Maggie und die Stadt der Diebe (eBook)

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2015
432 Seiten
Thienemann Verlag
978-3-522-61056-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Maggie und die Stadt der Diebe - Patrick Hertweck
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New York, 1870: Maggie ist auf der Flucht. Nur knapp ist sie den Männern entkommen, die sie aus dem Waisenhaus entführt haben. Ziellos irrt sie durch die Armenviertel von Manhattan. Bei einer Bande junger Diebe findet sie Unterschlupf. Schon bald merkt Maggie, dass ihr die Slums seltsam vertraut sind. Offenbar hat sie einst hier gelebt. Maggie setzt nun alles daran, das Rätsel ihrer Vergangenheit zu lösen. Licht ins Dunkel kann jedoch nur einer bringen: Mephisto Mose, der Herrscher über die New Yorker Unterwelt. Atmosphärisch und fesselnd - ein brillant geschriebenes Erstlingswerk in der Tradition von Rowling und Funke.

Patrick Hertweck, geboren 1972, bereiste nach dem Abitur mit dem Fahrrad viele Gegenden Europas, arbeitete danach im Management eines Medienunternehmens und beschloss irgendwann, seine heimliche Passion zum Beruf zu machen. Seither lebt und arbeitet der Vater von drei Söhnen als freier Schriftsteller an der Schweizer Grenze unweit von Basel.

Zweiter Teil: Lower Side


Es war heiß in New York. Brütend heiß. Ganz Manhattan stöhnte unter der Hitze.

Seit zwei Wochen schon ließ sich kein Wölkchen am Himmel blicken. Die Sonne über dem Häusermeer glich einer überreifen Pampelmuse. Nicht das laueste Lüftchen wehte durch die Gassen. Die Armenviertel hatten sich in einen riesigen Backofen verwandelt, der sogar den Sumpf im Paradise Square ausgetrocknet hatte. Der Gestank hatte Dimensionen erreicht, dass sich selbst alteingesessene Bewohner wie Bismarck und Coffee über die Luft beschwerten und eine frische Meeresbrise herbeisehnten, die endlich die Ausdünstungen der Fäkalien, des Pferdemists und der Fabriken aus den Gassen und Höfen vertrieb.

Maggie lebte nun seit drei Monaten bei den 40 Little Thieves. Obwohl ihre Zeit keinem strikten Diktat wie ehemals im Waisenhaus unterworfen war, folgten auch ihre Tage bei den kleinen Dieben einer gewissen Routine.

Tom und sie standen immer vor den anderen auf. Sie entsorgten den Abfall, holten frisches Wasser an der Pumpe und kochten die Kartoffeln für das Frühstück. Danach setzten sie sich nebeneinander auf die Stufen des Gates of Hell, schauten sich um und redeten nur das Nötigste.

Maggie hatte längst begriffen, dass Tom bei Tagesanbruch mürrisch und kurz angebunden war. In der einsamen Stunde, ehe die anderen Diebe aufwachten und sich zu ihnen gesellten, wollte er allein mit seinen Gedanken sein. Maggie vermutete, dass diese ihn zurück zu seinem früheren Leben führten. Sie wusste noch immer nichts über Toms Vergangenheit. Aber sie war überzeugt, er würde sein Versprechen, ihr auch von sich zu erzählen, irgendwann einlösen. Bisher war es für sie Beweis ihrer Freundschaft genug, dass Tom sie während seines Rituals neben sich duldete und sich nicht an ihrer Anwesenheit störte.

Maggie genoss die morgendliche Stille und den Anblick der erwachenden Stadt. Hieraus schöpfte sie Energie für die lauten und hektischen Tage in den brechend vollen Armenvierteln. Nur noch selten wanderten ihre Gedanken zum Female Orphan Asylum und seinen Bewohnern. Manchmal kam es ihr so vor, als kenne sie all das nur aus Erzählungen, so blass und undeutlich waren ihre Erinnerungen geworden.

Nach dem Frühstück begleitete Maggie die kleinen Diebe und half ihnen bei den Aufgaben, die ihnen Goblin erteilte. In den vergangenen Monaten hatte sie vieles gelernt und erfüllte ihre Rolle bei den Taschendiebstählen ganz passabel. Mehr Anerkennung der Bande verdiente sich Maggie allerdings beim Betteln. Sie hatte ein gutes Auge für Menschen und spürte instinktiv, mit welcher Masche sie am ehesten zum Erfolg kam. Je nach Situation breitete sie eine hanebüchene Lügengeschichte aus oder heftete sich dem Opfer so penetrant an die Fersen, bis dieses genervt die Geldbörse für eine milde Gabe zückte. Recht bald hatte sie meist die Nase vorn, wenn die Truppe ihre Betteleinnahmen am Abend verglich.

