Zwölf Leben (eBook)

Roman

(Autor)

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2014 | 2. Auflage
376 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-42242-0 (ISBN)

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Zwölf Leben -  Ayana Mathis
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New York Times-Bestseller Als Hattie ihre erstgeborenen Zwillinge Philadelphia und Jubilee taufte, war das Ausdruck einer großen Hoffnung. Hatte der Norden, die »Wiege der Freiheit«, den Schwarzen, die aus dem Süden kamen, nicht Gleichheit und Wohlstand versprochen? Und schmeckte das Leben in dem kleinen Haus an der Wayne Street nicht nach Zukunft? Hattie wird noch viele weitere Kinder bekommen, aber kaum etwas von ihren Hoffnungen wird sich erfüllen. Schmerz über Versagen und Schicksalsschläge überschattet Hatties Dasein. Es ist ein Schmerz, der sich fortschreiben wird in die nächste Generation. Doch diese Saga um eine außergewöhnliche Frau und ihre zwölf Kinder, die als Geschichte der Great Migration beginnt und sich zum Tableau mit zwölf Einzelporträts über das ganze zwanzigste Jahrhundert weitet, ist trotz Scheitern und Enttäuschung ein vitales Epos - voller Lebenskraft und verhaltener Zärtlichkeit, voller Mut und Entschlossenheit im Kampf gegen Bitterkeit.   

Ayana Mathis, aufgewachsen in Philadelphia, Absolventin des berühmten Iowa Writers' Workshop und ausgezeichnet mit dem Michener Copernicus Fellowship. Gleich mit ihrem ersten Roman >Zwölf Leben< (dtv 2014) gelang ihr ein überragender Erfolg. Heute lebt sie in New York, wo sie am Hunter College lehrt.

Ayana Mathis, aufgewachsen in Philadelphia, Absolventin des berühmten Iowa Writers' Workshop, wo sie unter Marilynne Robinson studierte, und ausgezeichnet mit dem Michener Copernicus Fellowship. Gleich mit ihrem ersten Roman (›Zwölf Leben‹, dtv 2014) gelang ihr ein überragender Erfolg.

Philadelphia und Jubilee


1925

»Philadelphia und Jubilee!«, rief August, als Hattie ihm sagte, welche Namen sie den Zwillingen geben wollte. »Du kannst den Babys doch nicht so verrückte Namen geben!«

Wäre Hatties Mutter noch am Leben gewesen, hätte sie August beigepflichtet. Sie wäre der Meinung gewesen, dass Hattie ordinäre Namen gewählt hatte, »protzig und gewöhnlich« hätte sie dazu gesagt. Aber sie war tot, und Hattie wollte ihren Kindern keine Namen geben, die schon auf den Grabsteinen der Familiengräber in Georgia eingemeißelt waren, deshalb gab sie ihnen Namen der Verheißung und der Hoffnung, Namen, die nach vorne wiesen, nicht solche, die zurückblickten.

Die Zwillinge wurden im Juni geboren, im ersten Sommer, den Hattie und August als verheiratetes Paar erlebten. Sie hatten ein Haus in der Wayne Street gemietet – es war klein, lag aber in einem guten Viertel und war, wie August es ausdrückte, das Haus-für-Jetzt. »Bis wir unser eigenes Haus kaufen«, sagte Hattie. »Bis wir einen Vertrag unterschreiben«, stimmte August ihr zu.

Ende Juni besetzten Wanderdrosseln die Bäume und Dächer in der Wayne Street. Die ganze Gegend hallte wider von Vogelgesang. Das Gezwitscher lullte die Zwillinge in den Schlaf und versetzte Hattie in eine solche Hochstimmung, dass sie die ganze Zeit leise vor sich hin lächelte. Jeden Morgen regnete es, aber die Nachmittage waren hell, und das Gras in dem winzigen Gartenstückchen von Hatties und Augusts Haus war grün wie die Welt am ersten Tag. Die Frauen in der Nachbarschaft buken frühmorgens, und gegen Mittag roch es in der Straße nach den Erdbeerkuchen, die sie zum Abkühlen auf die Fensterbänke gestellt hatten. Alle drei, Hattie und die Zwillinge, dösten im kühlen Schatten der Veranda. Im nächsten Sommer könnten Philadelphia und Jubilee schon laufen, dann würden sie niedlich auf der Veranda herumtorkeln.

