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Vorwort



Im Gegensatz zur Rechts- und Wirtschaftsordnung hat die dritte Grundordnung moderner Gesellschaften - die Wissensordnung - noch nicht die erforderliche Aufmerksamkeit erhalten, obwohl hier die entscheidenden Entwicklungen im Überschneidungsbereich von Wissen & Technik zusammenlaufen und viele der gegenwärtig kontrovers diskutierten Probleme ihren Platz haben: von den Meinungs-, Glaubens-, Wissensfreiheiten und Informationsrechten als Grund- oder Menschenrechten über die Wissenschaftsfreiheit und die wissenschaftliche Verantwortung für die Folgen der Forschung bis zu den tendenziell gegenläufigen Entwicklungen im Datenschutz und im Immaterialgüterrecht. Hierzu zählen auch die breit angelegten derzeitigen Bestrebungen zur Schaffung von neuen Eigentumsformen an bislang "herrenlosen" Gütern im geistigen Gemeinbereich der Ideen einerseits und im biologischen Vitalbereich lebender Organismen andererseits. Nicht fehlen dürfen in dieser unvollständigen Aufzählung die neuen Deliktarten mit informationeilen Mitteln und Maßnahmen (Informationseingriffe, Datenmißbrauch, Lauschangriff, Vollerfassung des Bürgers durch "Persönlichkeitsprofile" der Sicherheitsdienste, Computerkriminalität, u.dgl.).

Im Zuge der Technisierung nicht nur - wie bisher schon - durch Wissen ("Verwissenschaftlichung"), sondern des Wissens selber ("Informatisierung", populär "Verdatung" genannt; auf der Programmebene Algorithmisierung) entstehen neue Wissensarten, die ihrerseits neue Wissenslagen auf allen Ebenen nach sich ziehen, von der informationellen Überlastung des Einzelnen durch unverstandene Wissenschaft und Aufmerksamkeit erpressende Massenmedien bis zur asymmetrischen Wissensverteilung in der Gesellschaft zugunsten informationsreicher "Datenherren". Am meisten ins Gewicht fällt aber das permanente fait accompli des allen Verstehens- und Gestaltungsbemühungen vorauseilenden naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts, dessen induzierte Wissenslagen und Technikfolgen eine so in der Verfassung nicht vorgesehene, von der Wissenschaft noch kaum erfaßte und von der Politik zumeist verdrängte "normative Kraft des Faktischen" - juristisch gesprochen, aber metajuristisch gemeint - auf die Wissensordnung ausüben.

Die Bandbreite der Auswirkungen liegt zwischen der freien Entfaltung der individuellen Persönlichkeit unter den Bedingungen der elektronischen Datenverarbeitung und dem freien Informationsfluß im Rahmen der nationalen Medienordnung und internationalen "Weltinformationsordnung". Das sind indirekte Technikfolgen neuer Art und Größenordnung - "zweiter Art", wie sie im Hinblick auf den dadurch ausgelösten Wandel der Wissensordnung im folgenden genannt werden -, die vor allem von den selbst entfesselten, anderes mit- und einreißenden "Durchbruchstechnologien" der fortgeschrittensten Informations- und Biotechniken ausgelöst werden.

Mit dem vom Verfasser vorgeschlagenen, hier erstmals genauer ausgearbeiteten Leitkonzept "Wissensordnung" als dritter Grundordnung des Informationszeitalters werden die gesamten ordnungspolitischen Bestimmungen und realexistierenden Bedingungen erfaßt für die Erzeugung, Verarbeitung, Verwaltung, Verteilung, Verwendung, Verwertung von "Informationen", also für Wissen aller Arten, vom wissenschaftlichen Theorien- und Regelwissen bis zum persönlichen Alltagswissen und technisierten Datenwissen.

Die wegweisenden Stichworte des vorliegenden Konzeptualisierungsversuchs heißen: Wissensentwicklungen - Wissensarten - Wissenslagen - Wissensordnungen, jeweils im Vergleich der alten und neuen Tatbestände. Denn diese können jene überlagern, aber nicht völlig verdrängen. Die "dritte Grundordnung" ist ohne die erste und zweite nicht denkbar, zu denen sie insgesamt in einem Ergänzungsverhältnis und auf ordnungspolitisch umkämpften Gebieten in einem Regelungswettbewerb steht. Das sind die bereits genannten Konfliktfelder des Informationszeitalters.