Die Abendstunden waren für Maggie der schönste Abschnitt des Tages. Wenn die kleinen Diebe gemeinsam ein warmes Essen zubereiteten, beisammensaßen, über das Erlebte sprachen oder Bismarcks Geschichten lauschten, empfand sie eine Geborgenheit und Zugehörigkeit wie nie zuvor in ihrem Dasein. Die 40 Little Thieves waren für sie die Familie geworden, die sie niemals gehabt hatte. Und da sie Goblin nicht nur in Ruhe ließ, sondern jeden Kontakt mit ihr mied, konnte sie seine mürrische Anwesenheit ausblenden.

Eine ganze Weile trieb sie die Sorge um, doch noch von ihren Verfolgern erwischt zu werden. Ein paar Wochen lang tauchten die Whyos immer wieder in der Gegend auf, um nach dem entwischten Mädchen zu fahnden. Erst zu Beginn des Sommers ließ sich kein Whyo mehr blicken und Maggie fühlte sich endlich sicher in ihrer Haut, wenn sie ihren Schlupfwinkel verließ.

Der Lösung des Rätsels ihrer Herkunft war Maggie indes keinen Schritt näher gekommen. Nachdem sie im Frühjahr die Trinity Church erblickt und erkannt hatte, dass sie vor ihrer Zeit im Mädchenheim irgendwo in den Slums gelebt haben musste, waren ihr kaum Momente geblieben, sich damit zu beschäftigen. Sie musste sich den Herausforderungen ihrer neuen Existenz unter Bettlern und Dieben stellen. Bis auf die Stunde am Morgen mit Tom gab es kaum Raum für Überlegungen, geschweige denn für Nachforschungen.

An einem Tag Anfang August sollte Maggie jedoch eine Beobachtung machen, die sie auf die Spur ihrer Vergangenheit setzte.

Auch an diesem Morgen saß sie mit Tom auf den Stufen vor dem Hinterausgang der Mietskaserne und beobachtete, wie sich der Paradise Square mit Leben füllte. Den Auftakt machten wie immer die Maismädchen, die aus den düsteren Gassen traten, gegen die Tür der Alten klopften und ihr den Korb reichten. Etwas später schlenderten die ersten Frauen mit Eimern in der einen und schläfrigen Kindern an der anderen Hand zur Pumpe.

Als das Morgengrauen die Schatten verscheucht hatte, knarrte die Tür in Maggies und Toms Rücken. Coffee, Bismarck und Silence kamen blinzelnd ins Tageslicht gewankt. Auf dem Treppenabsatz reckten sie die Glieder, um den Schlaf abzuschütteln.

»Morgen, das Pärchen«, frotzelte Bismarck.

»Morgen, Schlafmütze«, stichelte Maggie zurück.

Coffee und Bismarck begutachteten skeptisch den blassblauen Himmel und sahen dann nach Osten, wo die glühende Sonnensichel hinter den Dächern hervorblinzelte.

»Was sagt der Wetterbericht, Wildkatze?«

»Siehst du doch, Bismarck! Den ganzen Tag Regen. Richtiges Mistwetter«, brummte Maggie und dachte mit Unbehagen an den bevorstehenden Tag.

Seit die Temperaturen in Höhen geklettert waren, die das Gras, die Farne und das Unkraut an den Straßenrändern hatten verdorren lassen, war es auch mit ihren Einnahmen stetig bergab gegangen. Die Straßen im Norden waren leerer als sonst. Die reichen Bürger der Stadt hatten die Lust am Bummeln in den Einkaufsstraßen verloren und sich in ihre kühleren Häuser zurückgezogen oder waren aufs Land gereist, wo es frische Luft und einsame Seen gab, die zum Baden einluden. Dementsprechend frustriert und schlecht gelaunt kehrte die Truppe in letzter Zeit nach einem langen Tag unter der sengenden Sonne in ihren Keller zurück. In diesem war es zwar angenehm kühl, aber dort erwartete sie neben einem ungewohnt kargen Speiseplan ein finster gestimmter Fagin, der seine Untergebenen zu Extraschichten für Aufträge verdonnerte, die er tagsüber an Land zog, damit das Loch in ihrer Kasse halbwegs gestopft wurde. Tom, Silence und Shylock mussten deshalb häufiger als sonst zur Rattenjagd antreten. Und mindestens einmal pro Woche stand ein nächtlicher Einsatz für Sheppard am Hudson auf dem Programm, was ansonsten nur alle paar Wochen der Fall war.

