Im Frühling sterben (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2015 | 3. Auflage
234 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74115-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Im Frühling sterben -  Ralf Rothmann
Systemvoraussetzungen
11,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Im Frühling sterben ist die Geschichte von Walter Urban und Friedrich - »Fiete« - Caroli, zwei siebzehnjährigen Melkern aus Norddeutschland, die im Februar 1945 zwangsrekrutiert werden. Während man den einen als Fahrer in der Versorgungseinheit der Waffen-SS einsetzt, muss der andere, Fiete, an die Front. Er desertiert, wird gefasst und zum Tod verurteilt, und Walter, dessen zynischer Vorgesetzter nicht mit sich reden lässt, steht plötzlich mit dem Karabiner im Anschlag vor seinem besten Freund ...
In eindringlichen Bildern erzählt Ralf Rothmann vom letzten Kriegsfrühjahr in Ungarn, in dem die deutschen Offiziere ihren Männern Handgranaten in die Hacken werfen, damit sie noch angreifen, und die Soldaten in der Etappe verzweifelte Orgien im Angesicht des Todes feiern. Und wir erleben die ersten Wochen eines Friedens, in dem einer wie Walter nie mehr heimisch wird und noch auf dem Sterbebett stöhnt: »Die kommen doch immer näher, Mensch! Wenn ich bloß einen Ort für uns wüsste ...«



Ralf Rothmann wurde am 10. Mai 1953 in Schleswig geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach der Volksschule (und einem kurzen Besuch der Handelsschule) machte er eine Maurerlehre, arbeitete mehrere Jahre auf dem Bau und danach in verschiedenen Berufen (unter anderem als Drucker, Krankenpfleger und Koch). Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Er lebt seit 1976 in Berlin.

Ralf Rothmann wurde am 10. Mai 1953 in Schleswig geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach der Volksschule (und einem kurzen Besuch der Handelsschule) machte er eine Maurerlehre, arbeitete mehrere Jahre auf dem Bau und danach in verschiedenen Berufen (unter anderem als Drucker, Krankenpfleger und Koch). Er lebt seit 1976 in Berlin.

Das Schweigen, das tiefe Verschweigen, besonders wenn es Tote meint, ist letztlich ein Vakuum, das das Leben irgendwann von selbst mit Wahrheit füllt. – Sprach ich meinen Vater früher auf sein starkes Haar an, sagte er, das komme vom Krieg. Man habe sich täglich frischen Birkensaft in die Kopfhaut gerieben, es gebe nichts Besseres; er half zwar nicht gegen die Läuse, roch aber gut. Und auch wenn Birkensaft und Krieg für ein Kind kaum zusammenzubringen sind – ich fragte nicht weiter nach, hätte wohl auch wie so oft, ging es um die Zeit, keine genauere Antwort bekommen. Die stellte sich erst ein, als ich Jahrzehnte später Fotos von Soldatengräbern in der Hand hielt und sah, dass viele, wenn nicht die meisten Kreuze hinter der Front aus jungen Birkenstämmen gemacht waren.

Mein Vater hatte selten einmal gelächelt, ohne deswegen unfreundlich zu wirken. Der Ausdruck in seinem blassen, von starken Wangenknochen und grünen Augen dominierten Gesicht war unterlegt von Melancholie und Müdigkeit. Das zurückgekämmte dunkelblonde Haar, scharf ausrasiert im Nacken, wurde von Brisk in Form gehalten, das Kinn mit der leichten Einkerbung war immer glatt, und die vornehme Sinnlichkeit seiner Lippen schien nicht wenige Frauen beunruhigt zu haben; es gab da Geschichten. Seine etwas zu kurze Nase hatte einen kaum merklichen Stups, so dass er im Profil etwas jünger wirkte, und der Blick ließ in entspannten Momenten eine schalkhafte Menschlichkeit und eine kluge Empathie erkennen. Aber seine Schönheit war ihm selbst kaum bewusst, und falls sie ihm denn einmal aufgefallen wäre, hätte er ihr vermutlich nicht geglaubt.

Alle Nachbarn mochten ihn, den immer Hilfsbereiten, das Wort hochanständig fiel oft, wenn von ihm die Rede war; seine Kumpel in der Zeche nannten ihn anerkennend Wühler, und kaum einer stritt je mit ihm. Er trug gewöhnlich Hosen aus Cord, deren samtiges Schimmern sich schon nach der ersten Wäsche verlor, sowie Jacken von C & A. Doch die Farben waren stets ausgesucht, ließen ein kurzes Innehalten bei der Wahl erkennen, eine Freude an der geschmackvollen Kombination, und niemals hätte er Sneakers oder ungeputzte Schuhe, Frotteesocken oder karierte Hemden angezogen. Obwohl seine Körperhaltung durch die schwere Tätigkeit als Melker und später als Bergmann gelitten hatte, war er, was es kaum je gibt: ein eleganter Arbeiter.

