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Vorwort zur 1. Auflage der deutschen Ausgabe

Zwanzig Jahre entwicklungspsychologischer Säuglingsforschung stehen der psychoanalytischen Forschung inzwischen zur Verfügung. Die Erfrischung, die das psychoanalytische Denken dadurch erfahren hat, wird mehr und mehr spürbar. Das vorliegende Lehrbuch stellt den dankenswerten und gelungenen Versuch dar, Säuglingsbeobachtung und Kleinkindforschung in die entwicklungspsychologischen Theorien der Psychoanalyse kreativ zu integrieren. Die Beziehung zum historischen Hintergrund, genau gesagt zu Sigmund Freud, gelingt den Autoren ebenso gut wie der Anschluss an neuere entwicklungspsychologische Erkenntnisse. In beispielhafter Konsequenz durchzieht das ganze Werk der "Ariadnefaden" der psychoanalytischen Denkweise. Somit bekommen alle Leser ein Gefühl für die Gedanken traditioneller Psychoanalyse sowie einen Ausblick auf unser zukünftiges Theoriegebäude für die klinische Arbeit.

Reinhard Hellmann-Brosé
München, im Sommer 1997

Vorwort zur amerikanischen Ausgabe

Die zeitgenössische Psychoanalyse ist eine Wissenschaft, die sich aus einer Vielzahl unterschiedlichster theoretischer Ansätze und Sichtweisen zusammensetzt. Den ursprünglichen Vorstellungen und Erwartungen ihres genialen Begründers Sigmund Freud wird damit jedoch nicht entsprochen. Freud war Zeit seines Lebens sehr um die eindeutige Bestimmung der (meta)theoretischen Größen seiner neuen Wissenschaft der menschlichen Psyche bemüht und unternahm große Anstrengungen, sie von äußeren Angriffen, theoretischen Verwässerungen, Verführungsversuchen sowie inneren Grabenkämpfen zu schützen.

Wie wir wissen, waren seine Bemühungen zum Scheitern verurteilt. Heftige Kämpfe führten zur Abspaltung begabter Anhänger, die der Psychoanalyse ihren eigenen theoretischen Stempel aufzudrücken bestrebt waren. Auch die sieben Ringträger des berühmten "Geheimen Komitees", die - kraft ihrer intellektuellen Überzeugung, Loyalität und Führungsposition - die Wahrung der zentralen Grundsätze der Freudschen Lehre garantieren sollten, scheiterten in ihrem Unterfangen. Ein Grund dafür waren die metapsychologischen Annahmen Melanie Kleins, die sich - noch zu Lebzeiten Freuds - in ihren theoretischen und empirischen Betrachtungen vor allem den frühesten Lebenserfahrungen des Kleinkindes zuwandte und diese auf der Matrix der Mutter-Kind-Dyade und den darin vorherrschenden aggressiven (Todes-) Triebregungen interpretierte. Durch diese verstärkte Miteinbeziehung präödipaler Erlebensweisen sahen sich die Kleinianer in der Lage, auch Patienten mit schwererer Pathologie zu behandeln - eher als die engen Anhänger Freudscher Metapsychologie und ihrer Betonung ödipal bedingter Konflikte, deren Auflösung nur über die Entwicklung der sogenannten Übertragungsneurose gelingen konnte.

Ausgehend von der metapsychologischen Auffassung, dass das primäre Ziel des Ichs nicht in der Triebabfuhr, sondern in der Objektsuche bestehe, entwickelte sich die neue Schule der Britischen Objektbeziehungstheorie und nahm als sogenannte unabhängige "Middle Group" die Position zwischen Anhängern Anna Freuds und Melanie Kleins ein. Während in England in den Folgejahren die Arbeiten Bions eine fruchtbare Erweiterung der Kleinianischen Perspektive bedeuteten, gewann in Frankreich Lacans linguistisch zentrierte Psychoanalyse an Boden. In den Vereinigten Staaten, dem bis dahin einzigen Land, in dem die Freudsche Vision einer geeinten Psychoanalyse aufrechterhalten werden konnte, stellten die narzissmustheoretischen Arbeiten Heinz Kohuts und mit ihnen seine neue Selbstpsychologie eine Herausforderung für die Vorherrschaft des ichpsychologischen Paradigmas dar, dessen Anhänger sich als direkte Nachfahren der späten ichpsychologischen Überlegungen Freuds verstanden. Weitere wichtige Strömungen entstanden, so Margret Mahlers entwicklungspsychologische Perspektive oder Roy Schafers Versuch einer neuen Metapsychologie unter dem Stichwort "Handlungssprache" ("Action Language").

