Du denkst nicht mit dem Kopf allein

Vom geheimen Eigenleben unserer Sinne

(Autor)

Buch | Hardcover
256 Seiten
2015
Campus (Verlag)
978-3-593-39993-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Du denkst nicht mit dem Kopf allein - Thalma Lobel
19,99 inkl. MwSt
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Wer hätte gedacht, dass es von Vorteil ist, wenn im Bewerbungsgespräch der zukünftige Chef eine duftende Tasse Kaffee in der Hand hält? Warum wir einen Verhandlungspartner besser auf einem weichen Stuhl platzieren sollten oder auch, warum wir der Bedienung mehr Trinkgeld geben, wenn sie uns zuvor am Arm berührt hat?

Sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen – unsere Sinne führen ein Leben in Eigenregie und beeinflussen unser Denken und Handeln in einem verblüffenden Ausmaß. Die Autorin Thalma Lobel zeigt anhand zahlreicher Beispiele, wie unsere Sinne uns täglich lenken, und bietet eine Fülle von Erkenntnissen darüber, wie wir diese Wirkungen für uns nutzen können. Begleiten Sie uns auf eine Reise durch das Labyrinth der Sinne.

Thalma Lobel, promovierte Psychologin und Professorin an der Universität Tel Aviv, forscht seit drei Jahrzehnten im Bereich der Verhaltens- und Geschlechterpsychologie. Ihr Buch zeigt erstmals die Verbindung zwischen externen sensorischen Einflüssen und unserem Handeln.