Das Frühstück verlief an diesem Morgen darum stiller als sonst. Selbst Bismarck schlugen die Temperaturen dermaßen auf die Stimmung, dass er nichts zu erzählen wusste.

Goblin hatte sich gerade auf seinem Platz neben der Eingangspforte niedergelassen, als Coffee den Dieben plötzlich zuzischelte: »Was will denn Mother in aller Herrgottsfrühe schon hier?«

Wie auf Kommando waren alle hellwach. Über den Platz kam eine dicke Frau auf sie zu. Vor ihr liefen zwei weißblonde Männer, die sich wie ein Ei dem anderen glichen. Maggie wusste sofort, wer sich der Mietskaserne näherte, denn natürlich hatte sie Bismarck und Coffee von ihnen erzählen hören. Es waren Marm Mandelbaum und ihre Zwillingssöhne Julius und Heinrich.

Mandelbaum war eine Größe in Manhattans Unterwelt, wurde in Verbrecherkreisen schlicht »Mother« genannt und war die wichtigste Hehlerin der Stadt. Sie logierte irgendwo im Satan’s Circus und pflegte Kontakte zu auswärtigen Abnehmern für Diebesgut, das zu heiß war, um es in New York zu Geld zu machen. Außerdem unterhielt Mandelbaum ausgezeichnete Beziehungen zu Polizei- und Politikerkreisen, die sie regelmäßig mit Geldbeträgen schmierte. Stets an ihrer Seite waren ihre tumben Söhne Julius und Heinrich, zwei brutale Schläger, die ihrer Mutter auf Schritt und Tritt folgten.

Alle paar Wochen stattete Mother auch Goblin einen Besuch ab und kaufte ihm das eine oder andere gestohlene Schmuckstück ab, das der Fagin lieber nicht auf herkömmlichem Weg veräußern wollte. Da Mandelbaum normalerweise nur dann im Gates of Hell anrückte, wenn die kleinen Diebe auf Tour waren, hatte Maggie sie bisher noch nicht zu Gesicht bekommen.

Ohne die Kinder zu beachten, stiefelten Mandelbaums Sprösslinge die Stufen hoch. Bismarck und Tom mussten sogar zur Seite springen, damit sie nicht niedergetrampelt wurden. Mit einem Tritt kickte einer der beiden Männer ihren Bottich mit den Kartoffeln zur Seite, um Platz für seine Mutter zu schaffen.

Maggie betrachtete Mandelbaum eingehend, während diese ihren Leibwächtern mit erhobenem Kopf folgte. Sie musste gut und gerne hundert Kilo auf die Waage bringen. Sie hatte fette Wangen, die Lippen in dem aufgedunsenen Gesicht waren scharf geschwungen und ihre Augen klein und listig. Das Haar über ihrer hohen, wulstigen Stirn hatte Mother zu einer strengen Frisur aufgesteckt, auf der ein mit einer Feder geschmücktes Häubchen saß.

Das Zwillingspaar stellte sich links und rechts neben Goblin auf, der sich unterdessen auf die Beine gerappelt hatte und Mandelbaum mit einem falschen Lächeln begrüßte.

Er machte einen untertänigen Kratzfuß und sagte mit kriecherischer Stimme: »Welche Freude, dass Sie mir die Ehre erweisen. Ich hatte Sie noch gar nicht erwartet.«

...

Erscheint lt. Verlag 13.7.2015
Mitarbeit Designer: Maximilian Meinzold
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
Kinder- / Jugendbuch Kinderbücher bis 11 Jahre
Schlagworte Diebesbande • Gangs of New York • Gangster • Historischer Roman • Kinderbuch • Slums • Spannung • Viktorianisches Zeitalter • Waisenkind
ISBN-10 3-522-61056-3 / 3522610563
ISBN-13 978-3-522-61056-8 / 9783522610568
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