Verdinglichung (eBook)

Eine anerkennungstheoretische Studie

(Autor)

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2015 | 1. Auflage
183 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73812-2 (ISBN)

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Verdinglichung -  Axel Honneth
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In dieser Studie wird der Versuch einer Reaktualisierung des klassischen Begriffs der Verdinglichung unternommen, dessen Bedeutungsgehalt bei näherer Betrachtung erheblich verschwimmt. Axel Honneth schlägt in Rückgriff auf Lukács, Heidegger und Deweys einen anerkennungstheoretischen Begriff der Verdinglichung vor, der sich auch gesellschaftstheoretisch fruchtbar machen lässt. In ihren luziden Kommentaren diskutieren Judith Butler, Raymond Geuss und Jonathan Lear diesen Vorschlag.

Axel Honneth, geboren 1949, ist Jack C. Weinstein Professor of the Humanities an der Columbia University in New York. 2015 wurde er mit dem Ernst-Bloch-Preis, 2016 f&uuml;r <em>Die Idee des Sozialismus</em> mit dem Bruno-Kreisky-Preis f&uuml;r das politische Buch ausgezeichnet. 2021 hielt er in Berlin seine vielbeachteten Benjamin-Lectures zum Thema des Buches <em>Der arbeitende Souver&auml;n</em>.

Einleitung


Der Begriff der »Verdinglichung« ist in den 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein Leitmotiv der Sozial- und Kulturkritik im deutschsprachigen Raum gewesen. Wie in einem Brennspiegel schienen sich in diesem Ausdruck oder benachbarten Begriffen die historischen Erfahrungen zu konzentrieren, die die Weimarer Republik unter dem Druck wachsender Arbeitslosigkeit und ökonomischer Krisen prägten: Die sozialen Beziehungen erweckten zunehmend den Eindruck nüchtern-kalkulatorischer Zweckhaftigkeit, die handwerkliche Liebe zu den Dingen war offenbar einer Einstellung der bloß instrumentellen Verfügung gewichen, und selbst die inwendigen Erfahrungen der Subjekte ließen den eiskalten Hauch von berechnender Willfährigkeit erahnen. Allerdings bedurfte es erst der Geistesgegenwart eines intellektuell engagierten Philosophen, bevor solche diffusen Stimmungen tatsächlich auf den einen Nenner der »Verdinglichung« gebracht werden konnten; und es war Georg Lukács, dem es in seiner 1923 erschienenen Aufsatzsammlung Geschichte und Klassenbewußtsein[1] gelang, durch eine kühne Zusammenfassung von Motiven aus den Werken von Marx, Max Weber und Georg Simmel diesen Schlüsselbegriff zu prägen. Im Zentrum seines Bandes, der von der Hoffnung auf eine bevorstehende Revolution angetrieben war, steht die lange, dreiteilige Abhandlung über die »Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats«;[2] sie hat eine ganze Generation von Philosophen und Soziologen beflügelt, die Lebensformen unter den damals herrschenden Verhältnissen als eine Folge sozialer Verdinglichung zu analysieren.[3]

In der Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs allerdings war es um die zeitdiagnostische Zentralstellung der Kategorie der »Verdinglichung« geschehen; als habe der Zivilisationsbruch des Holocaust jede spekulative Neigung zur überschießenden Gesellschaftsdiagnose erlahmen lassen, begnügten sich die Sozialtheoretiker und Philosophen weitgehend mit der Analyse von Demokratie-und Gerechtigkeitsdefiziten, ohne noch von Pathologiebegriffen wie »Verdinglichung« oder »Kommerzialisierung« Gebrauch zu machen. Zwar lebten solche Perspektiven natürlich in den Schriften der Frankfurter Schule, zumal in den Arbeiten von Adorno, fort, zwar flammte während der Studentenbewegung noch einmal kurz die Erinnerung an die Studie von Lukács auf,[4] im ganzen aber schien das Projekt einer Verdinglichungsanalyse doch endgültig einer lang entrückten Vergangenheit anzugehören. Von »Verdinglichung« auch nur zu sprechen konnte wie ein Symptom erscheinen, verstockt einer kulturellen Epoche angehören zu wollen, die durch die Nachkriegszeit, kulturelle Reformen und theoretische Neuerungen ihre Legitimation verloren hatte.

