Dunkle Halunken (eBook)

Roman
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2013 | 2. Auflage
384 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-96368-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Dunkle Halunken -  TERRY PRATCHETT
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Dodger ist ein Straßenjunge - doch nicht irgendeiner. Während eines Überfalls in den nächtlichen Gassen Londons rettet er einer Unbekannten das Leben, der betörend schönen Simplicity. Fortan setzt er alles daran, mehr über die Tat und die Herkunft der jungen Frau herauszufinden. Auf der Suche nach den Tätern bringt Dodger ganz nebenbei einen mörderischen Barbier namens Sweeney Todd zur Strecke und wird dadurch für ganz London zum Helden. Dies jedoch ruft einen geheimnisvollen Attentäter ebenso auf den Plan wie die Halunken, die Simplicity nach dem Leben trachten und ihren jungen Beschützer lieber früher als später tot sehen wollen ...

Terry Pratchett, geboren 1948 in Beaconsfield, England, erfand in den Achtzigerjahren eine ungemein flache Welt, die auf dem Rücken von vier Elefanten und einer Riesenschildkröte ruht, und hatte damit einen schier unglaublichen Erfolg: Ein Prozent aller in Großbritannien verkauften Bücher sind Scheibenweltromane. Jeder achte Deutsche besitzt ein Pratchett-Buch. Bei Piper liegen der erste Scheibenweltroman »Die Farben der Magie« sowie die frühen Bände um Rincewind, Gevatter Tod, die Hexen und die Wachen vor - Meisterwerke, die unter den Fans einhellig als nach wie vor unerreicht gelten. Terry Pratchett erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den »World Fantasy Lifetime Achievement Award« 2010. Zuletzt lebte der Autor in einem Anwesen in Broad Chalke in der Grafschaft Wiltshire, wo er am 12. März 2015 verstarb.

Terry Pratchett, geboren 1948 in Beaconsfield, England, erfand in den Achtzigerjahren eine ungemein flache Welt, die auf dem Rücken von vier Elefanten und einer Riesenschildkröte ruht, und hatte damit einen schier unglaublichen Erfolg: Ein Prozent aller in Großbritannien verkauften Bücher sind Scheibenweltromane. Jeder achte Deutsche besitzt ein Pratchett-Buch. Bei Piper liegen der erste Scheibenweltroman "Die Farben der Magie" sowie die frühen Bände um Rincewind, Gevatter Tod, die Hexen und die Wachen vor – Meisterwerke, die unter den Fans einhellig als nach wie vor unerreicht gelten. Terry Pratchett erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den "World Fantasy Lifetime Achievement Award" 2010.

1 Hier begegnen wir unserem Helden, und der Held trifft eine Waise im Sturm und lernt Mister Charlie kennen, einen als Schreiberling bekannten Herrn Der Regen strömte so heftig auf London herab, dass er wie tanzende Gischt wirkte - die einzelnen Tropfen schienen in der Luft um Vorherrschaft zu ringen und darauf zu warten, auf den Boden zu stürzen. Die Abflüsse und Abwasserkanäle waren mehr als nur voll, sie quollen über und würgten hoch, was sich darin angesammelt hatte: Schmutz und Schmiere, tote Hunde, Katzen, Ratten und Schlimmeres. Der ganze Unrat, den die Menschen losgeworden zu sein glaubten, kehrte in die Welt zurück. Er drängelte in den Fluten und eilte dem über die Ufer tretenden, immer gastlichen Fluss namens Themse entgegen, der schäumte und brodelte wie eine grässliche Suppe in einem schrecklichen Kessel. Der Fluss selbst schien wie ein sterbender Fisch nach Luft zu schnappen. Doch die Eingeweihten wussten über den Londoner Regen Bescheid: Sosehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nie, die stinkende Stadt zu