Hattie Shepherd betrachtete ihre Kinder in den geflochtenen Körben. Die Zwillinge waren sieben Monate alt. Im Sitzen fiel ihnen das Atmen leichter, deshalb hatte Hattie ihnen kleine Kissen in den Rücken gestopft. Gerade erst waren sie ein wenig ruhiger geworden. Die Nacht war schlimm gewesen. Lungenentzündung konnte geheilt werden, aber es war nicht leicht. Trotzdem, besser als Ziegenpeter oder Grippe oder Rippenfellentzündung. Auch besser als Cholera oder Scharlach. Hattie saß auf dem Fußboden im Badezimmer, sie hatte den Kopf an die Toilettenschüssel gelehnt und die Beine vor sich ausgestreckt. Das Fenster war beschlagen von dem Dampf, der zu Tropfen kondensierte, an der Scheibe und an der Holzverkleidung herunterlief und in der Vertiefung der Kacheln hinter der Kloschüssel eine Pfütze bildete. Stundenlang hatte Hattie das warme Wasser laufen lassen. Die halbe Nacht war August im Keller gewesen und hatte Kohlen in den Heißwasserofen geschaufelt. Eigentlich wollte er Hattie mit den Kindern nicht allein lassen und nicht zur Arbeit gehen. Aber dann … ein Tag Arbeit war ein Tag Lohn, und der Kohlebunker leerte sich zusehends. Hattie beruhigte August: Er müsse sich um die Kinder keine Sorgen machen, jetzt, nachdem die Nacht vorbei sei.

Am Tag zuvor war der Arzt gekommen und hatte die Dampfkur empfohlen. Er hatte Ipecac-Sirup in geringen Dosen verschrieben und vor rückständigen ländlichen Mitteln wie Senfumschlägen gewarnt; Dampfbäder hingegen seien in Ordnung. Er verdünnte das Ipecac mit einer klaren, öligen Flüssigkeit, gab Hattie zwei kleine Pipetten und zeigte ihr, wie sie die Zunge der Kleinen mit dem Finger herunterdrücken musste, damit ihnen die Medizin in die Kehle rinnen konnte. August bezahlte drei Dollar für den Arztbesuch und fing an, kaum dass der Arzt gegangen war, Senfumschläge zuzubereiten. Lungenentzündung.

Irgendwo in der Nähe ertönte eine Sirene, so laut, dass es auch unmittelbar vorm Haus sein konnte. Hattie erhob sich mühsam vom Fußboden und wischte auf der beschlagenen Fensterscheibe einen Kreis frei. Nichts, nur die weißen Reihenhäuser auf der anderen Straßenseite, eng zusammen wie Zähne, und graue Eisflecken auf dem Gehweg, und die jungen Bäume halb tot auf dem gefrorenen Gartenstück, das ihnen zustand. Hier und dort schien im ersten Stock ein Licht – einige der Männer in der Nachbarschaft arbeiteten am Hafen, so wie August, andere fuhren Milch aus oder trugen Post aus; dann gab es noch etliche Lehrer und andere, über die Hattie nichts wusste. Überall in Philadelphia standen die Menschen bei klirrender Kälte auf, um im Keller ihren Ofen anzuheizen. In dieser Mühsal waren sie vereint.

Körniger Nebel stieg vom unteren Himmelsrand auf. Hattie schloss die Augen und dachte an die Sonnenaufgänge ihrer Kindheit – die Bilder verfolgten sie die ganze Zeit, mit jedem Tag, den sie in Philadelphia lebte, wurden ihre Erinnerungen an Georgia eindringlicher, drängender. In ihrer Kindheit wurde jeden Morgen das Horn geblasen, im blauen Morgendunst ertönte es über den Feldern und Häusern und den schwarzen Gummibäumen. Von ihrem Bett aus hatte Hattie gesehen, wie die Feldarbeiter auf der Straße an ihrem Haus vorbeizogen. Die Nachzügler kamen immer erst, wenn das Horn verklungen war: Schwangere, Kranke, Lahme, die Alten, die zu alt zum Pflücken waren, Frauen mit Babys auf dem Rücken. Das Horn trieb sie vorwärts wie ein Peitschenhieb. Die Straße feierlich, feierlich auch die Gesichter, die berstenden weißen Felder in Erwartung, die Pflücker, die sich über das Feld hermachten wie Heuschrecken.

Die Kinder sahen Hattie mit matten Augen an; sie kitzelte sie am Kinn. Bald müsste sie die Senfumschläge wechseln. Von dem heißen Wasser in der Badewanne stieg Dampf auf. Sie warf noch eine Handvoll Eukalyptusblätter hinein. In Georgia wuchs ein Eukalyptusbaum in dem Wald gegenüber dem Haus, in dem Hattie gelebt hatte, aber in Philadelphia war es schwer gewesen, im Winter Eukalyptus zu bekommen.

