Wie August Petermann den Nordpol erfand - Philipp Felsch

Wie August Petermann den Nordpol erfand

***** 1 Bewertung

(Autor)

Buch | Softcover
272 Seiten
2010
Sammlung Luchterhand (Verlag)
978-3-630-62178-4 (ISBN)
12,00 inkl. MwSt
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Wie eine falsche Karte den Wettlauf zum Nordpol auslöste - Ein hinreißend erzähltes Wissensabenteuer für alle Leser von Dava Sobel, Simon Winchester und Sten Nadolny.
Nordpol: Ort der Sehnsucht und Entdeckerlust für das 19. Jahrhundert. Ein Deutscher will bei diesem Abenteuer mit dabei sein: der genialische Kartenzeichner August Petermann. Die Engländer reiben sich erstaunt die Augen, als dieser Bücherwurm, der noch nie einen Eisberg gesehen hat, ihnen erklärt, wo sich – »ernsthaften und besonnenen Berechnungen« zufolge – der für verschollen erklärte John Franklin aufhalten muss. Als die Seeoffiziere sich gegen Petermanns Theorien wehren, zieht er sich tief enttäuscht nach Gotha in Thüringen zurück. Dort erobert Petermann den Nordpol auf seine Weise: auf dem Papier. Und schickt zahlreiche Expeditionen in die Irre, weil er von seiner – falschen – Theorie partout nicht lassen will ...

Das subtile Porträt eines typisch deutschen Forschers, eines »Humboldts am Schreibtisch«.

Philipp Felsch, geboren 1972 in Köln, ist Juniorprofessor für Geschichte der Humanwissenschaften am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. In seiner Doktorarbeit »Laborlandschaften« begleitete er eine Expedition in die Alpen, die eine der großen Obsessionen des Fin de siècle, die Ermüdung, in großer Höhe erforschen wollte. Er schreibt an einem Buch über die Gebrüder Schlagintweit, die im Geiste Humboldts, aber ohne dessen glückliche Hand, an ihren übergroßen Ambitionen tragisch scheitern.

"Man muss die Leichtigkeit bewundern , mit der er Kultur-, Wissens, -und Politikgeschichte zu einer mitreißenden Erzählung verwebt."

