorie und der zu entwickelnden humanen Praxis für alle Menschen.
Das Buch klärt die wichtigsten Grundbegriffe einer relationalen Auffassung von Behinderung als sozialer Konstruktion, wie sie vom Autor schon Jahrzehnte vor der Behindertenrechtskonvention entwickelt wurde. Zugleich liefert es einen Zugang zur Behindertenpädagogik als synthetischer Humanwissenschaft im deutlichen
Gegensatz zu den zahlreichen Einführungen in Heil-, Sonder-, Rehabilitations-, Förder- oder Inklusionspädagogik, mit denen zur Zeit der Markt überflutet wird.

Rezension Vera Moser

Zunächst vorab: Wolfgang Jantzen hat gemeinsam mit Georg Feuser als Begründer einer „Materialistischen Behindertenpädagogik“ das Fach Sonder- / Behindertenpädagogik auf einschneidende Weise in den 1970er bis 90er Jahren reformiert. Verbunden war hiermit vor allem eine Abkehr von der geisteswissenschaftlichen Tradition des Faches, hin zu einer multiperspektivischen und interdisziplinären Verständigung über Behinderung – wobei Jantzen Behinderung paradigmatisch als Lupe für gesellschaftliche Ausgrenzungsprozesse verstand.

Das unter dieser Perspektive großangelegte Projekt einer fachübergreifenden synthetischen Humanwissenschaft konnte aber sein hochgestecktes Ziel nicht erreichen – einmal angesichts der fachbezogenen Ausdifferenzierung der Universitäten und andererseits aufgrund einer klaren marxistischen Ausrichtung des gemeinsamen Theorievorschlags. Nichtsdestotrotz hat die „Materialistische Behindertenpädagogik“, wie sie sich selbst definierte, vor allem Einsichten in die gesellschaftlichen Konstruktionsprozesse des Phänomens Behinderung hervorgebracht wie auch differenzierte Hinweise in Bezug auf die psycho-physischen Niederschläge isolierender Bedingungen eines „Behindertseins“ erarbeitet. Damit hat sie nicht nur Anschlüsse für medizinische, psychologische, soziologische und historische Forschungen geliefert – wobei letztere nunmehr u.a. unter der Flagge der Disability Studies segeln; sie hat auch Grundlagen zu einem aktuellen sozialrechtlichen Verständnis von Behinderung vorgelegt, welches auf einer Verknüpfung von sozialen, psychischen und physischen Dimensionen basiert. Eine solche Definition vertritt nicht nur inzwischen die Weltgesundheitsorganisation, sondern liegt auch dem Behinderungsverständnis der UN-Behindertenrechtskonvention zugrunde. Und sie hat ein pädagogisches Verständnis für die Bedingungen des Behindertwerdens eröffnet, in der eine rehistorisierende Diagnostik in einem Konzept von Dialog und Kooperation im Zentrum steht und damit einer defektologischen, caritativen und vor allem paternalistischen Perspektive eine endgültige Absage erteilt. Hiermit ist die „Materialistische Behindertenpädagogik“ nicht nur auf der Höhe der Zeit, sondern auch das bislang uneingeholt geschlossenste Theoriegebäude des Fachs (Feuser hat vor allem im Bereich der Didaktik ergänzend gearbeitet).

Aber ein Problem bleibt: abgesehen von den sozio-historischen Teilen ist die Arbeit aufgrund der vielen neurowissenschaftlichen Bezüge nur schwer nachvollziehbar. Bietet nun die 1998 gehaltene und inzwischen auf der Grundlage eines unbearbeiteten Vorlesungstranskripts veröffentlichte Version eine Abhilfe? (Überarbeitungen wurden nur hinsichtlich der aktuellen Prüfung der zitierten Internetquellen vorgenommen.) Die Rezensentin muss gestehen: Jein.

Einerseits referiert der Text die einschlägigen Bausteine der Materialistischen Behindertenpädagogik (Behinderungsverständnis, Sozial- und Ideengeschichte, Integration und Enthospitalisierung, Psychologie der Behinderung, Diagnostik, Pädagogik und Therapie) in einer gut verständlichen Sprache und in einer gut nachvollziehbaren systematischen Reihenfolge, andererseits – und dies ist dem nicht überarbeiteten Vortragsstil geschuldet – sind diese Referate aber dann doch z.T. auch assoziativ, exemplarisch und wenig vollständig (bis hinein in Literaturverweise, wo amüsanterweise auch der Referent mit „ist mir gerade entfallen“ zitiert wird, z.B. 160). Zudem bezieht sich der Autor verständlicherweise auf seine Zeit, d.h. Entwicklungen nach 1998 werden nicht mehr aufgenommen (auch hier bedauert die Rezensentin die fehlende Nachbearbeitung des Ursprungstextes) – und insofern bleibt zuweilen unklar, ob es sich hier noch um den aktuellen Stand beispielsweise der Entwicklungs- und Kognitionsforschung handelt. Und – was am schwersten für Studierende am Studienanfang wiegt – bleibt der Text gegenüber anderen Autor_innen des Fachs und benachbarter Fächer immun, d.h. eine Auseinandersetzung mit anderen zeitgenössisch vorgetragenen Positionen unterbleibt, sofern diese nicht direkt in das eigene Theoriemodell integrierbar sind. Insofern können gerade Studienanfänger_innen (noch) nicht nachvollziehen, von welchen anderen denkbaren Positionen sich die dargelegten systematisch absetzen. Auch ist der Gesprächston, indem der Vorlesungstext gehalten ist, geradezu eine Einladung, mitzusprechen, was aber naturgemäß in der präsentierten Buchform dann nur ein innerer Dialog bleiben kann, aber immerhin.