Aber er hatte keine Freunde, suchte auch keine, blieb lebenslang für sich in einem Schweigen, das niemand mit ihm teilen wollte – nicht einmal seine Frau, die mit allen Nachbarn Kaffee trank und samstags ohne ihn zum Tanzen ging. Sein steter Ernst verlieh ihm trotz des krummen Rückens eine einschüchternde Autorität, und seine Schwermut bestand nicht einfach aus Überdruss am Trott der Tage oder an der Knochenarbeit, aus Ärger oder unerfüllten Träumen. Man schlug ihm nicht auf die Schulter und sagte: Komm, Walter, Kopf hoch! Es war der Ernst dessen, der Eindringlicheres gesehen hatte und mehr wusste vom Leben, als er sagen konnte, und der ahnte: Selbst wenn er die Sprache dafür hätte, würde es keine Erlösung geben.

Überdunkelt von seiner Vergangenheit, radelte er bei Wind und Wetter zur Zeche, und abgesehen von den vielen Verletzungen und Brüchen durch Steinschlag war er nie krank, nicht einmal erkältet. Doch die fast dreißig Jahre als Hauer unter Tage, die unzähligen Schichten und Sonderschichten mit dem Presslufthammer vor Kohle (ohne jeden Gehörschutz, wie damals üblich) hatten dazu geführt, dass er taub wurde und nichts und niemanden mehr verstand – außer meine Mutter. Wobei mir bis heute ein Rätsel ist, ob es ihre Stimmfrequenz war oder die Art der Lippenbewegung, die es ihm ermöglichte, sich ganz normal mit ihr zu unterhalten. Alle anderen mussten schreien und gestikulieren, wenn sie ihm etwas sagen wollten, denn er trug kein Hörgerät, mochte es nicht tragen, weil es angeblich Nebengeräusche und quälende Hall-Effekte erzeugte. Das machte den Umgang mit ihm sehr anstrengend, und seine Einsamkeit nahm auch innerhalb der Familie zu.

Ich hatte aber stets den Eindruck, dass er zumindest nicht unglücklich war in dieser fraglosen Stille, die sich von Jahr zu Jahr mehr um ihn verdichtete. Am Ende zerarbeitet, früh verrentet und vor Scham darüber schnell zum Alkoholiker geworden, verlangte er nicht viel mehr vom Leben als seine Zeitung und den neuesten Jerry-Cotton-Roman vom Kiosk, und als die Ärzte ihm 1987, gerade war er sechzig geworden, sein baldiges Sterben ankündigten, zeigte er sich kaum bewegt. »An meinen Körper kommt kein Messer«, hatte er schon zu Beginn der Krankheit gesagt, und weder mit dem Rauchen noch mit dem Trinken aufgehört. Er wünschte sich ein wenig öfter als sonst sein Lieblingsgericht, Bratkartoffeln mit Rührei und Spinat, und versteckte den Wodka vor meiner Mutter im Keller, unter den Kohlen. (An der Mauer hing immer noch sein Melkschemel mit dem Lederband und dem gedrechselten Bein.)

Bereits zu seiner Pensionierung hatte ich ihm eine schöne Kladde geschenkt in der Hoffnung, er würde mir sein Leben skizzieren, erwähnenswerte Episoden aus der Zeit vor meiner Geburt; doch sie blieb fast leer. Nur ein paar Wörter hatte er notiert, Stichwörter womöglich, fremd klingende Ortsnamen, und als ich ihn nach dem ersten Blutsturz bat, mir wenigstens jene Wochen im Frühjahr 45 genauer zu beschreiben, winkte er müde ab und sagte mit seiner sonoren, wie aus dem Hohlraum der Taubheit hervorhallenden Stimme: »Wozu denn noch? Hab ich’s dir nicht erzählt? Du bist der Schriftsteller.« Dann kratzte er sich unter dem Hemd, starrte aus dem Fenster und fügte halblaut hinzu: »Hoffentlich ist der Scheiß hier bald vorbei.«

Nicht von ihm gehört zu werden machte uns auch untereinander stumm; tagelang saßen meine Mutter und ich in dem Sterbezimmer, ohne ein Wort zu sprechen. Es war bis in Kopfhöhe lindgrün gestrichen, und über dem Bett hing ein Kunstdruck nach einem Gemälde von Édouard Manet, »Landhaus in Rueil«. Ich mochte das Bild immer gern, nicht nur wegen seiner scheinbar so leichten, fast musikalischen Ausführung und des Sommerlichts, von dem es sanft durchglüht wird, obwohl man nirgends ein Stück Himmel sieht: Die ockerfarbene, von Bäumen, Sträuchern und roten Blumen umwachsene Villa mit dem Säulenportal hat auch eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Herrenhaus jenes Gutes in Norddeutschland, auf dem mein Vater Anfang der vierziger Jahre seine Melkerlehre gemacht hatte. Dort waren sich die Eltern zum ersten Mal begegnet, und in der Kindheit hatte ich ein paar glückliche Ferienwochen in der Nähe verbracht. Verwandte wohnten immer noch am Kanal.