AUS MANGEL AN BEWEISEN Lange Zeit hat der Nordpol zu den Requisiten der heroischen Moderne gehört: ein Ort, an dem sich bärtige Männer die Zehen abfroren. Doch gegenwärtig erlebt er eine schillernde Renaissance. Im Sommer 2007 deponierte ein russisches U-Boot die russische Flagge an seinem Grund. Vor der nahe gelegenen Hans-Insel halten sich dänische und kanadische Kriegsschiffe in Schach. Und die Völkerrechtler streiten darüber, ob die Arktis als Land oder Meer oder keines von beiden anzusehen ist. Von der Entscheidung dieser Frage wird es womöglich abhängen, wer das Eismeer in Zukunft ausbeuten darf. Denn alle Parteien warten darauf, dass die Arktis auftaut, dass die Nordwestpassage schiffbar und das Erdöl unter dem Pol zugänglich wird. Dann könnte ein neuer kalter Krieg beginnen. Solange die Eisschollen aber noch nicht geschmolzen und die Bohrinseln noch nicht errichtet sind, wirken die geopolitischen Schachzüge wie eine frostige Operette. Worum, bitte, geht es denn? Um ein treibendes Territorium, so leb- und so nutzlos wie die dunkle Seite des Mondes. Das hatte schon Robert Peary feststellen müssen, als er am 6. April i909 seine Flagge ins Eis des Nordpols stieß. Es soll ein sonniger, windstiller Tag gewesen sein. »The Pole at last«, notierte er in sein Tagebuch — »endlich der Pol.« Und direkt darunter: »I cannot bring myself to realize it.« Denn anstatt des verdienten Triumphgefühls gingen ihm merkwürdige Gedanken durch den Kopf. Was bedeutete es, an einem Ort zu sein, an dem in allen Richtungen Süden lag? Und wie groß war der Pol überhaupt? So groß wie ein Vierteldollar, so groß wie ein Hut oder eine kleine Stadt? Natürlich wusste der Ingenieur, dass der Pol ein mathematischer Punkt war, aber gerade diese Abstraktion verstärkte den Eindruck von Unwirklichkeit. Am ehesten, schrieb der zielstrebige Peary, erzeuge der Pol ein Gefühl dafür, »dass die meisten Dinge relativ sind«. Er war an den Nullpunkt der Geografie gelangt. Beim Abmarsch warf er auf sein Lebensziel nicht mehr als einen flüchtigen Blick über die Schulter zurück. Nach der Rückkehr musste Peary feststellen, dass ein gewisser Frederick Cook, sein ehemaliger Schiffsarzt, behauptete, schon vor ihm am Pol gewesen zu sein. Es folgte eine schmutzige Presseschlacht, die Cook als gebrochenen Mann und Peary als zweifelhaften Sieger zurückließ. Denn am Nordpol gab es nichts zu sehen. Die Beweisfotos der erbitterten Rivalen zeigten flatternde Fahnen und winkende Männer inmitten einer »unbeschreiblichen Leere«. So beschrieb es Cook. Peary behauptete, Cook habe seine Aufnahmen kurz vor der Küste Grönlands gemacht. Cook behauptete, er habe eine Metallröhre am Nordpol vergraben. Doch die war natürlich längst abgedriftet. Verständnislos rätselte der Schiffsarzt in seinem 1911 veröffentlichten Expeditionsbericht über die Natur geografischer Beweise: Seit Kolumbus habe die Menschheit den Erzählungen ihrer Entdecker geglaubt. Warum sollte das in seinem Fall anders sein? Warum hielt ihn die Welt für einen Betrüger? Doch alle Beteuerungen nützten nichts. Cooks Ruf war ruiniert. Am Ende landete er wegen einer windigen Ölspekulation im Gefängnis. Bis auf den heutigen Tag ist der Streit zwischen Peary und Cook nicht entschieden, nach wie vor werden Bücher veröffentlicht, Beweise begutachtet und Loyalitäten erklärt. Vielleicht zeigt das, dass der Wettlauf zum Nordpol prinzipiell unentscheidbar war. Am Ende, so der niemals zu entkräftende Verdacht, erreichte keiner der beiden Gegner sein Ziel. Dem heroischen Hirngespinst, seit Jahrzehnten von der Presse beschworen, fehlte schlicht und einfach so etwas wie eine handgreifliche geografische Referenz. Der Linguist Roman Jakobson hat in den 1930er Jahren notiert, das späte 19. Jahrhundert sei die Zeit einer galoppierenden Inflation der Zeichen gewesen. Als sich irgendwann herausstellte, dass die Worte nicht länger von der Wirklichkeit gedeckt wurden, erlebten sie einen Schwindel erregenden Wertverfall. Doch alle Versuche, das Vertrauen in die papierne Sprache zurück zu gewinnen, schlugen fehl. Frederick Cook musste das am eigenen Leib erfahren: Seinem 600 Seiten starken Expeditionsbericht wollte niemand mehr Glauben schenken. Und nicht einmal der Pol selbst blieb verschont. Beim Nordpol, könnte man mit den Kulturwissenschaftlern sagen, handelt es sich um den einzigen real existierenden frei flottierenden Signifikanten: um ein Zeichen, das seiner Bedeutung davon getrieben war. Während eine weltweite Öffentlichkeit sich noch ihrer neuen Helden erfreute, hatte Karl Kraus das längst erkannt. »Am Nordpol war nichts weiter wertvoll, als daß er nicht erreicht wurde«, schrieb er im September 1909 in der Fackel. Das »Nichts« habe nicht nur Cook und Peary, es habe im selben Atemzug auch sich selbst desavouiert. Kurz: »Der gute Ruf des Nordpols war dahin.« Dass die Welt einem leeren Zeichen hinterher jagte, hatte Lewis Carroll schon eine Generation früher geahnt. »What's the good of Mercator's North Poles and Equators, Tropics, Zones, and Meridian Lines?«, liest man in seiner 1876 erschienenen Jagd nach dem Schnark. »They are merely conventional signs!« Doch Carroll und Kraus waren ihrer Zeit voraus. Was machte die magnetische Anziehungskraft des Nordpols für alle anderen aus? »Kaum ein Ort der Welt war, seit es Menschen gibt, so unerreichbar und mythenbeladen wie der Nordpol«, lautet die übliche Antwort. Einerseits stimmt das natürlich. Schon bei den alten Griechen lassen sich Quellen auftreiben, die eine Sehnsucht nach dem hohen Norden dokumentieren. Auf der anderen Seite stimmt das vage »Schon-immer« jedoch genau nicht. Das geografische Phantom, dem Peary und Cook zwanghaft hinterher jagten, gibt es erst seit dem 19. Jahrhundert. Aber seit wann genau? Und warum? Die kleine Festgesellschaft, die sich im September 1909 in den Anlagen des Gothaer Schlosses versammelte, hätte auf diese Fragen vielleicht eine Antwort gewusst. Eine gemurmelte, etwas verstohlene Antwort womöglich, genau wie die Feierlichkeit, die man im Park beging. »In aller Stille«, so berichtete die lokale Presse, wurde ein Gedenkstein für den Kartografen August Petermann errichtet, der sich 1878 in Rufweite des Gothaer Schlosses das Leben genommen hatte. Zu Lebzeiten war er bekannt gewesen, in Fachkreisen sogar weltberühmt. Doch jetzt, eine Generation später, erinnerte das Denkmal an einen halb Vergessenen. Eigentlich hatte der Stein schon zu Petermanns dreißigstem Todestag errichtet werden sollen. Doch da es nur ein paar Verwandte waren, denen die Sache am Herzen lag, da Geld aufgetrieben und ein passender Bildhauer gefunden werden musste, hatte sich alles verzögert.