Inhalt

Prolog

Im Labyrinth der Sinne 7

1. Ein Kaffee gefällig? Was die Temperatur mit uns anstellt 15

2. Weichspüler und Kratzbürsten Was Oberflächen und Textur bewirken 31

3. Nehmen Sie nichts auf die leichte Schulter! Wie uns Gewichte manipulieren 47

4. Vorsicht Ampel! Wie die Farbe Rot Ihre Leistung beeinflusst 61

5. Die Dame in Rot Was Farben sexy macht 73

6. Kontrastprogramm. Wo sich Hell und Dunkel unterscheiden 91

7. Der Raum, unendliche Weiten. Körperlicher Abstand und emotionale Distanz 113

8. Groß und mächtig. Wie Höhe und Macht zusammenhängen 129

9. Fort, verdammter Fleck! Schuld, Moral und Sauberkeit 155

10. Die Süße des Erfolgs. Geruch und Geschmack 183

11. Raus aus der Schublade. Wie Sie die physische Intelligenz nutzen können 201

Epilog 219

Anmerkungen 229

Personenregister 243

Sachregister 245

Prolog. Im Labyrinth der Sinne Im Jahr 2005 unternahm ich mit einigen Freunden eine vierwöchige Rundreise durch Guatemala. Der Höhepunkt unseres aufregenden Aufenthalts in dem mittelamerikanischen Land war ein Ausflug zum Nationalpark Tikal, wo wir die Ruinen einer Maya-Stadt besuchten. In Tikal übernachteten wir in kleinen Hütten. Da mein Mann nicht mitgekommen war, hatte ich eine Hütte für mich allein. Um 22 Uhr wurde der Strom abgeschaltet. Ich schlief unruhig und wachte gegen2 Uhr morgens auf. Es war stockdunkel. Ich hatte keine Taschenlampe und kein Handy in Reichweite und sah nichts - absolut nichts. Durch das Fenster schien keine Straßenlaterne, keine Mondsichel, nicht einmal ein Stern. Es war auch nichts zu hören, der Urwald schwieg. Ich war noch nie so nah am völligen Sinnesentzug gewesen. Es war eine ausgesprochen unerfreuliche Erfahrung. Mit dem ersten Morgengrauen zog ich mich an und lief nach draußen. Als ich die Sonnenstrahlen im Gesicht spürte und die Vögel hörte, fühlte ich mich wie neugeboren. Außer mir war noch niemand auf den Beinen. Ich sog die Schönheit und die Farben der Natur in mich ein und freute mich, als eine Gürteltierfamilie an mir vorbeimarschierte. Ich verspürte ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit, der Leere und Dunkelheit der Nacht entkommen zu sein. In diesen wenigen Stunden der völligen Finsternis hatte ich auf eindrückliche Weise den engen Zusammenhang zwischen unseren Sinnen und unserem Gemütszustand erfahren. Ohne Sinneseindrücke könnten wir nicht leben. Doch unsere Sinne können auch mit Reizen überflutet werden, wie dies in Großstädten der Fall ist. Die städtische Umwelt ist ein permanentes Gewusel: hastende Fußgänger, aggressive Autofahrer, donnernde Lastwagen, erstickende Abgase, selbstmörderische Fahrradkuriere, bunte Werbung, die harte Skyline, kochender Asphalt, aneinandergepresste Körper. Ich liebe Städte wie New York, Los Angeles oder meine Heimatstadt Tel Aviv, aber manchmal brauche selbst ich eine Pause. Die meisten anderen Menschen fühlen sich von dieser Reizüberflutung überfordert, weshalb sie die ruhigeren Vororte oder die Natur vorziehen. Zwischen diesen beiden Polen liegt ein breites Spektrum von Sinnesreizen. Der völlige Entzug von Sinneseindrücken ist genauso unangenehm wie die Reizüberflutung. Aber ob wir das wollen oder nicht, wir sind ständig Signalen und Reizen aus unserer Umwelt ausgesetzt. Wir berühren Gegenstände von unterschiedlicher Temperatur und Oberflächenbeschaffenheit, riechen angenehme und unangenehme Gerüche, sehen eine Flut von Farben und heben unterschiedlich schwere Objekte. Einen großen Teil der Welt nehmen wir bewusst über unsere Sinnesorgane wahr. Aber auch unbewusst werden wir auf ganz erstaunliche Weise von diesen Sinneseindrücken beeinflusst. In diesem Buch unternehmen wir einen systematischen Rundgang durch die Wahrnehmungen unserer verschiedenen Sinnesorgane und sehen uns an, wie diese unser Denken und unsere vermeintlich rationalen Entscheidungen beeinflussen, ohne dass wir dies bemerken. Warum stimmt Wärme uns freundlicher und warum beeinträchtigt die Farbe Rot unsere Leistungsfähigkeit? Warum erscheint eine Bewerberin geeigneter, wenn sie ihre Unterlagen in einer schweren Mappe verschickt? Warum fördern saubere Gerüche moralisches Verhalten und warum schummeln wir dennoch eher, wenn wir frisch geduscht sind? So verblüffend diese Zusammenhänge klingen mögen, sie wurden in