Es ist charakteristisch für diesen Schulenstreit innerhalb der Psychoanalyse - und wir alle fühlen uns dem einen oder anderen Lager mehr oder weniger verbunden -, dass jede für sich in Anspruch nimmt, nicht nur über einen breiteren Anwendungsrahmen zu verfügen, sondern auch bessere Erfolge im Verständnis und in der Behandlung von Patienten zu erzielen. Die Psychoanalyse Freuds, ursprünglich eine Triebpsychologie, die später um wesentliche ichpsychologische Konzepte erweitert wurde, galt als erste wissenschaftlich begründete Psychotherapie, die es möglich machte, das Wesen der Psychoneurose zu erhellen und neurotische Patienten, sofern sie der entsprechenden Kur zugänglich waren, zu heilen. Die Anhänger Melanie Kleins, die sich ursprünglich auf die Arbeit mit Kindern und schwerer gestörten Patienten konzentriert hatten, erhoben mit ihrer Metapsychologie und der daraus abgeleiteten Behandlungstechnik den Anspruch, auch für klassische Neurosen ein besseres Behandlungsangebot (weil gründlicher und tiefergehend) anbieten zu können. Ähnlich argumentierten Kohut und seine Anhänger, die auf die scheinbaren behandlungstechnischen Grenzen der klassischen Psychoanalyse im Falle narzisstischer Persönlichkeitsstörungen hinwiesen. Die spezifischen behandlungstechnischen Interventionen sowie theoretischen Konstrukte, die zunächst auf diesen speziellen Bereich der Psychopathologie, den narzisstischen Störungen, zugeschnitten waren, wurden in der Folgezeit ebenfalls als besseres Erklärungssystem und bessere therapeutische Herangehensweise für die sogenannten klassischen Psychoneurosen gepriesen. Wir sehen, dass jeder theoretische Standpunkt innerhalb der Psychoanalyse, von welchen eng umgrenzten empirischen, behandlungstechnischen oder anwendungsorientierten Problemstellungen er zunächst auch ausgegangen sein mag, bald den Anspruch einer überlegenen Metapsychologie und Behandlungstechnik für all jene erhebt, deren Leidensdruck sie in psychoanalytische Praxen führt.

Angesichts dieser Fülle konkurrierender Metapsychologien müssen wir uns die Frage stellen, was uns trotzdem zu gemeinsamen Anhängern einer psychoanalytischen Wissenschaft und Disziplin macht. Wo liegen, im Sinne grundsätzlicher Annahmen über die menschliche Psyche und ihre Funktionsweisen, die Gemeinsamkeiten unserer unterschiedlichen theoretischen Ausrichtungen, und worin unterscheiden wir uns von allen nicht-psychoanalytisch orientierten Theorien, die sich mit dem Seelenleben des Menschen beschäftigen?