säubern. Er schaffte es höchstens, eine weitere Schicht Dreck freizulegen. Und in dieser schmutzigen Nacht fanden angemessen schmutzige Ereignisse statt, die nicht einmal der Regen fortspülen konnte. Eine von zwei Pferden gezogene elegante Kutsche platschte durch die Straßen und quietschte noch dazu, denn ein Stück Metall saß an der Achse fest und schrie. Es war nicht der einzige Schrei, der von dieser Kutsche ausging, ein zweiter entrang sich der Kehle eines Menschen, als die Kutschentür aufsprang und eine Gestalt in den Rinnstein taumelte, der sich in dieser Nacht in eine Fontäne verwandelt hatte. Zwei weitere Gestalten sprangen aus der Kutsche und fluchten in einer Sprache, die ebenso bunt war wie die Nacht dunkel, und sogar noch schmutziger. Im strömenden Regen, durch den das flackernde Licht eines Blitzes zuckte, versuchte die erste Gestalt zu fliehen, stolperte aber und fiel, und die beiden anderen stürzten sich auf sie. Wieder ertönte ein Schrei, in dem Aufruhr und Lärm kaum zu hören, doch er schien ein seltsames Echo zu bekommen, das aus dem Knirschen von Eisen bestand. Ein naher Gullydeckel rutschte zur Seite, und zum Vorschein kam ein dünner junger Mann, geschwind wie eine Schlange. »Lasst die junge Frau in Ruhe!«, rief er. Ein Fluch erklang im Dunkeln, als einer der Angreifer auf den Rücken fiel, weil jemand die Beine unter ihm weggetreten hatte. Der junge Mann war alles andere als ein Schwergewicht, aber er schien überall gleichzeitig zu sein und schlug in alle Richtungen zu, wobei ein Schlagring - immer ein guter Helfer, wenn man allein gegen eine Übermacht antritt - seinen Hieben Nachdruck verlieh. In diesem Fall bestand die Übermacht aus zwei Männern, und sie ergriffen die Flucht. Der junge Bursche blieb ihnen dicht auf den Fersen, und seine Fäuste hämmerten auf die Fliehenden ein. Doch dies war London, und es regnete, und die Männer stürmten durch Gassen und Seitenstraßen und versuchten ihre Kutsche wiederzufinden. Die Erscheinung aus der Kanalisation verlor sie schließlich aus den Augen und kehrte mit der Geschwindigkeit eines Windhunds zu der geplagten jungen Frau zurück. Er ging neben ihr in die Hocke, und zu seiner großen Überraschung ergriff sie ihn am Kragen und flüsterte mit ausländischem Akzent: »Sie wollen mich zurückbringen, bitte hilf mir ...« Woraufhin der junge Mann sogleich aufsprang und sich argwöhnisch umsah. Ausgerechnet in dieser Gewitternacht geschah es, dass zwei Herren, die durchaus etwas vom Londoner Schmutz wussten, durch diese Straße gingen beziehungsweise wateten. Sie hatten die Hüte tiefer gezogen, was ihnen bei diesem Regenguss allerdings wenig nutzte, denn das Wasser kam nicht nur von oben, sondern auch von unten, weil es vom Boden hochspritzte. Wieder flackerte ein Blitz, und einer der Herren fragte: »Liegt dort jemand im Rinnstein?« Vielleicht hörte der Blitz die Worte, denn er gleißte noch einmal vom Himmel und zeigte den beiden ein Bündel, eine Gestalt, eine Person am Boden. »Gütiger Himmel, Charlie, es ist eine junge Frau!«, entfuhr es einem der Herren. »In den Rinnstein geworfen, nehme ich an, und völlig durchnässt. Komm!« »He, was tun Sie da, Mister?« Im Licht eines Pubfensters, das kaum mehr als Dunkelheit zeigte, entdeckten der Herr namens Charlie und sein Freund einen Burschen, nicht älter als siebzehn, aber mit der Stimme eines Mannes. Eines Mannes, der offenbar bereit war, es mit ihnen aufzunehmen und auf Leben und Tod zu kämpfen. Zorn schien er im Regen auszudampfen, und er hielt eine Metallstange bereit. »Ich kenne Typen wie euch, jawohl!