Experimenten nachgewiesen und in renommierten Fachzeitschriften veröffentlicht. Außerdem eröffnen diese erstaunlichen Tatsachen ein völlig neues Verständnis des menschlichen Denkens. Hier stelle ich diese Ergebnisse erstmals einem breiten Publikum vor. In diesem Buch geht es um die unbewussten Einflüsse unserer Sinneseindrücke auf unser Fühlen, Denken und Handeln. Kaum wahrnehmbare Signale aus unserer Umwelt bestimmen darüber, ob wir gut schlafen, in einer Prüfung durchfallen oder uns verlieben. In Hans Christian Andersens Märchen "Die Prinzessin auf der Erbse" ist nur eine Prinzessin sensibel genug, um eine unter 20 Matratzen versteckte Erbse zu spüren. In Wirklichkeit aber ist jeder von uns außerordentlich empfänglich für die Reize aus unserer Umwelt. Wie die Prinzessin können wir zwar oft nicht sagen, was uns stört, doch dass uns etwas stört, das spüren wir nur zu gut. Viele dieser Effekte sind ausgesprochen kurzlebig, sie flackern irgendwo am Rande unseres Unterbewusstseins auf und bewirken keine dauerhaften Veränderungen. Doch deshalb sind sie keineswegs bedeutungslos. Diese Reize haben nämlich einen erheblichen Einfluss auf unser Verhalten in Verhandlungen, im Unterricht, in Prüfungen oder im Sport. Sie bestimmen, wie wir uns bei einem Rendezvous fühlen oder wie wir in einem Vorstellungsgespräch wahrgenommen werden. Dieses Buch will Ihr Bewusstsein für diese Signale oder "Erbsen" schärfen und Ihnen zeigen, wie sie Ihr Verhalten und das der Menschen in Ihrer Umgebung beeinflussen. Dass die Umwelt gewaltige Auswirkungen auf uns hat, erlebte ich zum ersten Mal im Alter von 18 Jahren. Damals leistete ich meinen Wehrdienst in der israelischen Armee und war in einem unterirdischen Geheimbunker stationiert. Gleichzeitig begann ich mit meinem Psychologiestudium. Ich leistete 48-Stunden-Schichten im Bunker, um dann ans Tageslicht zurückzukehren und in Vorlesungen zu lernen, wie die menschliche Psyche auf Extrembedingungen reagiert. Mit einem gewissen Gefühl der Ironie kehrte ich danach in unser unterirdisches Gefängnis zurück, um erneut 48 Stunden Dienst zu tun. Im Grunde war mein Leben ein Experiment. Im Bunker lebten und arbeiteten wir im Neonlicht, atmeten wieder und wieder dieselbe gefilterte Luft und schliefen in stockdunklen Kämmerchen. Ich verlor jegliches Zeitgefühl. Als Psychologiestudentin konnte ich nicht umhin, bei meiner Rückkehr in den Bunker jede Geste und Marotte meiner Kollegen zu beobachten. Auch wenn ich es noch nicht ahnte, war ich schon damals fasziniert von der Frage, wie wir durch unsere Umwelt geprägt und beeinflusst werden. Die Welt wurde zum Labor. Nach dem Abschluss meines Studiums der Klinischen Psychologie promovierte ich an der Universität Harvard. Ich erforschte den Einfluss von Stereotypen, Persönlichkeitseigenschaften und Kultur auf unser Verhalten. Mein Schwerpunkt waren Geschlechterunterschiede bei Kindern und Erwachsenen. Ich führte aufschlussreiche Experimente durch, veröffentlichte die Ergebnisse in renommierten Fachzeitschriften und liebte meine Arbeit. Im Jahr 2008 stieß ich in der Zeitschrift Science auf einen Artikel von Lawrence Williams und John Bargh.1 Die beiden Wissenschaftler hatten nachgewiesen, dass Versuchsteilnehmer, die eine warme Tasse in der Hand hielten, einen anderen Menschen eher als emotional "warm" wahrnehmen. Diese und andere Untersuchungen kamen mir wie Science Fiction vor, weil sie zeigten, wie unser Denken, unsere Wahrnehmungen und unser Urteil durch subtile Umwelteinflüsse gelenkt werden. Diese Erkenntnisse wirkten elektrisierend auf mich. Sie erinnerten mich daran, mit welcher Faszination ich noch in der Schule eine Einführung in die Psychoanalyse gelesen und entdeckt hatte, wie das Unbewusste auf unsere Psyche und unseren Körper wirkt. Die Geschichten von Patienten, die unter körperlichen Gebrechen wie Lähmungen und Sehstörungen gelitten hatten und durch Gesprächstherapien geheilt wurden, weil sie die unbewussten Ursachen hinter ihren Symptomen entdeckten, hatten mich dazu bewogen, Psychologie zu studieren. Nun stand die Psychologie vor einer neuen Revolution. Mit dem Unterschied, dass diese Untersuchungen im Labor durchgeführt wurden und die Versuchspersonen ganz normale und gesunde Menschen waren. Diese Experimente beschäftigten