Mal himmelhoch, mal abgrundtief -  Thomas D. Meyer

Mal himmelhoch, mal abgrundtief (eBook)

Bipolare Störungen - Hilfen für Betroffene und Angehörige. Mit Arbeitsmaterial zum Download
eBook Download: EPUB
2014 | 2. Auflage
180 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-621-28211-6 (ISBN)
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Etwa 4 Mio. Menschen in Deutschland leiden an bipolaren Störungen. Was sind überhaupt »bipolare Störungen« und welche Behandlungsmöglichkeiten - psychotherapeutisch und medikamentös - gibt es? Diese Fragen werden in dem Ratgeber fundiert und gut verständlich beantwortet. Der Schwerpunkt liegt darauf, wie die Betroffenen und deren Angehörige zum Erfolg der Behandlung beitragen können: durch ein effektives Selbstmanagement. Die Inhalte werden durch Beispiele von Betroffenen illustriert, konkrete Anleitungen und online verfügbare Arbeitsblätter helfen dabei, die Störung zu verstehen und einen Behandlungserfolg aktiv mitzugestalten. Das Buch ist zur Selbsthilfe oder begleitend zur Therapie einsetzbar. Mit Arbeitsmaterial zum Download.

PD Dr. Thomas Daniel Meyer ist apl. Professor an der Universität Tübingen sowie Senior Lecturer für Klinische Psychologie an der Newcastle University, Newcastle upon Tyne, England.

2Was bedeutet »bipolar affektive Störung«?