«, fuhr der junge Bursche fort. »Kommt hierher und jagt Schürzen nach, macht anständige Mädchen und Frauen zum Gespött! Verflixt! Wie verzweifelt ihr doch sein müsst, wenn ihr in einer solchen Nacht unterwegs seid!« Der Mann, der nicht Charlie hieß, richtete sich auf. »Immer langsam, Junge! Ich muss doch sehr bitten. Wir sind ehrbare Gentlemen, die, wie ich hinzufügen möchte, hart arbeiten, um das Schicksal armer junger Frauen - und auch von Leuten wie dir, wie mir scheint - zu verbessern.« Der wütende Schrei des Burschen war so laut, dass die Fenster des nahen Pubs aufschwangen und rauchiges orangefarbenes Licht in den Regen fiel. »So nennt ihr das also, ihr elenden alten Widerlinge!« Der junge Mann holte mit seiner behelfsmäßigen Waffe aus, doch der Herr namens Charlie nahm sie ihm ab und warf sie hinter sich. Dann packte er den Burschen am Kragen und hielt ihn fest. »Mister Mayhew und ich sind anständige Bürger, mein Lieber, und als solche halten wir es für unsere Pflicht, diese junge Dame in Sicherheit zu bringen.« Über die Schulter hinweg sagte er: »Es ist nicht weit zu dir, Henry. Glaubst du, deine Frau wäre bereit, eine bedürftige Seele für eine Nacht aufzunehmen? In einer solchen Nacht jagt man keinen Hund vor die Tür.« Henry, der sich über die junge Frau gebeugt hatte, nickte. »Meinst du vielleicht zwei Hunde?« Das hörte der zappelnde Junge gar nicht gern. Mit einer schlangenartigen Bewegung entwand er sich Charlies Griff und schien erneut für einen Kampf bereit zu sein. »Ich bin kein Hund nich, ihr feinen Pinkel, und sie ist auch keiner! Wir haben unseren Stolz, haben wir. Ich gehe meinen eigenen Weg, jawohl, ganz koscher, ungelogen.« Der Herr namens Charlie packte das Jüngelchen abermals am Kragen und hob es hoch, bis sich ihre Augen auf gleicher Höhe befanden. »Ich bewundere deine Einstellung, junger Mann, aber nicht deinen Verstand«, sagte er ruhig. »Und wohlgemerkt, dieser jungen Frau geht es schlecht, das erkennst du sicher. Es ist nicht weit bis zum Haus meines Freunds, und da du dich zu ihrem Verteidiger und Beschützer gemacht hast ... Ich lade dich ein, mitzukommen und dich zu vergewissern, dass sie die beste Behandlung erfährt, die wir uns leisten können. Hast du gehört? Wie lautet dein Name? Und bevor du ihn nennst, möchte ich dir versichern, dass du nicht die einzige Person bist, die Anteil nimmt, wenn eine Dame in Not gerät, noch dazu in einer so scheußlichen Nacht. Also, mein Junge, wie heißt du?« Der Bursche musste einen gewissen Ton in Charlies Stimme bemerkt haben, denn er antwortete ohne Zögern. »Ich bin Dodger, manchmal auch pfiffiger Gannef genannt. Man kennt mich überall in der Stadt.« »Nun gut«, sagte Charlie. »Da wir nun deine illustre Bekanntschaft gemacht haben, sollten wir während unserer kleinen Reise zu einer Verständigung gelangen, von Mann zu Mann.« Er richtete sich auf und fuhr fort: »Lass uns dein Haus aufsuchen, Henry! Wir sollten uns beeilen, befürchte ich doch, diese bedauernswerte junge Dame braucht jede erdenkliche Hilfe. Und du, mein Junge ... Was weißt du über sie?« Er ließ den Burschen los, der daraufhin einige Schritte zurückwich. »Nichts, Meister, hab sie nie zuvor in meinem Leben gesehen, das ist die reine Wahrheit, und ich kenne hier sonst alle. Eine weitere Ausreißerin. Passiert dauernd. Ich denke nich gern darüber nach.« »Soll ich etwa glauben, Mister Dodger, dass du dieser jungen Dame wie der wahre Kavalier zu Hilfe geeilt bist, obwohl du sie gar nicht kennst?« Dodger wirkte plötzlich sehr wachsam. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Welche Rolle spielt's für euch? Und wer ist überhaupt dieser Kavalier?« Charlie und Henry trugen die junge Frau in ihren Armen. Als sie losgingen, sagte Charlie über die Schulter hinweg: »Hast du nicht verstanden, was ich gerade gesagt habe, Dodger? Mit Kavalier ist ein Mann mit vorbildlichen Manieren Damen gegenüber gemeint ... Schon gut. Folge uns wie der klatschnasse edle Ritter, der du bist, und du wirst sehen, dass die holde Maid eine gute Behandlung erwartet. Bei der Gelegenheit bekommst du auch eine ordentliche Mahlzeit und ... mal sehen ...« Münzen klimperten in der Dunkelheit. »Ja, zwei Shillings, und wenn du mitkommst, verbesserst du deine Aussichten auf den Himmel, womit ich einen Ort meine, über den du vermutlich nicht allzu häufig nachdenkst, wenn ich das richtig sehe. Verstanden? Sind wir uns einig? Gut.« Zwanzig Minuten später saß Dodger in der Küche des Hauses am Feuer. Es war kein allzu prächtiges Gebäude, aber doch viel prächtiger als die meisten Häuser, denen er einen rechtmäßigen Besuch abgestattet hatte. Weitaus prächtigere Häuser kannte er von unerlaubten Besuchen her, doch die waren nie von langer Dauer gewesen. In manchen Fällen hatte er sie in beträchtlicher Hast verlassen. Ehrlich, die Anzahl der Hunde, die die Leute heutzutage hatten, war ein verdammter Skandal, und sie hetzten sie ohne jede Vorwarnung auf ungebetene Gäste - aus diesem Grund war er immer recht flink gewesen. Aber hier ... Oh, hier gab es Fleisch und Kartoffeln, außerdem noch Möhren, aber leider kein Bier. Er hatte ein Glas warme Milch vorgesetzt bekommen, fast frisch obendrein. Missus Quickly, die Köchin, ließ ihn nicht aus den Augen und hatte bereits das Besteck weggeräumt, doch abgesehen davon schien es eine annehmbare Bude zu sein, obwohl es ein bisschen Gemurre von der Alten des Mister Henry gegeben hatte, weil er ihr praktisch mitten in der Nacht Straßenstreuner ins Haus brachte. Dodger schenkte allem, was er sah und hörte, große forensische Aufmerksamkeit und gewann den Eindruck, dass die Angetraute des besagten Henry nicht zum ersten Mal Grund zu derartiger Klage bekam. Sie klang wie eine Person, die die Faxen so richtig dicke hatte, sich aber nichts daraus zu machen versuchte. Wie auch immer, Dodger hatte seine Mahlzeit bekommen (was wichtig war), Ehefrau und Zofe waren mit der jungen Dame fortgeeilt, und jetzt ... stieg jemand die Treppe zur Küche herunter. Es war Charlie, und Charlie beunruhigte Dodger. Henry schien einer jener Gutmenschen zu sein, die sich schuldig fühlten, weil sie Geld und Essen im Überfluss hatten, während es anderen Leuten an beidem mangelte. Dodger kannte diese Leute. Ihm persönlich machte es nichts aus, Geld zu haben, während andere Leute keins hatten, aber wenn man ein Leben wie er führte, zahlte es sich aus, großzügig zu sein, sofern man bei Kasse war. Man brauchte Freunde. Freunde sagten zum Beispiel: »Dodger? Hab nie von ihm gehört, Meister, hab ihn nie gesehen! Bestimmt meinst du 'nen anderen Typen.« In der Stadt musste man sich irgendwie durchschlagen. Man musste wachsam und stets auf Draht sein, immerzu, wenn man überleben wollte. Er blieb am Leben, weil er Dodger war, schlau und schnell. Er kannte alle, und alle kannten ihn. Niemand hatte ihn jemals vor den Kadi gebracht, er war schneller als der schnellste Bow Street Runner, und er lief selbst den Peelern davon, die die Runner von der Bow Street abgelöst hatten, nachdem man ihnen auf die Schliche gekommen war. Wenn die Polizisten jemanden verhaften wollten, mussten sie ihn erst einmal ergreifen, und