Was als "Wissensordnung" in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gebracht werden soll, bildet den Zentralbegriff einer ganzen Begriffsfamilie zur Charakterisierung des Informationszeitalters, welches weit mehr einschließt als die soziologischen Ungefährvorstellungen von der Informations- oder Wissensgesellschaft1. Zu dieser Begriffsfamilie gehören beispielsweise: die "Technikfolgen erster und zweiter Art" zur Erfassung der Auswirkungen insbesondere der Wissenstechniken sowie der Rückwirkungen des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts auf die Rahmenbedingungen seiner selbst; die (hier nicht erläuterten2) "Erkenntnisstile" zur Charakterisierung der Wissensarten; die "Wissenschaftsformen" zur Beschreibung der heutigen Wissenschaftslandschaft; die "Generationen" zur Einteilung der zwar schon weit aufgefächerten, aber trotzdem noch lückenhaften und vertiefungsbedürftigen Technikfolgenforschung unserer Zeit; die "Kognitiv-Technischen Komplexe" zur Bezeichnung der Kernverschmelzungen von Wissen und Technik; die "Wissensarten" und "Wissensbestände" zur umfassenden Bilanzierung des informationellen Volksvermögens; die "Wissensbereiche" zur ordnungspolitischen Gestaltung der (mindestens) acht großen Informationsfelder moderner Gesellschaften.

Als materiell ungegenständlicher, aber thematisch ausgedehnter wissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand gesehen, handelt es sich hier um ausgesprochene Querschnittsmaterie für die ganze Wissenschaft, mit der sich mindestens ein Dutzend Fachdisziplinen intensiv befassen muß (und dies auch immer mehr tut, zumeist aber noch unverbunden und unsystematisch, zuweilen auch konzeptionslos3). Dasselbe gilt für das punktuelle Aufgreifen von gerade aktuell gewordenen Fragen der Wissensordnung in Politik, Recht und Wirtschaft.

Die Klassische ("Alte") Wissensordnung gibt es in drei Hauptformen: zum einen als akademische Wissenschaftsverfassung für den "Wissenskommunismus" der Freien Forschung & Lehre (in der Gelehrtenrepublik des 19. wie in der Forschungsgemeinschaft des 20. Jahrhunderts und als Ausgangsmodell mit Abstrichen von den meisten demokratischen Verfassungen übernommen); zum anderen als bürgerliches Modell der liberalen Öffentlichkeit, das zum Diskussionsrahmen für politisch interessierte, aber noch nicht an der Macht partizipierende Privatleute wird, damit aber zur ordnungspolitischen Vorform für Meinungs-, Glaubens-, Pressefreiheiten. Klassisch im Grundkonzept, aber neu in der inhaltlichen Ausgestaltung ist dessen moderne Weiterentwicklung, vorbildlich im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, zum Modell der Freien Persönlichkeitsentfaltung auf der Basis von wissensbezogenen allgemeinen Grundfreiheiten oder gar universellen Menschenrechten, wie sie jeder demokratische Rechtsstaat mehr oder weniger gewährleistet. Wenn man vom Entstehungsdatum absieht, kann man darin das dritte Modell klassischen Typs sehen, mit dem vom Bundesverfassungsgericht unter aktuellster Bezugnahme auf die neuen Bedingungen des Informationszeitalters formulierten Recht auf informelle Selbstbestimmung.

Was dafür die beabsichtigte, obgleich nur selten erreichte "Staatsfreiheit" dieser Informationsbereiche war, ist heute - auch - eine Frage der Wirtschaftsfreiheit, neuerdings vielleicht noch mehr eine solche der sozialen Gruppen- und politischen Parteienfreiheit4.

Für den Aufbau der Klassischen Wissensordnung, insbesondere der daraus resultierenden Wissenschaftsverfassung Humboldtscher Prägung, sind vier Große Abkopplungen konstitutiv, welche die kognitive Ausgangsmatrix neuzeitlicher Wissensordnungen bilden:


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die Trennung von Erkenntnis und Eigentum, worauf sowohl der "Wissenskommunismus" der Wissenschaft als auch die "freie Meinung" des Bürgers beruhen, die an keinen sozialen Besitzstand gebunden ist und an der ihm bewußt keine Eigentumsrechte (d. h. Ausschlußbefugnisse) eingeräumt werden;

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die Trennung von Ideen und Interessen, damit die Wissenschaft nicht zur "interessierten" Ideologie verkommt und die Öffentliche Meinung ebenso wenig wie die privaten Meinungen zur "gelenkten" In- bzw. Desinformation werden;

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die Trennung von Theorie und Praxis, damit durch Entlastung von Handlungszwang und Folgehaftung die Möglichkeit zum Erkennen weiter geht als die Notwendigkeit zum Handeln;

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die Trennung von Wissenschaft und Staat, um einen möglichst staatsfreien Bereich Freier Forschung & Lehre sowie der Meinung, des Glaubens, der Presse einzurichten.