sich mit alltäglichen Verhaltensweisen, zum Beispiel unserem Umgang mit Freunden, der Beurteilung von Bewerbern und der Einschätzung von zwischenmenschlichen Situationen. Hier ging es nicht um verborgene oder verdrängte Motive, Wünsche und Ängste, die unser Verhalten beeinflussen. Die Wissenschaftler untersuchten vielmehr Sinneseindrücke, die ununterbrochen auf uns einströmen, und die unser Verhalten beeinflussen, ohne dass wir auch nur das Geringste davon mitbekommen. Wahrscheinlich sind Sie wie die meisten Menschen überzeugt davon, dass Sie Ihr Verhalten selbst in der Hand haben. Vielleicht befremdet es Sie also ein wenig zu hören, dass unser Verhalten in Wirklichkeit fortwährend von scheinbar vernachlässigbaren Umweltfaktoren und Sinneseindrücken beeinflusst wird. Diese Erkenntnisse widersprechen unserem gesunden Menschenverstand, und genau das machte sie für mich so faszinierend. Ich beschloss, den Zusammenhang von Körper und Geist zu erforschen, und zwar mithilfe dieses neuen Ansatzes, der sogenannten Theorie des Embodiment, der Körperlichkeit des Denkens. Ich bin in Tel Aviv aufgewachsen, doch die Sommerferien verbrachte ich immer im Kibbuz meiner Tante. Der Kibbuz erschien mir wie ein anderer Planet - es gab kein Telefon, keine Autos, nur endlose Felder und dazwischen ein paar Gehöfte. Auch die Menschen waren anders, vor allem ruhiger, und sie hatten einen ganz anderen Ausdruck im Gesicht. Bei meinen Besuchen beobachtete ich auch an mir selbst Veränderungen. Alle hatten das Gefühl, Teil eines größeren Ganzen zu sein und ein gemeinsames Ziel zu verfolgen, wir waren eher im Einklang mit der Natur, die unser Leben und unseren Tagesablauf prägte. Bei einem meiner Besuche kam mir der Vergleich des Lebens mit einem Segelboot: Wir hatten zwar die Hand am Steuer, doch die unsichtbaren Kräfte der Natur, zum Beispiel der Wind, waren sehr viel wichtiger als alles, was wir taten. Nachdem ich mich mein Leben lang mit der menschlichen Psyche beschäftigt habe, denke ich heute, dass das kleine Mädchen von damals gar nicht so Unrecht hatte. Ununterbrochen wirken Temperaturen, Texturen, Gewichte, Geräusche, Gerüche, Farben und eine ganze Sinfonie von äußeren Eindrücken auf uns ein und beeinflussen uns, ohne dass wir dies bemerken. Wir glauben, dass unser Denken und Handeln allein unserem freien Willen unterliegt, doch in Wirklichkeit wird es in erstaunlichem Maße von unseren Sinneseindrücken beeinflusst und oft sogar von diesen angestoßen. Nach drei Jahrzehnten der Forschung und Lehre fasziniert mich die neue Theorie des Embodiment mehr denn je. Meine Studenten staunen Bauklötze über diese neuen Erkenntnisse, und wenn wir unsere eigenen Experimente entwickeln, erstaunen wir uns selbst. In einer Untersuchung haben wir beispielsweise festgestellt, dass unsere Moralvorstellungen durch Geschmackserlebnisse verändert werden; dabei möchte ich wetten, dass Sie und die meisten anderen Menschen davon ausgehen, dass unsere Moralvorstellungen auf tiefsten inneren Überzeugungen beruhen, die sich nicht durch momentane Sinneswahrnehmungen erschüttern lassen. Zu Beginn dieses Buches werden wir uns ansehen, wie sich die Temperatur auf unsere Stimmung und unsere Entscheidungen auswirkt. Kapitel 1 Ein Kaffee gefällig? Was die Temperatur mit uns anstellt Wenn Sie verheiratet sind oder waren, dann kennen Sie vermutlich eine eiserne Regel der Ehe: Der Mann ist an allem schuld. Ich bin seit 30 Jahren verheiratet, und vor zehn Jahren beschlossen wir, unsere kleine Wohnung in Tel Aviv zu verkaufen. Es war eine moderne und helle Wohnung in der Innenstadt, doch wir waren inzwischen ausgezogen und die Vermietung war kompliziert geworden. Viele Kaufinteressenten sahen sich die Wohnung an, und ein frisch verheiratetes Pärchen kam immer wieder. Zu einer der Besichtigungen brachten die beiden sogar einen Architekten mit, der mit einem Maßband hantierte und jede Ecke vermaß, um Umbauvorschläge zu machen. Die beiden waren offensichtlich sehr interessiert. Seltsamerweise sprachen wir nie über Geld. Israelis sind als zurückhaltende Verhandlungsführer bekannt, weshalb wir schon über Notartermine redeten, obwohl wir uns noch gar nicht auf einen Preis geeinigt hatten. Zur abschließenden Verhandlung trafen wir uns in der Wohnung von gemeinsamen