AUS MANGEL AN BEWEISEN Lange Zeit hat der Nordpol zu den Requisiten der heroischen Moderne gehört: ein Ort, an dem sich bärtige Männer die Zehen abfroren. Doch gegenwärtig erlebt er eine schillernde Renaissance. Im Sommer 2007 deponierte ein russisches U-Boot die russische Flagge an seinem Grund. Vor der nahe gelegenen Hans-Insel halten sich dänische und kanadische Kriegsschiffe in Schach. Und die Völkerrechtler streiten darüber, ob die Arktis als Land oder Meer oder keines von beiden anzusehen ist. Von der Entscheidung dieser Frage wird es womöglich abhängen, wer das Eismeer in Zukunft ausbeuten darf. Denn alle Parteien warten darauf, dass die Arktis auftaut, dass die Nordwestpassage schiffbar und das Erdöl unter dem Pol zugänglich wird. Dann könnte ein neuer kalter Krieg beginnen. Solange die Eisschollen aber noch nicht geschmolzen und die Bohrinseln noch nicht errichtet sind, wirken die geopolitischen Schachzüge wie eine frostige Operette. Worum, bitte, geht es denn? Um ein treibendes Territorium, so leb- und so nutzlos wie die dunkle Seite des Mondes. Das hatte schon Robert Peary feststellen müssen, als er am 6. April i909 seine Flagge ins Eis des Nordpols stieß. Es soll ein sonniger, windstiller Tag gewesen sein. »The Pole at last«, notierte er in sein Tagebuch — »endlich der Pol.« Und direkt darunter: »I cannot bring myself to realize it.« Denn anstatt des verdienten Triumphgefühls gingen ihm merkwürdige Gedanken durch den Kopf. Was bedeutete es, an einem Ort zu sein, an dem in allen Richtungen Süden lag? Und wie groß war der Pol überhaupt? So groß wie ein Vierteldollar, so groß wie ein Hut oder eine kleine Stadt? Natürlich wusste der Ingenieur, dass der Pol ein mathematischer Punkt war, aber gerade diese Abstraktion verstärkte den Eindruck von Unwirklichkeit. Am ehesten, schrieb der zielstrebige Peary, erzeuge der Pol ein Gefühl dafür, »dass die meisten Dinge relativ sind«. Er war an den Nullpunkt der Geografie gelangt. Beim Abmarsch warf er auf sein Lebensziel nicht mehr als einen flüchtigen Blick über die Schulter zurück. Nach der Rückkehr musste Peary feststellen, dass ein gewisser Frederick Cook, sein ehemaliger Schiffsarzt, behauptete, schon vor ihm am Pol gewesen zu sein. Es folgte eine schmutzige Presseschlacht, die Cook als gebrochenen Mann und Peary als zweifelhaften Sieger zurückließ. Denn am Nordpol gab es nichts zu sehen. Die Beweisfotos der erbitterten Rivalen zeigten flatternde Fahnen und winkende Männer inmitten einer »unbeschreiblichen Leere«. So beschrieb es Cook. Peary behauptete, Cook habe seine Aufnahmen kurz vor der Küste Grönlands gemacht. Cook behauptete, er habe eine Metallröhre am Nordpol vergraben. Doch die war natürlich längst abgedriftet. Verständnislos rätselte der Schiffsarzt in seinem 1911 veröffentlichten Expeditionsbericht über die Natur geografischer Beweise: Seit Kolumbus habe die Menschheit den Erzählungen ihrer Entdecker geglaubt. Warum sollte das in seinem Fall anders sein? Warum hielt ihn die Welt für einen Betrüger? Doch alle Beteuerungen nützten nichts. Cooks Ruf war ruiniert. Am Ende landete er wegen einer windigen Ölspekulation im Gefängnis. Bis auf den heutigen Tag ist der Streit zwischen Peary und Cook nicht entschieden, nach wie vor werden Bücher veröffentlicht, Beweise begutachtet und Loyalitäten