Erst in der jüngsten Gegenwart mehren sich die Anzeichen, daß diese Situation sich doch noch einmal ändern könnte; wie ein philosophisch unverarbeiteter Brocken kehrt die Kategorie der »Verdinglichung« aus den Untiefen der Weimarer Republik wieder und betritt erneut die Bühne des intellektuellen Diskurses. Es sind drei, wenn nicht vier Indizien, die die Vermutung eines solchen zeitdiagnostischen Stimmungswandels zu stützen vermögen. Zunächst und noch ganz unspektakulär läßt sich auf eine Vielzahl neuerer Romane und Erzählungen verweisen, die eine ästhetische Aura der schleichenden Ökonomisierung unseres Alltagslebens verbreiten; durch die Art der benutzten Stilmittel oder die Auswahl des herangezogenen Vokabulars legen es diese literarischen Zeugnisse nahe, die soziale Welt so zu betrachten, als gingen ihre Bewohner mit sich und anderen im wesentlichen wie mit leblosen Gegenständen um, also ohne eine Spur der inneren Empfindung oder des Versuchs der Perspektivübernahme. Die Liste der Autoren oder Autorinnen, die in diesem Zusammenhang zu nennen wären, reicht von den amerikanischen Erzählern Raymond Carver und Harold Brodkey über das Enfant terrible der französischen Literatur, Michel Houellebecq, bis zu den deutschsprachigen Schriftstellerinnen Elfriede Jelinek und Silke Scheuermann.[5] Ist in solchen narrativen Werken die Verdinglichung nur als eine atmosphärische Stimmung präsent, so wird sie in neueren soziologischen Analysen als eine veränderte Form des menschlichen Verhaltens studiert; zahllos sind heute im Bereich der Kultursoziologie oder der Sozialpsychologie die Untersuchungen, die eine verstärkte Tendenz der Subjekte ausmachen, bestimmte Gefühle oder Wünsche aus Opportunitätsgründen so lange bloß vorzuspielen, bis sie als Bestandteile der eigenen Persönlichkeit auch tatsächlich erlebt werden[6] – eine Form der emotionalen Selbstmanipulation also, die schon Lukács vor Augen hatte, als er vom Journalismus als einer »Prostitution« von »Erlebnissen und Überzeugungen«[7] sprach und darin eine letzte Steigerungsform sozialer Verdinglichung erblickte.

Gewiß, in derartigen Diagnosen einer Tendenz zum Gefühlsmanagement taucht der Begriff der »Verdinglichung« ebensowenig explizit auf wie in den meisten der literarischen Zeugnisse, die heute eine Atmosphäre kalter Sachlichkeit und Manipulation verbreiten; das ändert sich erst mit der dritten Klasse von Texten, die gegenwärtig eine Wiederkehr der Verdinglichungsthematik vermuten lassen. Auch innerhalb der Ethik oder Moralphilosophie finden sich in der jüngsten Zeit nämlich Bemühungen, solcher sozialen Phänomene theoretisch habhaft zu werden, wie sie Lukács in seiner Analyse durchaus vorgeschwebt haben mögen. Dabei wird häufig vom Begriff der »Verdinglichung« ausdrücklich Gebrauch gemacht, ohne jedoch die Verbindung zum Ursprungstext herzustellen: So spricht Martha Nussbaum in neueren Studien gezielt von »Verdinglichung«, um damit besonders krasse Formen der instrumentellen Benutzung anderer Personen zu kennzeichnen,[8] während Elizabeth Anderson auf den Begriff zwar verzichtet, aber durchaus vergleichbare Phänomene der ökonomischen Verfremdung unserer Lebensverhältnisse analysiert.[9] In solchen ethischen Zusammenhängen ist von »Verdinglichung« oder verwandten Prozessen in einem dezidiert normativen Sinn die Rede; gemeint ist damit ein menschliches Verhalten, das insofern gegen unsere moralischen oder ethischen Prinzipien verstößt, als andere Subjekte nicht gemäß ihrer menschlichen Eigenschaften, sondern wie empfindungslose, tote Gegenstände, eben als »Dinge« oder »Waren«, behandelt werden; und die empirischen Phänomene, auf die mit derartigen Bestimmungen Bezug genommen wird, umfassen so unterschiedliche Tendenzen wie die wachsende Inanspruchnahme von Leihmutterschaften, die Vermarktlichung von Liebesbeziehungen oder die explosionsartige Entwicklung der Sexindustrie.[10]

