Leben (eBook)

Roman
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2014 | 1. Auflage
624 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-10207-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Leben -  Karl Ove Knausgård
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Karl Ove Knausgård über die Entdeckung des Lebens.
Es ist eine Zeit des Umbruchs und der Veränderungen. Das Abitur hat er in der Tasche, die Eltern haben sich getrennt, die Begegnungen mit dem Vater sind spannungsgeladen, die ersten Schritte hinein in ein selbstbestimmtes Leben begleitet von Alkoholräuschen, die der junge Karl Ove in seiner Not immer öfter sucht, weil er diese mit einem Gefühl von Freiheit verbindet - verheißen sie ihm doch Befreiung von all den Komplexen, Unsicherheiten und Nöten, die ihn plagen und noch lange Jahre plagen werden. Lebenslust sieht anders aus.

Unschlüssig, was er mit seinem Leben beginnen soll, beschließt Knausgård ein Jahr als Aushilfslehrer an eine Dorfschule nach Nord-Norwegen zu gehen. Dabei wird er nicht nur mit Schülern konfrontiert, die ihn verständlicherweise als Autoritätsperson nicht ernstnehmen, sondern auch mit einer überwältigenden, für ihn ebenso neuen wie faszinierenden Natur. Bald bildet sich ein Lebensmuster heraus. Den Job erledigt er mit möglichst wenig Aufwand, danach versucht er sich mittels Schreibversuchen an der Etablierung einer Autorenidentität. An den Wochenende wird hemmungslos getrunken, wobei die älteren Kollegen keinerlei Versuche machen, ihren jugendlichen Aushilfslehrer zu mäßigen. Statt dessen trinken sie mit. Am Ende des Jahres steht die Rückkehr in südlichere Regionen an - und die Aufnahme an der neu gegründeten Akademie für Schreibkunst in Bergen ...
Was war das für ein Jahr? Und inwiefern ist es exemplarisch für andere Anfänge? Für unseren Start ins Erwachsenenleben? Wer Knausgård liest, wird schnell gefangengenommen von eigenen Erinnerungen, die Fragen aufwerfen, die weit über eine gewöhnliche Lektüre hinausgehen.

Karl Ove Knausgård wurde 1968 geboren und gilt als wichtigster norwegischer Autor der Gegenwart. Die Romane seines sechsbändigen, autobiographischen Projektes wurden weltweit zur Sensation. Sie sind in 35 Sprachen übersetzt und vielfach preisgekrönt. 2015 erhielt Karl Ove Knausgård den WELT-Literaturpreis, 2017 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur, 2022 nahm er in Kopenhagen den Hans-Christan-Andersen-Literaturpreis entgegen. Er lebt in London.

LANGSAM GLITTEN MEINE BEIDEN KOFFER auf dem Gepäckband durch die Ankunftshalle. Sie waren alt und stammten aus den späten sechziger Jahren; ich hatte sie am Tag, bevor der Lastwagen kam und wir umziehen sollten, unter Mutters Sachen im Schuppen gefunden und sofort in Besitz genommen. Sie passten zu mir und meinem Stil, dieser nicht ganz gegenwärtigen, nicht ganz stromlinienförmigen Art, für die ich mich entschieden hatte.

Ich drückte die Zigarette im Standaschenbecher an der Wand aus, hob die Koffer vom Band und trug sie nach draußen auf den Platz.

Es war fünf vor sieben.

Ich zündete mir eine neue Zigarette an. Nichts musste überstürzt werden, es gab keinen Termin einzuhalten, niemanden, mit dem ich verabredet war.

Der Himmel war bedeckt, die Luft aber dennoch scharf und klar. Die Landschaft hatte etwas Hochgebirgsartiges, obwohl der Flugplatz, auf dem ich stand, nur wenige Meter über dem Meeresspiegel lag. Die wenigen Bäume, die ich sehen konnte, waren klein und knorrig, die Berggipfel, an denen die Aussicht endete, weiß vor Schnee.

Direkt vor mir füllte sich ein Flughafenbus.

Sollte ich mitfahren?

Das Geld, das Vater mir widerwillig für die Reise geliehen hatte, musste reichen, bis ich in einem Monat mein erstes Gehalt bekam. Andererseits wusste ich nicht, wo die Jugendherberge lag, und in einer unbekannten Stadt mit zwei Koffern und einem Rucksack umherzuirren, schien mir kein sonderlich guter Start in mein neues Leben zu sein.

Nein, ich konnte ebenso gut ein Taxi nehmen.