das war ihnen bei Dodger noch nie gelungen. Nein, Henry stellte kein Problem dar, aber Charlie ... Oh, Charlie schien ein Mann zu sein, der, wenn er jemanden ansah, tief in ihn hineinblickte. Charlie, so dachte sich Dodger, konnte ein gefährlicher Typ sein, ein Gentleman, der die Besonderheiten der Welt kannte und hinter den weichen Vorhang schöner Worte schaute, dorthin, wo die Gedanken flüsterten, und das war tatsächlich sehr gefährlich. Hier war er nun, dieser Mann - er kam die Treppe herunter, und das Geklimper von Münzen begleitete ihn. Charlie nickte der Köchin zu, die gerade aufräumte, und setzte sich auf die Bank, neben Dodger, der ein wenig beiseiterücken musste, um Platz zu machen. »Also ... Dodger, nicht wahr?«, sagte er. »Du erfährst sicher mit Freude, dass es der jungen Dame, der du geholfen hast, nach der ärztlichen Behandlung besser geht. Leider lässt sich das von ihrem ungeborenen Kind nicht behaupten, das den schrecklichen Ereignissen zum Opfer gefallen ist.« Kind! Das Wort traf Dodger wie ein Totschläger, und im Gegensatz zu einem Totschläger verschwand es nicht, sondern blieb. Ein Kind ... Für den Rest des Gesprächs hing das Wort am Rand seines Blickfelds und ließ ihm keine Ruhe. Laut sagte er: »Davon wusste ich nichts.« »Oh, ich bin sicher, dass du nichts davon wusstest«, erwiderte Charlie. »Im Dunkeln war es nur ein weiteres schreckliches Verbrechen - und sicher nur eins von vielen in dieser Nacht. Das weißt du ebenso gut wie ich, Dodger. Doch dieses Verbrechen war so dreist, unmittelbar vor mir stattzufinden, und deshalb möchte ich ein bisschen Polizeiarbeit leisten, allerdings ohne die Polizei, die in diesem Fall, so fürchte ich, kaum von großer Hilfe wäre.« An Charlies Gesicht ließ sich nichts ablesen, und das war erstaunlich, denn Dodger verstand sich gut darauf, in Gesichtern Hinweise zu erkennen. Ernst fuhr der Mann fort: »Ich frage mich, ob die beiden Gentlemen, denen du begegnet bist, der jungen Dame wegen des Kinds zusetzten. Vielleicht finden wir es nie heraus, vielleicht doch.« Und dort war es - das Wörtchen doch, wie ein Messer, das schnitt und schnitt, bis es auf Erleuchtung traf. Charlies Gesicht blieb völlig ausdruckslos. »Ich frage mich, ob andere Gentlemen unter Umständen davon wussten, und deshalb, mein junger Herr, sind hier zwei Shillings für dich. Und noch einer mehr, wenn du mir einige Fragen beantwortest. Ich gedenke nämlich, dieser seltsamen Angelegenheit auf den Grund zu gehen.« Dodger betrachtete die Münzen. »Um welche Fragen handelt es sich?« Er lebte in einer Welt, in der niemand Fragen stellte, abgesehen von den Fragen Wie viel? und Was ist für mich drin? Und er wusste - er wusste es wirklich -, dass Charlie es ebenfalls wusste. »Kannst du lesen und schreiben, Dodger?«, fuhr Charlie fort. Dodger neigte den Kopf zur Seite. »Ist das eine Frage, für die ich einen Shilling bekomme?« »Nein«, schnauzte Charlie. »Ich lasse einen Viertelpenny für diese kleine Auskunft springen, mehr nicht. Hier ist er. Wo ist die Antwort?« Dodger schnappte sich die Münze. »Ich kann Bier, Gin und Ale lesen. Ist doch sinnlos, sich den Kopf mit Kram vollzustopfen, den man gar nicht braucht, finde ich.« Lag da die Andeutung eines Lächelns auf den Lippen des Mannes?, fragte er sich. »Offenbar bist du ein Akademiker, Mister Dodger. Vielleicht sollte ich dir sagen, dass die junge Dame ... Nun, jemand ist nicht besonders sanft mit ihr umgegangen.« Er lächelte nicht mehr, und Dodger geriet plötzlich in Panik und rief: »Ich nicht! Ich habe ihr nie nichts getan, das ist die reine Wahrheit! Ich bin vielleicht kein Engel, aber das heißt noch lange nicht, dass ich ein Schurke bin.