Das sind "klassische" Sonderregelungen für den Wissens- und Meinungsbereich, wenn man sie mit der "normalen" Rechts- und Wirtschaftsordnung einer Marktwirtschaft vergleicht, die auf Vertragsfreiheit, Privateigentum und Haftungsregelung beruht5.

Wissenschaftswachstum, Informationsexplosion und die Verschmelzung von Technik & Wissen zu Kognitiv-Technischen Komplexen neuer Zusammensetzung und Größenordnung führen im Informationszeitalter - schlagwortartig gesagt: unter den Bedingungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, der industriellen Wissensproduktion, elektronischen Datenverarbeitung und kommerziellen Massenmedien - zum gegenwärtigen Wandel der Wissensordnung.

Im Gegensatz zu den unmittelbaren Technikfolgen erster Art, mit denen sich die Technikfolgenforschung ausführlich befaßt, handelt es sich hier um noch kaum untersuchte, obgleich äußerst einflußreiche ordnungspolitische Technikfolgen zweiter Art.

Das Ergebnis dieser "Stillen Revolution" ist der ordnungspolitische Pluralismus des Informationszeitalters, mit acht hinreichend ausgebildeten Bereichsordnungen, aus denen die Moderne ("Neue") Wissensordnung zusammengesetzt ist:


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die Akademische Wissensordnung für Freie Forschung & Lehre;

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die Archivarisch-Bibliothekarische Wissensordnung für verwahrtes Dokumentarwissen;

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die Verfassungsrechtliche Wissensordnung des Grundgesetzes für Freie Meinung sowie wissensbezogene Persönlichkeits- und sonstige Informationsrechte;

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die Ökonomische Wissensordnung für kommerzialisiertes Wissen als Ware;

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die Technologische Wissensordnung für technisches Herstellungswissen zur Artefaktbildung wissensbasierter Techniken;

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die Bürokratische Wissensordnung für verwaltetes Daten- und Aktenwissen "zwischen behördlichem Amtsgeheimnis und demokratischer Aktenöffentlichkeit"6);

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die Militärisch-Polizeiliche Wissensordnung für sicherheitsrelevantes Sonderwissen als technisches, bürokratisches, politisches Geheimwissen der Regierungsstellen, Wehreinrichtungen und Sicherheitsdienste;

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die Nationale/Internationale Informationsordnung für den innerstaatlichen bzw. grenzüberschreitenden Informationsfluß der Nachrichten einerseits und der Unterhaltungsinformation ("Infotainment") in den modernen Massenmedien andererseits.



Insbesondere zur systematischen Verortung und interdisziplinären Untersuchung von ordnungspolitischen Technikfolgen zweiter Art wird das Konzept der Wissensordnung eingeführt. Dieses ist meines Erachtens sowohl thematisch umfassender als auch problemspezifischer und inhaltsreicher als die populären Begriffshülsen der "Informationsgesellschaft" (aus der Soziologie) oder des "informationstechnologischen Zeitalters" (aus der Technikphilosophie). Damit läßt sich, als Gebot der Stunde, das ordnungspolitische Denken der Gegenwart auf die Untersuchungsprobleme und Gestaltungsaufgaben der drei zentralen, interdependenten Grundordnungen erweitern.

Die größere wissenschaftliche Berücksichtigung, politische Beachtung und öffentliche Sichtbarkeit der Rechts- und Wirtschaftsordnung hat zu einer Dominanz der juristischen und ökonomischen - in der "reinen" wie in der "politischen" Ökonomie - Behandlung der Ordnungsproblematik schlechthin geführt, wo immer sie zur Debatte gestellt wird. Unter voller Würdigung dieser fachwissenschaftlichen Beiträge wird die Wissensordnung hier als ein integratives Konzept aufgefaßt, um interdisziplinären Untersuchungen und politischen Gestaltungsmaßnahmen der Wissensordnung(en) aus metajuristischer und metaökonomischer Sicht den Weg zu bereiten. "Philosophisch" würde ich sie trotzdem nicht nennen, weil dies eine Unterschätzung der zwar sehr unterschiedlichen, aber insgesamt enormen einzelwissenschaftlichen Bezüge, inhaltlich wie methodisch, und außerphilosophischen Belange wäre.