erklärt. Vielleicht zeigt das, dass der Wettlauf zum Nordpol prinzipiell unentscheidbar war. Am Ende, so der niemals zu entkräftende Verdacht, erreichte keiner der beiden Gegner sein Ziel. Dem heroischen Hirngespinst, seit Jahrzehnten von der Presse beschworen, fehlte schlicht und einfach so etwas wie eine handgreifliche geografische Referenz. Der Linguist Roman Jakobson hat in den 1930er Jahren notiert, das späte 19. Jahrhundert sei die Zeit einer galoppierenden Inflation der Zeichen gewesen. Als sich irgendwann herausstellte, dass die Worte nicht länger von der Wirklichkeit gedeckt wurden, erlebten sie einen Schwindel erregenden Wertverfall. Doch alle Versuche, das Vertrauen in die papierne Sprache zurück zu gewinnen, schlugen fehl. Frederick Cook musste das am eigenen Leib erfahren: Seinem 600 Seiten starken Expeditionsbericht wollte niemand mehr Glauben schenken. Und nicht einmal der Pol selbst blieb verschont. Beim Nordpol, könnte man mit den Kulturwissenschaftlern sagen, handelt es sich um den einzigen real existierenden frei flottierenden Signifikanten: um ein Zeichen, das seiner Bedeutung davon getrieben war. Während eine weltweite Öffentlichkeit sich noch ihrer neuen Helden erfreute, hatte Karl Kraus das längst erkannt. »Am Nordpol war nichts weiter wertvoll, als daß er nicht erreicht wurde«, schrieb er im September 1909 in der Fackel. Das »Nichts« habe nicht nur Cook und Peary, es habe im selben Atemzug auch sich selbst desavouiert. Kurz: »Der gute Ruf des Nordpols war dahin.« Dass die Welt einem leeren Zeichen hinterher jagte, hatte Lewis Carroll schon eine Generation früher geahnt. »What's the good of Mercator's North Poles and Equators, Tropics, Zones, and Meridian Lines?«, liest man in seiner 1876 erschienenen Jagd nach dem Schnark. »They are merely conventional signs!« Doch Carroll und Kraus waren ihrer Zeit voraus. Was machte die magnetische Anziehungskraft des Nordpols für alle anderen aus? »Kaum ein Ort der Welt war, seit es Menschen gibt, so unerreichbar und mythenbeladen wie der Nordpol«, lautet die übliche Antwort. Einerseits stimmt das natürlich. Schon bei den alten Griechen lassen sich Quellen auftreiben, die eine Sehnsucht nach dem hohen Norden dokumentieren. Auf der anderen Seite stimmt das vage »Schon-immer« jedoch genau nicht. Das geografische Phantom, dem Peary und Cook zwanghaft hinterher jagten, gibt es erst seit dem 19. Jahrhundert. Aber seit wann genau? Und warum? Die kleine Festgesellschaft, die sich im September 1909 in den Anlagen des Gothaer Schlosses versammelte, hätte auf diese Fragen vielleicht eine Antwort gewusst. Eine gemurmelte, etwas verstohlene Antwort womöglich, genau wie die Feierlichkeit, die man im Park beging. »In aller Stille«, so berichtete die lokale Presse, wurde ein Gedenkstein für den Kartografen August Petermann errichtet, der sich 1878 in Rufweite des Gothaer Schlosses das Leben genommen hatte. Zu Lebzeiten war er bekannt gewesen, in Fachkreisen sogar weltberühmt. Doch jetzt, eine Generation später, erinnerte das Denkmal an einen halb Vergessenen. Eigentlich hatte der Stein schon zu Petermanns dreißigstem Todestag errichtet werden sollen. Doch da es nur ein paar Verwandte waren, denen die Sache am Herzen lag, da Geld aufgetrieben und ein passender Bildhauer gefunden werden musste, hatte sich alles verzögert.