« Charlies Hand packte Dodger, als er aufstehen wollte. »Du hast ihr nie nichts getan? Du hast nie nichts getan, Dodger? Wenn du niemals nichts getan hast, hast du die ganze Zeit über irgendetwas getan, und bitte sehr, das ist ein Geständnis, unüberhörbar aus deinem Mund. Ich bin ziemlich sicher, dass du nie zur Schule gegangen bist, Mister Dodger, dafür scheinst du mir zu schlau zu sein. Aber wenn du zur Schule gegangen wärst und dort Sätze wie Ich habe nie nichts getan gesagt hättest ... Dann hätte dir dein Lehrer vermutlich das Fell über die Ohren gezogen. Aber hör mir gut zu, Dodger! Ich glaube dir, dass du der jungen Dame nichts angetan hast, und ich habe mindestens einen guten Grund, um davon überzeugt zu sein. Vielleicht hast du nicht bemerkt, dass sie an einem Finger einen der größten kunstvoll verzierten Goldringe trägt, die ich je gesehen habe, einen Ring, der etwas zu bedeuten hat. Und wenn du darauf aus gewesen wärst, besagter Dame zu schaden, hättest du den Ring bestimmt gestohlen, so wie du vorhin meine Brieftasche gestohlen hast.« Dodger blickte in die Augen des Mannes. Oh, dies war ein übler Typ, dem man besser nicht querkam, kein Zweifel. »Ich, Sir? Nein, Sir«, sagte er. »Hab sie herumliegen sehen, und natürlich wollte ich sie Ihnen zurückgeben, Sir.« »Ich darf dir versichern, dass ich dir jedes deiner Worte glaube, Dodger. Obwohl ich eingestehen muss, dass ich deine Fähigkeit bewundere, in der Dunkelheit nicht nur die Form einer Brieftasche zu erkennen, sondern auch sofort zu wissen, dass sie mir gehört. Wirklich, ich bin höchst erstaunt«, sagte Charlie. »Beruhige dich - ich wollte dir nur klarmachen, wie ernst die Sache ist. Mit den Worten Ich habe nie nichts getan hast du allen deinen Aussagen eine negative Bedeutung verliehen, und zwar auf recht nachhaltige Weise, verstehst du? Mister Mayhew und ich, wir sind der im Großen und Ganzen unannehmbaren Situation in weiten Teilen dieser Stadt gewahr, was übrigens bedeutet, dass wir über Missstände Bescheid wissen und uns bemühen, sie der Öffentlichkeit zur Kenntnis zu bringen. Zumindest jenen Vertretern der Öffentlichkeit, die davon Kenntnis erhalten möchten. Da dir etwas an der jungen Dame zu liegen scheint, könntest du vielleicht herumfragen oder dich zumindest hier und da umhören. Möglicherweise erfährst du auf diese Weise, woher sie kommt und was sie nach London verschlagen hat. Jeder Hinweis wäre nützlich. Sie wurde heftig geschlagen, und damit meine ich nicht die eine oder andere Backpfeife. Ich spreche vielmehr von Leder und Fäusten. Von Fäusten! Nach den vielen Blutergüssen zu urteilen, haben die Fäuste immer und immer wieder auf sie eingedroschen, mein junger Freund, und das war noch nicht alles. Gewisse Leute - und damit meine ich natürlich nicht dich - sind der Ansicht, dass wir uns an die Polizei wenden sollten, und sie vertreten diese Meinung, weil sie keine Ahnung von Londons Realitäten für die unteren Schichten haben, keine Ahnung von den Slums, dem Dreck und dem Elend, aus dem ihre Welt besteht. Ja?« Dodger hatte den Finger gehoben, und als Charlie ihm seine volle Aufmerksamkeit schenkte, sagte er: »Gut, in manchen Straßen kann es wirklich ein bisschen schmutzig sein. Einige tote Hunde und vielleicht auch die Leiche einer alten Frau, aber ... Nun ja, das ist der Lauf der Welt, nich wahr? So wie es in der Bibel heißt, dass man auf dem Bauch kriechen und Dreck fressen muss, bevor man stirbt, oder?