Schließlich ist noch ein vierter Kontext auszumachen, in dem die Kategorie der »Verdinglichung« heute erneut verwendet wird, um hervorstechende Entwicklungen in unserer Gegenwart begrifflich zu charakterisieren. Im Umfeld der Diskussionen, die in jüngster Zeit über die Ergebnisse und sozialen Wirkungen der Hirnforschung geführt werden, ist nicht selten davon die Rede, daß die strikt naturwissenschaftliche Herangehensweise in diesem Fall eine verdinglichende Einstellung verrate: Denn in dem Vorsatz, so lautet das Argument, das menschliche Fühlen und Handeln durch die bloße Analyse von neuronalen Verschaltungen im Gehirn zu erklären, wird von allem lebensweltlichen Wissen abstrahiert und damit der Mensch wie ein erfahrungsloser Automat, letztlich also wie ein Ding, behandelt. Wie in den zuvor genannten ethischen Ansätzen, so wird auch hier also der Begriff im wesentlichen herangezogen, um einen Verstoß gegen moralische Prinzipien zu kennzeichnen; der Umstand, daß in der neurophysiologischen Betrachtung des Menschen dessen personale Eigenschaften scheinbar nicht zur Kenntnis genommen werden, wird als ein Fall von »Verdinglichung« bezeichnet.[11] In beiden Kontexten spielen mithin die ontologischen Konnotationen, die der Begriff doch mit seiner Anspielung auf bloße Dinge enthält, nur eine untergeordnete, marginale Rolle: Nicht weil ein bestimmtes, »verdinglichendes« Verhalten gegen ontologische Präsuppositionen unseres Alltagshandelns, sondern weil es gegen moralische Prinzipien verstößt, gilt es als fragwürdig oder falsch. Demgegenüber glaubte Lukács noch, ohne jeden Bezug auf ethische Grundsätze auskommen zu können; er nahm in seiner Abhandlung den Begriff der »Verdinglichung« insofern wörtlich, als er damit eine soziale Verhaltenspraxis zu charakterisieren können glaubte, die nur aufgrund der Verfehlung ontologischer Tatsachen schon als falsch gelten sollte.

Natürlich besitzt auch die Verdinglichungsanalyse von Lukács, obwohl sie auf ein moralisches Vokabular vollständig verzichtet, einen normativen Gehalt. Schließlich verrät ja schon die Verwendung des Begriffs der »Verdinglichung« die Unterstellung, daß es sich bei den geschilderten Phänomenen um die Verfehlung einer »eigentlichen« oder »richtigen« Form der Einstellung zur Welt handeln muß; und schließlich geht Lukács wie selbstverständlich davon aus, daß seine Leserinnen und Leser zustimmen, wenn er die geschichtliche Notwendigkeit einer Revolutionierung der gegebenen Verhältnisse darstellt. Aber der Einsatzort dieser impliziten Urteile befindet sich auf einer theoretischen Stufe, die unterhalb der argumentativen Ebene liegt, auf der in den genannten Kontexten die entsprechenden Wertungen formuliert und begründet werden; denn Lukács erblickt in der Verdinglichung eben nicht einen Verstoß gegen moralische Prinzipien, sondern die Verfehlung einer menschlichen Praxis oder Einstellungsweise, die die Vernünftigkeit unserer Lebensform ausmacht.[12] Die Argumente, die er gegen die...

Erscheint lt. Verlag 6.7.2015
Mitarbeit Kommentare: Jonathan Lear, Raymond Geuss, Judith Butler
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Anerkennung • Studie • STW 2127 • STW2127 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2127 • Verdinglichung
ISBN-10 3-518-73812-7 / 3518738127
ISBN-13 978-3-518-73812-2 / 9783518738122
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