Abgesehen von einem kurzen Spaziergang zu einem Imbiss, an dem ich zwei Würstchen aß, die in einem Schälchen mit Kartoffelbrei lagen, blieb ich den ganzen Abend in der Jugendherberge, lag mit der Bettdecke im Rücken auf dem Bett und hörte Musik aus dem Walkman, während ich Briefe an Hilde, Eirik und Lars schrieb. Ich begann auch einen an Line, mit der ich den Sommer über zusammen gewesen war, legte ihn aber nach einer Seite fort, zog mich aus und löschte das Licht – ohne dass ich irgendeinen Unterschied bemerkte: Die Sommernacht war hell, und die orangefarbene Gardine glühte wie ein Auge im Raum.

Normalerweise schlafe ich unter allen Bedingungen problemlos, in dieser Nacht jedoch blieb ich wach. In nur vier Tagen begann mein erster Arbeitstag. In nur vier Tagen sollte ich den Klassenraum einer Schule in einem kleinen Ort an der Küste von Nord-Norwegen betreten, einem Ort, an dem ich nie zuvor gewesen war und von dem ich überhaupt nichts wusste; nicht einmal Fotos hatte ich gesehen.

Ich!

Ein achtzehn Jahre alter Kerl aus Kristiansand, der gerade das Gymnasium beendet hatte, gerade von zu Hause ausgezogen war, ohne jede Erfahrung im Arbeitsleben, außer einigen Abenden und Wochenenden in einer Papierfabrik, ein bisschen Journalismus in der Lokalzeitung und einem soeben beendeten einmonatigen Sommerjob in einem psychiatrischen Krankenhaus, sollte Klassenlehrer an der Schule von Håfjord werden.

Nein, schlafen konnte ich nicht.

Was würden die Schüler von mir halten?

Wenn ich in der ersten Stunde in den Klassenraum komme und sie auf ihren Plätzen sitzen, was soll ich zu ihnen sagen?

Und die anderen Lehrer, was um Himmels willen werden sie über mich denken?

Im Flur wurde eine Tür geöffnet, ich hörte Musik und Stimmen. Jemand ging leise singend über den Korridor. Ein Ruf: »Hey, shut the door.« Kurz darauf war es wieder still. Ich drehte mich auf die andere Seite. Das eigenartige Gefühl, in einer erleuchteten Nacht zu liegen, trug wohl auch dazu bei, dass es mir schwerfiel zu schlafen. Und wenn der Gedanke, dass es schwierig ist einzuschlafen, sich erst einmal festgesetzt hat, dann ist es absolut unmöglich.

Ich stand auf, zog mich an, setzte mich auf den Stuhl am Fenster und fing an zu lesen. Dødt løp von Erling Gjelsvik.

Im Grunde ging es in allen Büchern, die mir gefielen, um dasselbe. Weiße Nigger von Ingvar Ambjørnsen, Yesterday von Lars Saabye Christensen, Jack von Ulf Lundell, On the Road von Jack Kerouac, Letzte Ausfahrt Brooklyn von Hubert Selby, Roman mit Kokain von M. Agejew, Koloss von Finn Alnæs, Liebe ist eine einsame Sache von Agnar Mykle, die drei Bücher über die Geschichte der Bestialität von Jens Bjørneboe, Gentlemen von Klas Östergren, Ikaros von Axel Jensen, Der Fänger im Roggen von J. D. Salinger, Humlehjertene von Ola Bauer, Der Mann mit der Ledertasche von Charles Bukowski. Bücher über junge Männer, die sich in der Gesellschaft nicht zurechtfanden und etwas mehr vom Leben wollten als Routine und Familie, kurz gesagt, junge Männer, die Bürgerlichkeit verabscheuten und die Freiheit suchten. Sie reisten, sie betranken sich, sie lasen, und sie träumten von der großen Liebe oder dem großen Roman.

Alles, was sie wollten, wollte ich auch.

Die große Sehnsucht, die ich ständig in meiner Brust verspürte, verschwand, wenn ich diese Bücher las; aber nur, um zehnfach zurückzukehren, sobald ich sie beiseitelegte. So war es während meiner ganzen Gymnasialzeit gewesen. Ich hasste alle Autoritäten und war ein Gegner dieser ganzen verdammten stromlinienförmigen Gesellschaft, in der ich aufgewachsen war, mit ihren bürgerlichen Werten und ihrer materialistischen Sicht auf die Menschen. Ich verachtete, was ich auf dem Gymnasium lernte, sogar wenn es sich um Literatur handelte; alles, was ich wissen wollte, alle wirklich notwendigen, einzig wesentlichen Dinge fanden sich in den Büchern, die ich las, und in der Musik, die ich hörte. Ich machte mir nichts aus Geld oder Statussymbolen, ich wusste, dass der Wert des Lebens woanders lag. Ich wollte nicht studieren, ich wollte nicht an einer konventionellen Institution wie einer Universität ausgebildet werden, ich wollte durch Europa reisen, an Stränden schlafen, in billigen Hotels oder bei Freunden, die ich unterwegs kennenlernte. Ich wollte verschiedene kleine Jobs annehmen, um zu überleben, im Hotel Teller waschen, Schiffe löschen oder beladen, Apfelsinen pflücken … In diesem Frühjahr hatte ich mir ein Buch gekauft, das Listen über alle denkbaren und undenkbaren Jobs enthielt, die man in den europäischen Ländern bekommen konnte. Und das Ganze sollte in einem Roman enden. Ich wollte in einem spanischen Dorf sitzen und schreiben, ich wollte nach Pamplona reisen und vor den Stieren herlaufen, nach Griechenland weiterziehen und auf einer der Inseln schreiben, um dann nach einem oder vielleicht zwei Jahren mit einem Roman im Rucksack nach Norwegen zurückzukehren.