Dennoch empfiehlt sich der Text auf folgenden Gründen: Erstens liegt hiermit eine leichter lesbare Darstellung der Grundzüge der Materialistischen Behindertenpädagogik vor, die genutzt werden kann, um anschließend in einer vertieften Lektüre Jantzens Hauptwerk, die in zwei Bänden vorliegende „Behindertenpädagogik“ zu rezipieren. Zweitens finden sich für Jantzen-Kenner interessante biographische Verweise auf die Theorieentwicklung (so z.B. der Hinweis auf einen Aufsatz von 1967 zu Isolation und Persönlichkeit, der offenbar zentral für die Entwicklung des Verständnisses von Behinderung als Isolationskategorie war; vgl. 169). Und drittens enthält der Text so wunderbar nachdenklich machende Passagen, für die sich die Auseinandersetzung mit diesem Theorieansatz immer wieder lohnt: „Man muss also in allen Lebensprozessen Psychisches finden oder man gerät in unauflösbare Widersprüche.“ (206) Oder: Erscheinungsformen von Behinderung sind „nicht als Symptome zu sehen, die auf etwas ganz erschreckendes hinweisen, sondern als Symbole zu sehen, die Erleben ausdrücken.“ (237) Und viertens schließlich ist der Text auch ein Zeitdokument, der die Entwicklung der „Materialistischen Behindertenpädagogik“ anhand vielfältiger biographischer Annotationen im Text entfaltet.

Zusammenfassend resümierend lässt sich damit festhalten, dass die bemerkenswerte Leistung der Edition einer kompletten Vorlesungsmitschrift nicht nur ein wichtiges historisches Dokument ist, sondern auch durch das jetzige Erscheinen ein wichtiger Beitrag dafür vorliegt, die „Materialistische Behindertenpädagogik“ im gegenwärtigen Kontext der Inklusionsdebatten und einer weitgehend einseitigen Perspektive auf das Fach Sonderpädagogik wieder ins Gespräch zu bringen. Denn das Fach hat nicht nur eine defektologische, geisteswissenschaftliche Tradition, sondern eine sehr ernstzunehmende wissenschaftliche Entwicklung vorzuweisen, die auch heute noch zentrale Anknüpfungspunkte für Weiterentwicklungen – auch im interdisziplinären Austausch von Neurowissenschaften, Soziologie, Erziehungswissenschaften, historischer Bildungsforschung und der Philosophie – bietet. Sie wird auch noch lange Zeit das einflussreichste Kompendium des Faches bleiben.
Vera Moser (Berlin)

Vera Moser: Rezension von: Jantzen, Wolfgang: Einführung in die Behindertenpädagogik, Eine Vorlesung Reihe: International Cultural-historical Human Sciences, Band 53. Berlin: Lehmanns 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 1 (Veröffentlicht am 02.02.2017), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978386541832.html

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Rezension Georg Feuser:

Es ist im deutschsprachigen Raum in den Erziehungswissenschaften im allgemeinen wie in diversen pädagogischen Feldern im speziellen leider kein akademischer Brauch, Vorlesungen zu publizieren. Im Gegenteil, sie geraten als Form akademischer Lehre heute mehr denn je ins Aus, werden als nicht zeitgemäß, vielleicht sogar als zu autoritär eingeschätzt oder zwingen die Zuhörer in eine nicht mehr für Lernen relevant erachtete Passivität. Sie passen nach Maßgabe des Bolonga-Prozesses auch nicht mehr in ein vermeintlich individualisiertes, digitalisiertes Lernen, in Bezug auf das ich in Kenntnis vieler Universitäten und Hochschulen allerdings einen Partikularismus und Elemtarismus feststellen muss, der -wenn überhaupt so weit gedacht wird -zu meinen glaubt, dass sich die Komplexität des Ganzen aus seinen Teilen erschließen würde und verkennt, dass nur die Erfassung des Ganzen seine es konstituierende Teile zu erklären und zu begreifen vermag ¬Wissenschaft also ein Prozess des Aufsteigens vom Allgemeinen zum Konkreten ist, was gerade in der Pädagogik hinsichtlich seiner Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.
Bei aller Bedeutung, die themenspezifische Monografien zuzumessen ist, ermöglichen transkribierte und ergänzend kommentierte Vorlesungen einen qualitativ anderen Zugang zu den thematisierten Sachverhalten und sie spannen in der Regel eine Feld auf, das Monografien vermissen lassen und von Zeitschriftenbeiträgen nicht erwartet werden kann -und dies keineswegs nur für Studierende. Ich erinnere hier nur exemplarisch an die Vorlesungen zur Allgemeinen Psychologie von Aleksej N. Leont’ev, die ansonsten über das Werk verstreute Gedankengänge von seinem frühen Schaffen bis zu den letzten Publikationen in einen systematischen Zusammenhang bringen und auch neue Sichtweisen auf den thematisierten Gegenstand ermöglichen, die möglicherweise nicht beachtet worden oder verkannt geblieben wären. Oder die Vorlesungen von Michel Foucault, die er zur Geschichte der Gouvernementalität in den Jahren 1977 bis 1979 gehalten hat und u.a. unter der Thematik »der Geburt der Biopolitik« bekannt geworden sind, die gerade die im Fach brisantesten und gleichwohl verschwiegendsten Themen transparent machen, die mit Sicherheit, Territorium und Bevölkerung und Formen der Ausgrenzung zu tun haben, wie sie Georgio Agamben, teils darauf fußend, im Homo sacer analysiert. Deutlich gesagt: Fragen der Vernichtung des Menschlichen am lebenden Menschen durch Ausgrenzung und Entwertung in und durch die dominierenden Herrschaftsstrukturen und -strategien.
Die auf Vorlesungen basierende Einführung in die Behindertenpädagogik von Wolfgang Jantzen ist hier zu verorten. Und nicht nur das. Man kann sie als eine Art Brückenschlag zwischen den beiden erwähnten großen Vorlesungswerken von Leont’ev und Foucault sehen, der einerseits in gewisser Weise bezogen auf die Werke dieser Autoren vermittelnder Natur ist, andererseits aber eine klare Positionierung der (kritischen und materialistischen) Behindertenpädagogik nicht nur im Gesamt der Erziehungswissenschaften, sondern in Bezug auf die Humanwissenschaften als Ganzes ermöglicht. Spätestens nach der Lektüre dieses Werkes sollte begriffen worden sein, dass die Behindertenpädagogik eine synthetische Wissenschaft ist und mitnichten eine Fortschreibung der Heil- und Sonderpädagogik, mit der sie begrifflich immer wieder synonym gesetzt wird - und auch das eben nicht nur von Studierenden. Der Bezug der Vorlesungen zur Allgemeinen Behindertenpädagogik, die seit 2007 in einem Band vorliegt, ist deutlich und viele Sachverhalte dieses umfassenden Werkes dürften sich den LeserInnen gerade durch die publizierte Vorlesung in ihren Gehalten und Dimensionen erschließen.
Der Einleitung stellt Wolfgang Jantzen ein Zitat von Lucien Sève voran, das darauf aufmerksam macht, dass die von uns als groß und genial erachteten Menschen dies vielleicht nur deshalb sind, weil die Mehrheit der übrigen Menschen durch die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie ihre Persönlichkeit entwickeln mussten, verkrüppelt wurden, was die Frage aufwirft, ob nicht sie die normalen Menschen sind, deren Verkrüppelung der Aufklärung, derErklärung und Überwindung bedarf? Ausgehend von der Sozial- und Ideengeschichte der Behinderung wird die neue Existenzbedrohung durch Veränderungen in der Sozialgesetzgebung und die mit der Singer-Debatte in Zusammenhang stehende „Neue Euthanasie” bis hin zur Bioethik-Konvention thematisiert. Danach werden Fragen der Enthospitalisierung und Deinstitutionalisierung und damit verbunden der Integration behinderter Menschen in Kindergarten und Schule thematisiert, ehe ausgewählte einzelwissenschaftliche Aspekte der Behinderung zur Sprache kommen, wie deren psychologischen, soziologischen und humanbiologischen Grundlagen. Abschließend werden Fragen der Diagnostik, Pädagogik und Therapie differenziell und exemplarisch thematisiert; am Beispiel der so genannten geistigen Behinderung und einer entwicklungsbezogenen Diagnostik mit Blick auf Fragen basaler Pädagogik und didaktische Fragestellungen.

Erscheinungsdatum
Reihe/Serie Schriftenreihe International Cultural-historical Human Sciences ; 53
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Maße 148 x 210 mm
Gewicht 440 g
Einbandart Paperback
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Bildungstheorie
Sozialwissenschaften Pädagogik Sonder-, Heil- und Förderpädagogik
Schlagworte Behindertenpädagogik • Behindertenpädagogik • Humanwissenschaft • kulturhistorische • materialistische • Pädagogik: Theorie und Philosopie • Sonderpädagogik • Sonderpädagogik • Universität Bremen • Universität Bremen • Vorlesungsskript
ISBN-10 3-86541-832-5 / 3865418325
ISBN-13 978-3-86541-832-6 / 9783865418326
Zustand Neuware
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