Wenn man in Lehrbüchern der Psychiatrie oder klinischen Psychologie nachschlägt, kann der Eindruck entstehen, es sei leicht, die Diagnose einer bipolaren Störung zu stellen, und die Hochs und Tiefs seien sehr eindeutig. Aber dem ist nicht so. Dies spiegelt sich auch darin wider, dass zwischen dem Zeitpunkt des Auftretens von ersten depressiven und manischen Symptomen und der richtigen Diagnose im Durchschnitt 8 bis 10 Jahre vergehen.
Betroffene berichten. Gerrit, 27, erzählt: »Eigentlich war ich ein ganz normaler Junge. Während meiner Schulzeit lief alles glatt, bis auf diese Stimmungsschwankungen, die mich manchmal alles leicht bewältigen ließen und mir dann wieder alles schwer machten. In den kleinen Hochs war ich voll aufnahmefähig und wusste, ich muss nicht viel lernen, um mitzukommen. Doch in den Tiefs war alles anders; ich schleppte mich von einem Tag zum anderen … Aber niemand ahnte, dass etwas mit mir nicht stimmte, außer mir selbst; ich wusste, dass etwas im Busch war.« Erst Jahre später wurde er während einer Auslandsreise so offensichtlich manisch, dass er stationär behandelt werden musste.
Manche Betroffene wie Gerrit merken selbst, dass etwas nicht stimmt; andere hingegen erleben die Aufs und Abs als etwas, das zu ihnen gehört – wie Beate, 50: »Andere sprachen mich immer wieder darauf an, dass ich stimmungslabil sei. Mir war irgendwie auch bewusst, dass ich abwechselnd durch tiefe Täler und über sonnige Höhen ging, aber ich dachte, das ist bei kreativen Personen einfach so und gehört dazu.« Ein Suizidversuch Jahre später führte dazu, dass sie erstmals professionelle Hilfe erhielt und die Diagnose »bipolar« gestellt wurde.
Extreme Stimmungsschwankungen. Wie kann es passieren, dass oft Jahre vergehen, bis etwas passiert bzw. unternommen wird? Zum Teil liegt das daran, dass die konkreten Symptome, Verhaltensweisen und Auffälligkeiten sehr unterschiedlich sein können von dem, was wir als reine »bipolare Störung« bezeichnen. Gefühle und Stimmungen (wie z. B. Wut, Freude oder Niedergeschlagenheit) gehören zu unseren täglichen Erfahrungen und stellen ganz normale Reaktionen auf bestimmte Ereignisse und Situationen dar. Sie können aber auch relativ losgelöst von aktuellen Erlebnissen erscheinen (z. B. wenn wir morgens schlecht gelaunt aufwachen). Jeder kennt von sich Hochs und Tiefs in der Stimmung.
Bei sog. bipolaren Störungen handelt es sich aber um psychiatrische Erkrankungen, bei denen Stimmungsschwankungenextrem stark ausgeprägt sind und die scheinbar völlig unabhängig von Ereignissen auftreten können. Diese starken Schwankungen in der Stimmung beeinflussen die Gedanken, die Gefühle, das Verhalten und die Fähigkeit, mit dem Alltag zurechtzukommen. Die Tatsache, dass die Erkrankungen nicht nur Veränderungen in der Stimmung umfassen, ist auch der Grund dafür, warum für die Diagnose einer bipolaren Störung die Stimmungsschwankungen allein nicht ausreichen, sondern weitere Merkmale hinzukommen müssen, z. B. Veränderungen im Appetit, Selbstbild und Denken (s. a. Abschn. 2.1).
Unterschiedliche Sichtweisen. Vielleicht kennen Sie folgende Situation von sich oder anderen: Es kann sein, dass Sie sich zwar mit dem Gegenüber (z. B. Partner, Angehöriger oder Arzt) einig darüber sind, dass die aktuelle Stimmung oder das Verhalten nicht ganz der Norm entspricht, dass aber Sie beide trotzdem sehr unterschiedliche Erklärungen dafür haben, warum das so ist. Folgender Fall soll dies verdeutlichen.
Anna, 48. Anna ist Mutter von zwei Töchtern, Lehrerin und Hausfrau und engagiert sich in letzter Zeit vermehrt in einer Theatergruppe. Der typische Tagesablauf in den vergangenen vier Wochen war, morgens das Frühstück für alle zu machen, die Kinder zur Schule zu bringen, dann rechtzeitig in der Schule zu sein, in der sie selbst arbeitete. Mittags zwischen dem Vor- und Nachmittagsunterricht fuhr sie schnell nach Hause, um für ihre Familie zu kochen. Nach der Arbeit einkaufen, die Kinder zum Ballett oder zum Klavierunterricht bringen. Zwischendrin die restliche Hausarbeit plus Korrigieren der Klausuren und Unterrichtsvorbereitung. Abends zu den Theaterproben. Diese wurden in letzter Zeit regelmäßiger und länger, da Auftritte bevorstanden. Sie kam abends zwischen 23 und 24 Uhr nach Hause, ging erst gegen 2 Uhr ins Bett und stand zwischen 5 und 6 Uhr auf, um noch ein paar Dinge vor dem Frühstück zu erledigen. Es kam vermehrt zu Auseinandersetzungen mit ihrem Partner. Irgendwann geriet die Situation außer Kontrolle, weil sie aggressiv wurde und die Kinder vernachlässigte (sie vergaß z. B., die Kinder von der Schule abzuholen).