« »Wer in jenen Teilen der Stadt Erde isst, wird ziemlich sicher sterben, so viel steht fest«, sagte Charlie. »Aber da wir schon mal dabei sind ... Kannst du mir für deine beiden Shillings und noch einen Shilling ein weiteres Zitat aus der Bibel nennen?« Das bereitete Dodger gewisse Mühe. Er starrte den Mann an und brachte schließlich hervor: »Auge um Zahn. Ja, so heißt es in der Bibel, und wo bleibt der Shilling?« Charlie lachte. »Auge um Zahn? Ich wette, du bist in deinem ganzen Leben nie in der Kirche oder in einer Kapelle gewesen, junger Mann. Du kannst nicht lesen, du kannst nicht schreiben. Gütiger Himmel, kannst du mir wenigstens den Namen eines Apostels nennen? Deinem Gesichtsausdruck entnehme ich, dass du leider nicht dazu imstande bist. Dennoch hast du nicht gezögert, der jungen Dame zu Hilfe zu eilen, die sich nun in diesem Haus aufhält, und du bekommst fünf Sixpence-Stücke, wenn du diese kleine Aufgabe für mich und Mister Mayhew übernimmst. Tagsüber findest du mich beim Morning Chronicle. Such nicht anderswo nach mir! Hier ist meine Karte, falls du sie brauchst. Mister Dickens - das bin ich.« Er reichte Dodger ein rechteckiges Stück Pappe. »Ja, hast du eine Frage?« Dodger wirkte unsicherer als zuvor. »Kann ich die junge Dame sehen, Sir? Eigentlich habe ich noch gar keinen richtigen Blick auf sie geworfen ... Ich hab sie nur wegrennen sehen und dachte, dass ihr feinen Herren zu ihr gehört. Ich muss wissen, wie sie aussieht, wenn ich mich umhören und nach ihr fragen soll. Und eins sage ich Ihnen, Sir: Fragen zu stellen, kann in dieser Stadt sehr gefährlich sein.« Charlie runzelte die Stirn. »Derzeit ist die Dame vor allem schwarz und blau, Dodger.« Er dachte kurz und fuhr dann fort: »Aber deine Worte haben durchaus etwas für sich. Dieses Haus ist durch die jüngsten Ereignisse völlig durcheinandergeraten, wie du dir vielleicht vorstellen kannst. Missus Mayhew bringt die Kinder wieder ins Bett, und die junge Dame ist vorerst im Dienstmädchenzimmer untergebracht. Wenn du dort hineingehst, sollten deine Stiefel sauber sein, und deine flinken Finger ... Ich meine die Finger, die sich bestens darauf verstehen, die Wertgegenstände anderer Leute zu finden, während - Meine Güte, mich laust der Affe! - du keine Ahnung hast, wie sie da hingekommen sind ...« Charlie legte eine kurze Pause ein. »Versuch so etwas nie - ich wiederhole: nie - im Haus von Mister Henry Mayhew!« »Ich bin kein Dieb«, protestierte Dodger. »Womit du meinst, dass du nicht nur ein Dieb bist, mein Lieber. Derzeit finde ich mich mit deiner Geschichte über meine Brieftasche ab. Derzeit, betone ich. Die dünne Brechstange, die du bei dir trägst, dient vermutlich dazu, Gullydeckel anzuheben, woraus ich schließe, dass du ein Tosher bist, ein Dreckwühler, wie man solche Leute auch nennt. Ein abwechslungsreicher Beruf, aber nicht für jemanden, der sich ein langes Leben erhofft. Und so frage ich mich, wie du überlebst, Dodger, und bin entschlossen, eines Tages eine Antwort auf diese Frage zu finden. Bitte spiel mir gegenüber nicht den Unschuldigen! Dafür kenne ich die dunklen Seiten dieser Stadt zu gut.