AUS MANGEL AN BEWEISEN Lange Zeit hat der Nordpol zu den Requisiten der heroischen Moderne gehört: ein Ort, an dem sich bärtige Männer die Zehen abfroren. Doch gegenwärtig erlebt er eine schillernde Renaissance. Im Sommer 2007 deponierte ein russisches U-Boot die russische Flagge an seinem Grund. Vor der nahe gelegenen Hans-Insel halten sich dänische und kanadische Kriegsschiffe in Schach. Und die Völkerrechtler streiten darüber, ob die Arktis als Land oder Meer oder keines von beiden anzusehen ist. Von der Entscheidung dieser Frage wird es womöglich abhängen, wer das Eismeer in Zukunft ausbeuten darf. Denn alle Parteien warten darauf, dass die Arktis auftaut, dass die Nordwestpassage schiffbar und das Erdöl unter dem Pol zugänglich wird. Dann könnte ein neuer kalter Krieg beginnen. Solange die Eisschollen aber noch nicht geschmolzen und die Bohrinseln noch nicht errichtet sind, wirken die geopolitischen Schachzüge wie eine frostige Operette. Worum, bitte, geht es denn? Um ein treibendes Territorium, so leb- und so nutzlos wie die dunkle Seite des Mondes. Das hatte schon Robert Peary feststellen müssen, als er am 6. April i909 seine Flagge ins Eis des Nordpols stieß. Es soll ein sonniger, windstiller Tag gewesen sein. »The Pole at last«, notierte er in sein Tagebuch — »endlich der Pol.« Und direkt darunter: »I cannot bring myself to realize it.« Denn anstatt des verdienten Triumphgefühls gingen ihm merkwürdige Gedanken durch den Kopf. Was bedeutete es, an einem Ort zu sein, an dem in allen Richtungen Süden lag? Und wie groß war der Pol überhaupt? So groß wie ein Vierteldollar, so groß wie ein Hut oder eine kleine Stadt? Natürlich wusste der Ingenieur, dass der Pol ein mathematischer Punkt war, aber gerade diese Abstraktion verstärkte den Eindruck von Unwirklichkeit. Am ehesten, schrieb der zielstrebige Peary, erzeuge der Pol ein Gefühl dafür, »dass die meisten Dinge relativ sind«. Er war an den Nullpunkt der Geografie gelangt. Beim Abmarsch warf er auf sein Lebensziel nicht mehr als einen flüchtigen Blick über die Schulter zurück. Nach der Rückkehr musste Peary feststellen, dass ein gewisser Frederick Cook, sein ehemaliger Schiffsarzt, behauptete, schon vor ihm am Pol gewesen zu sein. Es folgte eine schmutzige Presseschlacht, die Cook als gebrochenen Mann und Peary als zweifelhaften Sieger zurückließ. Denn am Nordpol gab es nichts zu sehen. Die Beweisfotos der erbitterten Rivalen zeigten flatternde Fahnen und winkende Männer inmitten einer »unbeschreiblichen Leere«. So beschrieb es Cook. Peary behauptete, Cook habe seine Aufnahmen kurz vor der Küste Grönlands gemacht. Cook behauptete, er habe eine Metallröhre am Nordpol vergraben. Doch die war natürlich längst abgedriftet. Verständnislos rätselte der Schiffsarzt in seinem 1911 veröffentlichten Expeditionsbericht über die Natur geografischer Beweise: Seit Kolumbus habe die Menschheit den Erzählungen ihrer Entdecker geglaubt. Warum sollte das in seinem Fall anders sein? Warum hielt ihn die Welt für einen Betrüger? Doch alle Beteuerungen nützten nichts. Cooks Ruf war ruiniert. Am Ende landete er wegen einer windigen Ölspekulation im Gefängnis. Bis auf den heutigen Tag ist der Streit zwischen Peary und Cook nicht entschieden, nach wie vor werden Bücher veröffentlicht, Beweise begutachtet und Loyalitäten erklärt. Vielleicht zeigt das, dass der Wettlauf zum Nordpol prinzipiell unentscheidbar war. Am Ende, so der niemals zu entkräftende Verdacht, erreichte keiner der beiden Gegner sein Ziel. Dem heroischen Hirngespinst, seit Jahrzehnten von der Presse beschworen, fehlte schlicht und einfach so etwas wie eine handgreifliche geografische Referenz. Der Linguist Roman Jakobson hat in den 1930er Jahren notiert, das späte 19. Jahrhundert sei die Zeit einer galoppierenden Inflation der Zeichen gewesen. Als sich irgendwann