So war der Plan. Daher hatte ich mich nach dem Abitur nicht wie viele meiner Schulkameraden zum Militär gemeldet, und ich hatte mich auch nicht wie der Rest an der Universität immatrikuliert, sondern war stattdessen zum Arbeitsamt von Kristiansand gegangen und hatte um eine Liste aller freien Lehrerstellen in Nord-Norwegen gebeten.

»Wie ich höre, willst du Lehrer werden, Karl Ove?«, fragten die Leute gegen Ende des Sommers.

»Nein«, antwortete ich. »Ich will Schriftsteller werden. Aber bis dahin muss ich von irgendetwas leben. Ich werde dort oben ein Jahr arbeiten, ein bisschen Geld beiseitelegen und dann durch Europa reisen.«

Und nun war es nicht mehr nur eine Idee, die ich hatte, sondern die Realität, in der ich lebte: Am nächsten Tag würde ich in Tromsø zum Hafen gehen, mit der Hurtig-Route nach Finnsnes fahren und von dort den Bus in Richtung Süden nehmen; bis zu dem kleinen Ort Håfjord, wo der Hausmeister der Schule mich laut Plan in Empfang nehmen sollte.

Nein, schlafen konnte ich nicht.

Ich nahm die halbe Flasche Whisky aus dem Koffer, holte mir ein Glas aus dem Bad, goss ein, zog die Gardine zur Seite und trank den ersten Schluck, der mich zusammenzucken ließ, dabei blickte ich über das eigenartig beleuchtete Wohngebiet vor dem Fenster.

Als ich am nächsten Morgen gegen zehn erwachte, war die Unruhe verschwunden. Ich packte meine Sachen, bestellte vom Münztelefon an der Rezeption ein Taxi, stellte die Koffer vor die Tür und rauchte, während ich wartete. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich irgendwo hinfuhr, ohne wieder nach Hause zurückkehren zu müssen. Es gab kein »zu Hause« mehr, wohin ich hätte fahren können. Mutter hatte unser Haus verkauft und war nach Førde gezogen. Vater lebte mit seiner neuen Frau noch weiter nördlich in Nord-Norwegen. Yngve wohnte in Bergen. Und ich, ich war auf dem Weg zu meiner ersten eigenen Wohnung. Dort würde ich meine eigene Arbeit haben und mein eigenes Geld verdienen. Zum allerersten Mal bestimmte ich über alle Bereiche meines Lebens selbst.

Verflucht, Mann, das war ein echt starkes Gefühl!

Das Taxi kam den Hügel herauf, ich warf die Zigarette auf den Boden, trat sie aus und legte die Koffer in den Kofferraum, den der Fahrer, ein älterer, korpulenter Mann mit weißen Haaren und einem Goldkettchen um den Hals, für mich geöffnet hatte.

»Zum Hafen«, sagte ich und setzte mich auf den Rücksitz.

»Der Hafen ist groß«, erwiderte er und drehte sich zu mir um.

»Ich muss nach Finnsnes. Zum Anleger des Hurtigboots.«

»Das werden wir schon schaffen.«

Er fuhr bergab.

»Willst du dort aufs Gymnasium?«, erkundigte er sich.

»Nein«, antwortete ich. »Ich muss weiter nach Håfjord.«

»Oh? Etwa Fischer? Nein, wie ein Fischer siehst du nicht aus!«

»Ich werde dort als Lehrer arbeiten.«

»Ah ja, ah...

Erscheint lt. Verlag 23.6.2014
Reihe/Serie Das autobiographische Projekt
Übersetzer Ulrich Sonnenberg
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Min Kamp IV
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Autobiographisch • eBooks • Hafjord • Lieben • Norwegen • Norwegen, autobiographisch, Sterben, Lieben, Spielen, Träumen • Norwegen, Min Kamp 4, Knausgard, Knausgård • Roman • Romane • Spielen • Sterben • Träumen
ISBN-10 3-641-10207-3 / 3641102073
ISBN-13 978-3-641-10207-4 / 9783641102074
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