Freunden, um uns bei einer Tasse Tee zu verständigen. Auf der Fahrt dorthin erklärte ich meinem Mann, dass mir das Angebot der beiden zu niedrig erschien und dass ich auf jeden Fall mehr verlangen wollte. Im Kopf ging ich meine Argumente durch, zum Beispiel den Wert der Wohnung, die hervorragende Lage und das Interesse anderer Käufer. Nachdem wir uns an den Tisch gesetzt hatten, schenkten uns die Gastgeber heißen Tee ein, und nach zehn Minuten hatte ich dem Angebot der beiden zugestimmt. Wieder zu Hause, hätte ich mich in den Hintern beißen können. Ich wusste, dass wir mehr bekommen hätten, wenn wir mehr verlangt hätten. Das Pärchen hatte großes Interesse. Warum hatten wir so einfach nachgegeben? Natürlich, mein Mann war schuld. Warum hatte er nicht auf einem höheren Preis bestanden? Warum hatte er einfach so eingelenkt? Vielleicht waren wir das Gezerre ja einfach leid und wollten den Verkauf hinter uns bringen. Vielleicht lag es auch daran, dass uns das Pärchen sympathisch war. Jahre später stellte ich fest, dass vermutlich etwas ganz anderes schuld war: die warme Tasse Tee. Im Jahr 2008 luden Lawrence Williams und John Bargh 41 Studenten zu einem psychologischen Experiment ein. Einer nach dem anderen betraten die Teilnehmer den Eingangsbereich des Gebäudes, wurden dort von einer jungen wissenschaftlichen Mitarbeiterin in Empfang genommen, zum Aufzug gebracht und in ein Labor im vierten Stock des Gebäudes begleitet. Die Mitarbeiterin hatte die Hände voll, sie trug einen Stapel Bücher, ein Klemmbrett und eine Tasse Kaffee. Im Aufzug bat sie die Teilnehmer, kurz ihre Tasse zu halten, damit sie den Namen auf dem Klemmbrett notieren konnte. Diese scheinbar harmlose Bitte war der entscheidende Teil des Experiments. Der Hälfte der Teilnehmer drückte sie eine warme Tasse Kaffee in die Hand, der anderen Hälfte eine Tasse mit Eiskaffee. Damit machten beide Gruppen unterschiedliche Temperaturerfahrungen, ohne zu ahnen, wie wichtig dies für das Experiment sein sollte. Nach dem Verlassen des Aufzugs wurden die Teilnehmer ins Labor geführt und dort von einer anderen Mitarbeiterin in Empfang genommen, die das Experiment durchführte. Sie sollten die Beschreibung einer fiktiven Person A lesen, die als begabt, intelligent, entschlossen, praktisch, tüchtig und vorsichtig beschrieben wurde. Dann sollten sie diese Person nach zehn weiteren Aspekten beurteilen, die nicht in der Beschreibung enthalten waren. Bei der Hälfte handelte es sich um Eigenschaften, die wir mit "warmen" oder "kalten" Persönlichkeiten in Verbindung bringen, zum Beispiel großzügig oder geizig, gutmütig oder jähzornig, gesellig oder abweisend, fürsorglich oder egoistisch. Die übrigen Eigenschaften hatten nichts mit der Wärme oder Kälte einer Persönlichkeit zu tun - es handelte sich zum Beispiel um Gegensatzpaare wie redselig oder wortkarg, stark oder schwach, ehrlich oder unehrlich. An diesem Punkt kommt die Tasse ins Spiel. Teilnehmer, die im Aufzug einige Augenblicke lang eine warme Tasse Kaffee in der Hand gehabt hatten, bewerteten Person A deutlich öfter als großzügig, gutmütig und fürsorglich als die anderen Teilnehmer, die eine kalte Tasse halten sollten. In Fragen, die nichts mit der Wärme oder Kälte einer Persönlichkeit zu tun hatten, fällten sie jedoch mehr oder weniger dasselbe Urteil, unabhängig von der Temperatur der Tasse. Könnte eine so unbedeutende Handlung wie das Halten einer Kaffeetasse in einem Aufzug dafür sorgen, dass wir die Menschen in unserer Umgebung positiver wahrnehmen? Was geht hier aus psychologischer Sicht vor? Die Erkenntnis, dass körperliche Wärme zwischenmenschliche Wärme fördert, war derart überraschend, dass viele Wissenschaftler Zweifel anmeldeten. Doch wie wir gleich sehen werden, beeinflusst die Temperatur nicht nur das Urteil von Versuchsteilnehmern über eine fiktive Person A in einem Text, sondern sie hat auch Auswirkungen darauf, wie wir im wirklichen Leben auf andere Menschen reagieren. Außerdem hat die Temperatur einen Einfluss darauf, wie nah uns ein Mensch erscheint und wie wir unsere Beziehung zu ihm wahrnehmen. Intimität gehört zu jeder Beziehung, auch wenn jeder Mensch ein anderes Maß an Nähe braucht und geben kann. Im Jahr 2009 untersuchten zwei niederländische Wissenschaftler, ob die Temperatur