herausstellte, dass die Worte nicht länger von der Wirklichkeit gedeckt wurden, erlebten sie einen Schwindel erregenden Wertverfall. Doch alle Versuche, das Vertrauen in die papierne Sprache zurück zu gewinnen, schlugen fehl. Frederick Cook musste das am eigenen Leib erfahren: Seinem 600 Seiten starken Expeditionsbericht wollte niemand mehr Glauben schenken. Und nicht einmal der Pol selbst blieb verschont. Beim Nordpol, könnte man mit den Kulturwissenschaftlern sagen, handelt es sich um den einzigen real existierenden frei flottierenden Signifikanten: um ein Zeichen, das seiner Bedeutung davon getrieben war. Während eine weltweite Öffentlichkeit sich noch ihrer neuen Helden erfreute, hatte Karl Kraus das längst erkannt. »Am Nordpol war nichts weiter wertvoll, als daß er nicht erreicht wurde«, schrieb er im September 1909 in der Fackel. Das »Nichts« habe nicht nur Cook und Peary, es habe im selben Atemzug auch sich selbst desavouiert. Kurz: »Der gute Ruf des Nordpols war dahin.« Dass die Welt einem leeren Zeichen hinterher jagte, hatte Lewis Carroll schon eine Generation früher geahnt. »What's the good of Mercator's North Poles and Equators, Tropics, Zones, and Meridian Lines?«, liest man in seiner 1876 erschienenen Jagd nach dem Schnark. »They are merely conventional signs!« Doch Carroll und Kraus waren ihrer Zeit voraus. Was machte die magnetische Anziehungskraft des Nordpols für alle anderen aus? »Kaum ein Ort der Welt war, seit es Menschen gibt, so unerreichbar und mythenbeladen wie der Nordpol«, lautet die übliche Antwort. Einerseits stimmt das natürlich. Schon bei den alten Griechen lassen sich Quellen auftreiben, die eine Sehnsucht nach dem hohen Norden dokumentieren. Auf der anderen Seite stimmt das vage »Schon-immer« jedoch genau nicht. Das geografische Phantom, dem Peary und Cook zwanghaft hinterher jagten, gibt es erst seit dem 19. Jahrhundert. Aber seit wann genau? Und warum? Die kleine Festgesellschaft, die sich im September 1909 in den Anlagen des Gothaer Schlosses versammelte, hätte auf diese Fragen vielleicht eine Antwort gewusst. Eine gemurmelte, etwas verstohlene Antwort womöglich, genau wie die Feierlichkeit, die man im Park beging. »In aller Stille«, so berichtete die lokale Presse, wurde ein Gedenkstein für den Kartografen August Petermann errichtet, der sich 1878 in Rufweite des Gothaer Schlosses das Leben genommen hatte. Zu Lebzeiten war er bekannt gewesen, in Fachkreisen sogar weltberühmt. Doch jetzt, eine Generation später, erinnerte das Denkmal an einen halb Vergessenen. Eigentlich hatte der Stein schon zu Petermanns dreißigstem Todestag errichtet werden sollen. Doch da es nur ein paar Verwandte waren, denen die Sache am Herzen lag, da Geld aufgetrieben und ein passender Bildhauer gefunden werden musste, hatte sich alles verzögert.

Erscheint lt. Verlag 4.3.2010
Reihe/Serie Sammlung Luchterhand
Sprache deutsch
Maße 118 x 187 mm
Gewicht 283 g
Einbandart Paperback
Themenwelt Literatur
Schlagworte Arktis, Geschichte; Entdeckung/Eroberung • Kartographie; Romane/Erzählungen • Petermann, August; Romane/Erzählungen
ISBN-10 3-630-62178-3 / 3630621783
ISBN-13 978-3-630-62178-4 / 9783630621784
Zustand Neuware
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5 Wie der Wettlauf begann

von (Berlin), am 03.11.2011

Nicht erst seit Google Earth ist das Kartieren der Welt politisch: Ausgehend von der im 19. Jhdt. in Mode gekommenen Reise­li­te­ra­tur, getragen von der Expeditions-Euphorie in England und unter­stützt durch geschickte Lobbyarbeit, schafft es der erfolg­reiche Kartograph August Petermann, seine Theorie vom eisfreien Nord­pol voranzutreiben. Ohne selbst jemals an einer Expedition teil­ge­nommen zu haben, gelingt es Petermann einen Wettlauf der Staaten zum Nordpol zu initiieren.
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