Wie Anna, ihr Partner und der Arzt die Situation sehen. Anna fasst die Situation so zusammen: »Alles bleibt an mir hängen. Er [ihr Partner] macht gar nichts im Haushalt und kümmert sich nicht um die Kinder. Und nun erwartet er, dass ich mein Hobby, das Theaterspielen, aufgebe. Da ist es doch klar, dass man irgendwann einmal ausrastet und überfordert ist.« Sie erklärt sich ihr Verhalten und ihre Reaktionen als Ergebnis von Stress und Druck, der auf ihr laste und ihr kaum Raum für ihr Hobby lasse. Ihr Partner hingegen hat den Eindruck, dass sich bei ihr alles nur noch um sie selbst drehe, sie das Theaterspielen über alles andere stelle. Deswegen vernachlässige sie die Familie, die sie nur als Belastung und Einschränkung in ihren Freiheiten empfinde. Der Arzt hingegen sprach in dieser Situation von einer manischen Episode im Rahmen einer bipolaren Störung.
Wer hat nun eigentlich Recht? Anna sieht ihren »Nervenzusammenbruch«, wie sie selbst die Phase nennt, als Resultat von Stress und Druck, die von außen kommen. Ihr Partner sieht in ihrem Verhalten einen Ausdruck von Egoismus und Unverantwortlichkeit, vielleicht einer Midlife-Krise. Der Arzt kommt aufgrund seines Fachwissens und seiner Erfahrung zu der Schlussfolgerung, dass Anna eine z. T. biologisch begründete affektive Störung hat (s. a. Kap. 3).
Das Problem ist, dass sich aus diesen unterschiedlichen Vorstellungen sehr unterschiedliche Konsequenzen für den Umgang mit der Situation ergeben. Anna erwartet mehr Unterstützung und Verständnis. Ihr Partner erwartet, dass sie sich Gedanken über ihre Prioritäten macht und sich ändert. Ihr Arzt hält die Einnahme eines stimmungsstabilisierenden Medikaments für unverzichtbar und schlägt ihr zusätzlich eine Psychotherapie vor, die sie dabei unterstützen soll, besser mit ihrer Erkrankung umzugehen.
Dass Betroffene, Angehörige und Fachleute ein und dieselbe Situation so unterschiedlich beschreiben und beurteilen, ist eher die Regel als die Ausnahme. Es ist auch relativ normal und leicht nachvollziehbar, wenn man Folgendes bedenkt: (1) Wir verstehen unser eigenes Verhalten selbst sehr gut. (2) Von außen kann man uns nicht in den Kopf sehen.
Wir verstehen uns selbst sehr gut. Wir alle neigen im Alltag generell dazu, unser eigenes Verhalten vor allem als situationsbedingt bzw. als Reaktion auf eine konkrete Situation zu interpretieren. Stellen Sie sich vor, dass Sie jemanden im Bus oder in der U-Bahn beim Einsteigen anrempeln. Vielleicht erklären Sie sich die Situation folgendermaßen: Sie haben kurzfristig das Gleichgewicht verloren. Oder Sie haben den Eindruck, dass zu viele Leute gleichzeitig ein- und aussteigen wollten. Oder vielleicht schießt Ihnen auch durch den Kopf, dass das nicht passiert wäre, wenn die anderen nicht so drängeln würden. Oder haben Sie eine ganz andere Erklärung? Das Gemeinsame an all diesen Erklärungen ist mit großer Wahrscheinlichkeit, dass Sie davon ausgehen, dass es die konkrete Situation war, die dazu führte, dass Sie jemanden angerempelt haben.
Umgekehrt haben wir alle eine starke Neigung, das Verhalten und die Reaktionen anderer Personen als Ausdruck der Persönlichkeit bzw. des Charakters des Gegenübers zu interpretieren. Stellen Sie sich vor, dass jemand im Bus oder in der U-Bahn Sie beim Einsteigen anrempelt. Wenn Sie nicht direkt sehen, dass jemand getaumelt ist, ist es unwahrscheinlich, dass Sie annehmen, dass der andere das Gleichgewicht verloren hat. Eventuell kommen Ihnen Gedanken wie: »Keiner nimmt mehr Rücksicht« oder »Was für ein Rüpel«. Kommt Ihnen das bekannt vor? Wir neigen dazu, das Verhalten anderer Personen nicht so stark auf die aktuelle Situation zurückzuführen, sondern eher stabile persönliche Eigenschaften anzunehmen, wie z. B. Höflichkeit, Hilfsbereitschaft, Rücksichtslosigkeit oder Egoismus. Genau das kann natürlich auch dann passieren, wenn es nicht um alltägliches Verhalten, sondern um manische oder depressive Symptome geht.
Von außen kann man uns nicht in den Kopf sehen. Von außen betrachtet ist Ihre Stimmung für andere nicht immer klar sichtbar. Wir können nicht immer mit Sicherheit einschätzen, wie es dem Gegenüber geht. Genau umgekehrt ist es beim Verhalten: Wir sind uns zwar nicht in jedem Moment unseres Verhaltens und dessen Einfluss auf andere bewusst, aber unser Verhalten ist sehr wohl für andere sichtbar und führt zu entsprechenden Reaktionen. Die bipolare Störung ist vor allem durch Veränderungen der Stimmung und im Verhalten charakterisiert – da können die Interpretationen sehr unterschiedlich ausfallen. Ein Beispiel: Sie fühlen sich niedergeschlagen und kraftlos und wollen deswegen abends nicht ausgehen und Freunde treffen. Ihre Familie nimmt Ihr Verhalten wahr und kommt eventuell zu dem Eindruck, dass Sie faul oder desinteressiert an gemeinsamen...

Erscheint lt. Verlag 13.6.2014
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
ISBN-10 3-621-28211-4 / 3621282114
ISBN-13 978-3-621-28211-6 / 9783621282116
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