Was hiermit, nach thematisch einschlägigen unselbständigen Beiträgen für Zeitschriften und Sammelbände (seit 1986), als eigenständige Publikation vorliegt, ist ein Positionspapier zur vorläufigen Konzeptualisierung und laufenden Aktualisierung, mit Problemkatalog, Forschungs- und Literaturbericht - letzteres mit Einschränkungen, auf die im Text hingewiesen wird. Man kann in einem Dutzend Disziplinen wildern und Gelegenheitsentdeckungen machen - die für die Revierinhaber zumeist keine sind -, aber kein wohlerworbenes Allround-Jagdrecht haben. Irgendwann schießt man einen Bock und zahlt die Rechnung. Dieses Risiko muß man in Kauf nehmen, wenn man kein Fachidiot sein will. Die Wissensordnung ist den Preis wert.

Wenn man darunter als wissenschaftsliterarische Gattung eher einen Problemaufriß als einen Thesenkatalog versteht, also inhaltlich gesehen eine arbeitsvorbereitende Analyse anstelle einer andere Bemühungen ausgrenzenden Polemik, dann ist die vorliegende Schrift das vorangestellte Manifest zu einer kommenden Monographie über "Aufbau und Wandel der Wissensordnung", mit systematischen Ausarbeitungen und historischen Fallstudien. Beides sind Ergebnisse mehrerer, seit 1985 laufender Forschungsarbeiten zum Thema "Wissensordnung", die durch Drittmittel folgender Förderinstitutionen unterstützt wurden:


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Volkswagen-Stiftung;

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Ministerium für Wissenschaft und Forschung Baden-Württemberg;

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Universität Karlsruhe;

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Werner-Reimers-Stiftung Bad Homburg (für eine Arbeitstagung über Grundfragen der wissenschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Wissensordnung).



Sehr zu danken habe ich außerdem:


Frau cand. phil. Hannelore Maas für die arbeitsreiche Hilfe bei der Literaturbeschaffung zur Bibliographie und zu den Fachberichten sowie für das gewohnt sorgfältige Korrekturlesen der Endfassung;


meinem Karlsruher Mitarbeiter Hans-Joachim Rohrs M.A. für die graphische Gestaltung der Abbildungen sowie für den im wesentlichen von ihm verfaßten Fachbericht 12/Biologie, den Bernd-Olaf Küppers (Universität Heidelberg) und Hans Mohr (Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg) freundlicherweise durchgesehen haben;


dem Kollegen von der anderen Zunft Holger Rust (Universität Wien) für wichtige Hinweise über den Stand der Überlegungen in den Kommunikationswissenschaften zur "Weltinformationsordnung";


meinem Mitstreiter Hans Gerd Schütte (Universität Groningen) aus unserer gemeinsamen Mannheimer wissenschaftlichen Jugendbewegung, der die vorletzte Fassung in höchst anregender Weise kommentiert und am Leitfaden "Waren/Geld/Informationen" beiläufig auch die Desinformationskampagne der deutschen Konkurrenz gegen holländische Tomatenerzeuger wissensordnungsmäßig auf den Begriff gebracht hat;


vielen Kollegen und Freunden, insbesondere aus dem Teilnehmerkreis der Werner-Reimers-Arbeitstagung (worüber demnächst in dieser Reihe ein Tagungsband erscheinen wird), für anregende Diskussionen, kritische Einwände und hilfreiche Hinweise.




1

Zur Kritik des soziologischen Ansatzes vgl. Spinner/Informationsgesellschaft.

2

Vgl. die erst angefangene Systematik der Erkenntnisstile in Spinner/Vereinzeln.

3

Zum Stand der wissenschaftlichen Aufarbeitung vgl. die Fachberichte im Anhang sowie das Literaturverzeichnis.

4

Ein aktuelles Beispiel für die Mißachtung dieser klassischen Bedingungen ist die neu gegründete Stuttgarter Akademie für Technilfolgen-Abschätzung in Baden-Württemberg, die unter dem Stichwort "gesellschaftlicher Diskurs" - mit handverlesen "intern repräsentierten" Gruppeninteressen, unter Ausschaltung wirklicher "informationeller Außenkriterien" mit der Funktion fachwissenschaftlicher und plebiszitärer Gegeninformation - diesen Einflüssen schon satzungsgemäß Tür und Tor öffnet, mit voraussehbaren Konsequenzen.

5

Vgl. die Beschreibung der "Rechts- und Handelnsordnung" in Hayek/Studien, S. 161 ff.

6

Schwan/Amtsgeheimnis.