Ich persönlich bin der Ansicht - und ich habe meine Antwort auf diese Frage bereits an anderer Stelle in aller Ausführlichkeit dargelegt -, dass sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt diese gemeinsame Basis nicht im Rahmen unserer allgemeinen Theorien bestimmen lässt. Unsere Metapsychologien, in all der Ungenauigkeit ihrer Formulierung beobachtbarer und klinisch überprüfbarer Phänomene, denen wir in unserer therapeutischen Praxis begegnen, sind - wenn auch von heuristischem Wert - wissenschaftliche Metaphern, die sich einer genauen wissenschaftlichen Überprüfung entziehen. Eine gemeinsame Basis können nur intraklinisches überprüfbares Material sowie der erfahrungsnahe klinische Bezugsrahmen liefern, in dem wir es mit Konflikten und ihren entsprechenden Kompromissbildungen, mit Angst, Widerstand und Abwehr sowie mit dem Zusammenspiel von Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen zu tun haben (auch wenn unsere sprachlichen Ausdrucksweisen nicht selten diese Gemeinsamkeit übersehen lassen). Jenseits dieser klinischen Überschneidungspunkte wäre es, vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, verfrüht und somit von Nachteil, auf eine konzeptuelle Integration der verschiedenen psychoanalytischen Positionen zu drängen. Der Bezugsrahmen der einzelnen Theorien oder metapsychologischen Konstrukte bietet keine ausreichende Vergleichsgrundlage - mit anderen Worten: Wir bewegen uns auf unterschiedlichen Ebenen des Diskurses. Darüber hinaus ist keine dieser Theorien in ausreichendem Maße an empirische Forschungsbefunde geknüpft. Um ihren eigenen heuristischen Ansprüchen gerecht zu werden haben sie sich zu weit voneinander entfernt, wobei jede ihre eigene metaphorische Sprache entwickelte, innerhalb derer kongeniales Denken und Arbeiten zwar möglich, wissenschaftliche Überprüfung und Gegenüberstellung hingegen ausgeschlossen sind.

Wie lassen sich nun diese Überlegungen zu der hier vorliegenden - und außerordentlich gelungenen - Integrationsleistung von Phyllis und Robert Tyson in Bezug setzen, die die verschiedenen psychoanalytischen Metapsychologien auf der Basis ihrer jeweils zugrundeliegenden entwicklungstheoretischen Annahmen zu einem kohärenten und konzeptuell sinnvollen Ganzen zusammengefasst haben? Jede psychoanalytische "Schule" (Lacan mag hier eine Ausnahme sein) hat retrospektiv (in manchen Fällen und bis zu einem gewissen Grad auch prospektiv-beobachtungsorientiert) ihre eigene Entwicklungstheorie aufgestellt. Darin implizit enthalten sind immer spezifische Annahmen über menschliche Erlebensweisen (i.S. von Bedeutungszuschreibungen), ihren prägenden Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung, den Zusammenhang intrapsychischer Instanzen sowie mögliche Wege der Veränderung. Freud etwa konzentrierte sich in seinen triebtheoretischen Überlegungen zunächst auf die einzelnen Stufen der psychosexuellen Entwicklung, wobei für ihn der Kulminationspunkt in einer angemessenen Lösung jener unvermeidbaren Konflikte und Ambivalenzen lag, wie sie das ödipale Dreieck bereithält. Mit den von Anna Freud formulierten ichpsychologischen Konstrukten zur Triebregulierung und -modulierung entlang der unterschiedlichen Entwicklungsphasen - von René Spitz, Margaret Mahler und anderen in der Folgezeit ausdifferenziert - rückte die Entwicklung der sogenannten Ich-Funktionen ins Zentrum der Betrachtung. Ähnlich richtete Kohut mit seinen Arbeiten zum Narzissmus als zentrale entwicklungspsychologische Dynamik den Blick auf die Entwicklungslinie eines kohärenten Selbst: die allmähliche Integration verdrängter oder abgespaltener Selbstanteile, die Regressions- oder Fragmentierungstendenzen standhält und das Hervortreten von Ambitionen, Talenten und Idealen ermöglicht. In den Objektbeziehungstheorien wiederum geht es vordringlich um mögliche Richtungen in der Entwicklung der Objektbezogenheit, wenn das heranwachsende Kind die ursprünglich dyadische Beziehung verlässt und über die triadische Beziehungskonstellation mit einer immer komplexeren und differenzierteren Objektwelt konfrontiert wird.