« Zwar rang Dodger nach Luft und empörte sich darüber, dass Charlie über ihn sprach, als sei er ein gewöhnlicher Krimineller, aber er war auch beeindruckt. Nie zuvor hatte er einen noblen alten Geezer gehört, der Mich laust der Affe sagte. Das bestätigte seine Einschätzung, wonach Mister Dickens ein gewiefter Typ war und einem hart arbeitenden Burschen jede Menge Scheußlichkeit bescheren konnte. Vor noblen alten Knackern wie ihm musste man sich in Acht nehmen, sonst fanden sie vielleicht jemanden, der einem die Zähne mit einer Zange bearbeitete, so wie es dem Abdecker Wally widerfahren war, den man wegen eines lumpigen Shillings übel zugerichtet hatte. Deshalb blieb Dodger artig und brav, als man ihn durchs dunkle Haus nach oben in ein kleines Schlafzimmer führte, das durch die Anwesenheit des Doktors, der sich gerade in einer winzigen Schüssel die Hände wusch, noch kleiner wirkte. Der Mann maß Dodger mit beiläufigem Blick, in dem ziemlich viel Verdammung lag, und wandte sich dann an Charlie, der von ihm ein Lächeln geschenkt bekam, wie es reichen Leuten oft zuteil wird. Dodger hatte, wie zu Recht von Charlie angenommen, keine richtige Schulbildung genossen. Stattdessen hatte sein ganzes bisheriges Leben aus Lernen bestanden, was sich als überraschend anders erwies, und er konnte in einem Gesicht deutlicher lesen als in einer Zeitung. Der Doktor sagte zu Charlie: »Eine üble Sache, Sir, eine sehr üble Sache. Ich habe mein Möglichstes getan, und die Nähte sind mir sehr gut gelungen, wenn ich das sagen darf. Im Grunde ist sie eine recht robuste junge Frau, und das war auch nötig, wie sich herausstellte. Jetzt braucht sie vor allem gute Pflege und den besten aller Ärzte: Zeit.« »Und natürlich die Gnade Gottes, der von allen am wenigsten dafür verlangt«, sagte Charlie und drückte dem Mann einige Münzen in die Hand. Als der Doktor zur Tür ging, fügte Charlie hinzu: »Selbstverständlich werden wir dafür sorgen, dass die junge Dame zumindest zu essen und zu trinken bekommt. Danke, dass Sie sich um sie gekümmert haben, und gute Nacht.« Der Arzt warf Dodger einen weiteren finsteren Blick zu und eilte die Treppe hinunter. Ja, wenn man auf der Straße lebte, musste man wissen, wie man ein Gesicht las, kein Zweifel. Inzwischen hatte Dodger Charlies Gesicht zweimal gelesen und wusste daher, dass Charlie den Doktor nicht sonderlich mochte, vielleicht ebenso wenig, wie der Doktor Dodger mochte, und seinem Ton war zu entnehmen, dass Charlie gutem Essen und Wasser mehr vertraute als Gott - einer Person, die Dodger nur vom Hörensagen kannte und über die er fast nichts wusste. Mit der Ausnahme vielleicht, dass Gott viel mit reichen Leuten zu tun hatte. Das klammerte praktisch alle Menschen aus, die Dodger kannte, abgesehen von Solomon, der oft mit Gott verhandelt hatte und ihm gelegentlich einen Rat erteilte. Als die Leibesfülle des Doktors nicht mehr übermäßig viel Platz in dem kleinen Zimmer beanspruchte, konnte Dodger die junge Frau besser sehen. Er schätzte ihr Alter auf nicht mehr als sechzehn oder siebzehn, obwohl sie älter aussah, was bei Zusammengeschlagenen immer der Fall war. Sie atmete langsam, und er sah einen Teil ihres Haars, das ihm wie Gold erschien. Spontan sagte er: »Nichts für ungut, Mister Charlie, aber hätten Sie was dagegen, wenn ich bis morgen früh über die Dame wache? Natürlich rühre ich sie in keiner Weise an, und ich habe sie wirklich noch nie gesehen, ich schwör's. Ich weiß nicht warum, aber ich würde gern ein wenig auf sie aufpassen.«

Erscheint lt. Verlag 17.9.2013
Übersetzer Andreas Brandhorst
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Literatur Fantasy / Science Fiction Science Fiction
Schlagworte 19. Jahrhundert • Brandhorst • Buch • Bücher • discworld • Dodger • Fantasy Klassiker • Humor • Humorvolle Fantasy • lustig • Scheibenwelt • Scheibenwelt Fans • Scheibenwelt romane • Sweeney Todd
ISBN-10 3-492-96368-4 / 3492963684
ISBN-13 978-3-492-96368-8 / 9783492963688
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