 

Drei Tage zuvor war der Husten der Babys schlimmer geworden. Hattie war in ihren Mantel geschlüpft und zum Penn- Fruit-Laden gegangen, um den Kaufmann zu fragen, wo sie Eukalyptus bekommen könne. Sie wurde zu einer Adresse mehrere Blocks entfernt geschickt. Hattie kannte sich in Germantown noch nicht gut aus und verirrte sich in dem Straßengewirr. Als sie, ganz durchgefroren, den Laden endlich fand, bezahlte sie fünfzehn Cent für eine Tüte Eukalyptusblätter, die sie in Georgia umsonst hätte haben können. »Na, du bist ja noch ein ganz junges Ding!«, hatte die Eukalyptus-Frau gesagt. »Wie alt bist du denn, mein Mädchen?« Hattie missfiel die Frage, sie sagte aber, sie sei siebzehn Jahre alt, und damit die Frau sie nicht irrtümlich für einen der unglückseligen Neuankömmlinge aus dem Süden halten würde, fügte sie hinzu, dass sie verheiratet sei und ihr Mann eine Lehre als Elektriker mache und dass sie gerade in ein Haus in der Wayne Street gezogen seien. »Na, wie schön, mein Herz. Und wo lebt deine Familie?« Hattie blinzelte ein paar Mal und schluckte schwer. »In Georgia, Madam.«

»Hast du niemanden hier bei dir?«

»Meine Schwester, Madam.« Sie erzählte der Frau nicht, dass ihre Mutter ein Jahr zuvor, als Hattie schwanger war, gestorben war. Getrieben von dem Schock des Verlusts und dem Bewusstsein, dass sie jetzt Waise war und im Norden eine Fremde, war Hatties jüngere Schwester Pearl zurück nach Georgia gegangen. Auch ihre ältere Schwester Marion war gegangen, hatte aber gesagt, sie würde wieder in den Norden kommen, sobald ihr Kind geboren und der Winter vorbei sei. Hattie wusste nicht, ob Marion das wirklich tun würde. Die Frau musterte Hattie eindringlich. »Ich komme mal mit, vielleicht kann ich mich um deine Kleinen kümmern«, sagte sie. Hattie hatte das abgelehnt. Das war dumm von ihr gewesen, sie hatte sich wie ein dummes Mädchen benommen, das zu stolz war zuzugeben, dass sie jemanden brauchte, der sich ihrer annahm. Sie ging allein nach Hause, in der Hand die Tüte mit den Eukalyptus-Blättern.

Die Winterluft war ein Feuer um sie herum und verbrannte alles, außer ihrem Willen, die Kinder gesund zu machen. Ihre Finger erstarrten zu Klauen um die braune Papiertüte. Mit glasklarem Verstand hastete sie in das Haus in der Wayne Street. Sie hatte das Gefühl, in die beiden Kleinen hineinsehen zu können, durch ihre Haut und das Fleisch hindurch, tief in ihren Brustkorb und in ihre schwachen Lungen hinein.

 

Hattie schob Philadelphia und Jubilee näher an die Badewanne heran. Die Handvoll Eukalyptusblätter war zu viel – bei dem Mentholdampf kniffen die Kleinen die Augen zu. Jubilee machte eine Faust und hob den Arm, als wollte sie sich die Augen reiben, aber sie war zu schwach, und der Arm fiel wieder herab. Hattie kniete sich hin und küsste die kleine Faust. Sie hob den mageren Arm ihrer Tochter – leicht wie ein Vogelknochen – und wischte ihr mit der Hand die Tränen fort, wie Jubilee es selbst getan hätte, hätte sie die Kraft dazu gehabt. »Siehst du«, sagte Hattie. »Das hast du ganz alleine gemacht.« Jubilee sah ihre Mutter an und lächelte. Wieder hob Hattie Jubilees kraftlosen Arm an das tränende Auge. Das Baby dachte, es sei ein Spiel, und lachte schwach, ein heiseres, leises, verschleimtes Lachen, aber doch ein Lachen. Hattie lachte auch, weil ihr kleines Mädchen so tapfer und so willig war – so krank und trotzdem hellwach. Sie hatte ein Grübchen, Philadelphia, ihr Bruder, hatte zwei. Sie sahen sich überhaupt nicht ähnlich. Jubilees Haar war schwarz wie das von August, und Philadelphia hatte Haut, so hell wie Milch, und sein Haar war sandbraun wie Hatties.

Philadelphia hatte Mühe beim Atmen. Hattie hob ihn aus dem Korb und setzte ihn auf den Wannenrand, wo der Dampf am dichtesten war. Er lag in ihren Armen wie ein Sack Mehl....

Erscheint lt. Verlag 1.5.2014
Übersetzer Susanne Höbel
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Afroamerikanerin • afroamerikanische Großfamilie • Familienepos • Familienroman • Familienromane • Familiensaga • Gegenwartsliteratur • Generationenroman • Gesellschaftsporträt • Great Migration • Hattie • Literatur • Philadelphia • Rassismus • Vietnamkrieg
ISBN-10 3-423-42242-4 / 3423422424
ISBN-13 978-3-423-42242-0 / 9783423422420
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