Diese je nach theoretischer Ausrichtung unterschiedliche Fokussierung einzelner Entwicklungsstränge hat zu einer verwirrenden Vielzahl unterschiedlicher Sichtweisen innerhalb der Psychoanalyse geführt, die für die einzelnen Metapsychologien mehr oder weniger relevant sind. Daneben sind alle jene Arbeiten zu nennen, in denen Entwicklungspsychologen - mit Ausnahme Piagets - anhand ihrer eigenen Beobachtungsdaten und der daraus abgeleiteten theoretischen Konstrukte versuchen, unser Verständnis menschlicher Entwicklungsprozesse zu vertiefen. Phyllis und Robert Tyson haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Verknüpfungspunkte zwischen den verschiedenen Entwicklungssträngen und den einzelnen metatheoretischen Positionen aufzuzeigen: Psychosexualität, Objektbeziehungen, Selbstkohärenz und Identität, Affekte, Kognitionen, die Entwicklung des Überichs und der Geschlechtsidentität sowie die Ausbildung der Ich-Funktionen werden somit als voneinander abgrenzbare Aspekte einer Gesamtentwicklung sichtbar, lassen sich aber nur in ihrer Interdependenz vollständig begreifen.

Angesichts der Tatsache, sich auf den Umfang eines einzigen Bandes beschränken zu müssen, ist den beiden Autoren in ihrem Anspruch, dieses Amalgam an verschiedenen theoretischen Sichtweisen via Beobachtungsdaten und erfahrungsnahem klinischen Wissen miteinander in Bezug zu setzen, eine gewaltige Integrationsleistung gelungen. Sie basiert auf der sorgfältigen inhaltlichen Aufbereitung einer wahren Flut an psychoanalytischer und entwicklungspsychologischer Literatur. Forscher aus den einzelnen Bereichen werden sich jedoch zuweilen die Frage stellen, ob nicht an manchen Stellen die Komplexität und Vorläufigkeit des empirischen Datenmaterials und der daraus ableitbaren Schlussfolgerungen unter dem Anspruch einer Überblicksarbeit zu leiden haben. Daraus mag sich der Vorwurf ableiten lassen, den einzelnen Forschungsbereichen hier und da nicht in vollem Umfang gerecht geworden zu sein.

Allerdings soll es auch nicht Sinn und Zweck der vorliegenden Arbeit sein, dem trügerischen Verlangen nach absoluter Vollständigkeit nachzugeben. Das große Verdienst der Autoren liegt vielmehr darin, verschiedene theoretische Ansatzpunkte und empirische Forschungsbefunde zu einem sinnvollen Ganzen verknüpft zu haben. Darüber hinaus mag die inhaltlich-thematische Aufbereitung mögliche Wege dahingehend aufzeigen, die gegenwärtige metaphernorientierte Ebene der Theoriebildung zu verlassen und - auf der Grundlage verstärkter empirischer Forschung - eine einheitliche allgemeinwissenschaftliche psychoanalytische Theorie zu entwickeln.

Dieser Versuch einer übergreifenden psychoanalytischen Theorie wurde, wenn auch in begrenzterem Umfang, bereits an anderer Stelle unternommen: So hat etwa Otto Kernberg die Objektbeziehungstheorie mit dem Paradigma der strukturellen Ich-Psychologie in Bezug zu setzen versucht. Möglicherweise wird sich der hier vorgestellte entwicklungspsychologische Ansatz für dieses so wichtige Unterfangen, eine einheitliche psychoanalytische Theorie zu schaffen, als vielversprechender erweisen, da seine theoretischen Konzeptualisierungen eher an empirischbeobachtbare Phänomene gebunden sind und somit - im Sinne wissenschaftlicher Überprüfbarkeit - eine erfahrungsnahe Theoriebildung ermöglichen. Ob sich dieses Ansinnen, nicht zuletzt mit Hilfe des im vorliegenden Band enthaltenen Potentials, in wissenschaftlicher Hinsicht verwirklichen lässt, bleibt abzuwarten. Phyllis und Robert Tyson haben ein Werk vorgelegt, das nicht nur von großem heuristischen und edukativem Wert ist, sondern auch einen faszinierenden wissenschaftlichen Ausblick eröffnet.

Robert S. Wallerstein