Ein Landhaus der Seele, auf das nun die Abendsonne fiel. Der Plastikrahmen knackte in der letzten Wärme, und meine Mutter, die sich nicht anlehnte auf ihrem Stuhl und der die Handtasche in der Ellenbeuge hing, als wäre sie nur kurz mal zu Besuch beim Tod, stellte die Wasserflasche in den Schatten. Wie immer makellos und mit viel zu viel Haarspray frisiert, trug sie Wildlederpumps und das nachtblaue Kostüm mit den Nadelstreifen, das sie selbst geschneidert hatte, und wenn sie leise seufzte, konnte ich eine Likörfahne riechen.

In den knapp achtzehn Jahren bei meinen Eltern und auch später, während der seltenen Besuche an Weihnachten oder zu Geburtstagen, hatte ich kaum je eine Zärtlichkeit zwischen den beiden gesehen, keine Berührung oder Umarmung, keinen noch so beiläufigen Kuss; eher machte man sich die stets gleichen Vorhaltungen, den Alltagskram betreffend, oder zertrümmerte volltrunken das Mobiliar. Doch nun drückte sie plötzlich ihre Stirn gegen seine und strich über die Hand des zunehmend Verwirrten, flüchtig nur, als schämte sie sich vor ihrem Sohn, und mein Vater öffnete die Augen.

Vom eingewachsenen Kohlenstaub immer noch fein gerändert, waren sie seit Tagen ungewöhnlich groß und klar; wie Perlmutt schimmerten die Skleren, im dunklen Grün der Iris konnte man die braunen Pigmente erkennen, und zitternd hob er einen Finger und sagte: »Habt ihr gehört?«

Einmal abgesehen von seiner Taubheit: Es war vollkommen still, weder durch das Fenster, das auf den blühenden Klinikpark hinausging, noch vom Flur drang ein Laut herein; die reguläre Besuchszeit war zu Ende, das Abendessen längst serviert, das Geschirr vor kurzem abgeräumt worden. Die Nachtschwester hatte bereits ihre Runde gemacht, und meine Mutter schüttelte kaum merklich den Kopf und murmelte: »Ah, jetzt ist er wieder im Krieg.«

Ich fragte nicht, wie sie darauf kam. Allein die Intimität, die in diesem Wissen aufschien, sagte mir, dass es stimmte, und wirklich rief er wenig später »Da!« und blickte hilflos besorgt von einem zum anderen. »Schon wieder! Hört ihr das denn nicht?« Kreisförmig wanderten die Finger über die Brust, rafften das Nachthemd zusammen und glätteten es, wobei er schluckte, und dann sank er aufs Kissen zurück, drehte den Kopf zur Wand und sagte bei geschlossenen Augen: »Die kommen doch immer näher, Mensch! Wenn ich bloß einen Ort für uns wüsste …«

In der Bibel meiner Eltern, einem zerschabten Lederexemplar voller Kassenzettel von Schätzlein, hat jemand einen Vers im Alten Testament angestrichen – nicht mit einem Stift, sondern wahrscheinlich mit dem Finger- oder Daumennagel, und obwohl das in Fraktur gesetzte Buch nun schon Jahrzehnte in meinen Regalen oder Kisten liegt, sieht die Kerbe in dem Dünndruckpapier wie gerade erst eingeritzt aus. »Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben«, heißt es da. »Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.«

In der Dunkelheit hörte man von den Tieren wenig mehr als das Geräusch ihrer...

Erscheint lt. Verlag 20.6.2015
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1945 • Bestseller • Buch des Jahres • Deutscher Buchpreis • Freundschaft • Frieden • Frühling • Krieg • letzte Kriegstage • Loyalität • Roman • Schuld • Soldaten • Spiegel • spiegel bestseller • SPIEGEL-Bestseller • SS • ST 4680 • ST4680 • suhrkamp taschenbuch 4680 • SWR Bestenliste • Ungarn • Verrat • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-518-74115-2 / 3518741152
ISBN-13 978-3-518-74115-3 / 9783518741153
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,3 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99