etwas damit zu tun hat, wie wir unsere Beziehung zu anderen Menschen wahrnehmen. Wie im ersten Experiment mit der Kaffeetasse sollten die Teilnehmer warme oder kalte Getränke halten. In diesem Fall bat der durchführende Wissenschaftler den Teilnehmer, seine Tasse einige Minuten lang zu halten, während er so tat, als installiere er einen Fragebogen auf dem Computer. Dann nahm der Wissenschaftler die Tasse wieder an sich und forderte den Teilnehmer auf, an eine reale Person aus seinem persönlichen Umfeld zu denken und die Nähe zu dieser Person einzuschätzen. Versuchspersonen, die eine warme Tasse gehalten hatten, schätzten diese Beziehungen durchweg als emotional enger ein als Versuchspersonen, die eine kalte Tasse gehalten hatten. Das ist umso erstaunlicher, als wir unsere intimen Beziehungen meist für stabil halten - wir würden nicht erwarten, dass unsere Einschätzung von der Temperatur eines Getränks abhängt, das wir zufällig in der Hand halten. Doch unsere Psyche existiert nicht im luftleeren Raum, weshalb unsere Gefühle und Werte durch subtile Veränderungen in unserer Umgebung beeinflusst werden können. Scheinbar völlig irrelevante körperliche und sinnliche Wahrnehmungen schlagen sich auf unseren Gemütszustand nieder, ohne dass wir uns dessen bewusst werden. Die Theorie des Embodiment der physischen Intelligenz geht davon aus, dass unsere Entscheidungen, Verhaltensweisen, Urteile und Gefühle untrennbar mit unseren sinnlich-motorischen Erfahrungen - etwa dem Kontakt mit warmen oder kalten Gegenständen - zusammenhängen. In der Vergangenheit beschäftigte sich die Psychologie mit der Frage, was in unseren Köpfen vorgeht und warum wir bestimmte Fehler machen oder diese und jene Entscheidung treffen. Psychologen untersuchten Ängste, Wünsche, Erinnerungen und Emotionen. Aber was ist mit unserer Umwelt? Vor allem in Situationen, in denen wir Leistungen bringen sollen - etwa im Beruf, in einem Vorstellungsgespräch, einer Prüfung oder einem Sportwettkampf -,entscheiden auch Faktoren außerhalb unseres Kopfs - sprich: die Umwelt - darüber, ob wir Erfolg haben oder nicht. Ausgehend von der Embodiment-Theorie könnten wir beispielsweise untersuchen, wie beim Vorsprechen im Theater scheinbar unbedeutende Faktoren wie die Wärme der Scheinwerfer, die Farbe des Vorhangs oder unscheinbare Logos die Leistung der Schauspieler beeinflussen. Die Embodiment-Forschung geht davon aus, dass die menschliche Psyche nicht losgelöst von der Umwelt betrachtet werden kann und dass die Sinne eine Brücke zwischen der Umwelt und bewussten beziehungsweise unbewussten Denkprozessen sind. Psychologen und Neurowissenschaftler, die auf diesem neuen Gebiet forschen, versuchen zu zeigen, inwieweit Sinneseindrücke unsere psychischen Zustände und Denkprozesse beeinflussen. Diese Verbindungen zwischen Körper und Geist zeigen sich in allem, was wir tun. Lesen Sie den folgenden Satz: In seinem warmen Händedruck war nichts von der Last zu spüren, die er auf seinen Schultern trug, doch er konnte nicht vergessen, dass er sie kaltblütig erschossen hatte und nie wieder mit reinem Gewissen schlafen würde. Mit seinen schiefen sprachlichen Bildern würde dieser Satz zwar keinen Literaturnobelpreis gewinnen, aber sehen wir ihn uns einmal näher an. Die Redewendungen "warmer Händedruck", "Last auf den Schultern", "Kaltblütigkeit" und "reines Gewissen" machen deutlich, dass dieser Zusammenhang zwischen körperlichem Erleben und emotionalem Zustand tief in unserer Sprache verwurzelt ist. Es gibt wohl kaum eine Emotion, die sich nicht mit einer körperlichen Metapher umschreiben ließe: Einsamkeit ist kalt, Schuld wiegt schwer, Grausamkeit ist hart und so weiter. In diesem Buch werden wir sehen, dass dieser Zusammenhang zwischen körperlichen Empfindungen und Emotionen beziehungsweise Verhaltensweisen nicht nur in unseren sprachlichen Bildern existiert, sondern auch in Wirklichkeit. Körperliche Empfindungen wie Wärme, Distanz, Gewicht und viele andere subtile Sinneseindrücke wirken sich auf unser Urteil, unsere Emotionen und unsere Leistung aus. So kompliziert dieser Zusammenhang zwischen physischen Empfindungen und psychischem Erleben auch sein mag, er äußert sich in eindeutiger Weise - etwa in einem Gefühl der Kälte, das aus der Einsamkeit kommt. Eine kalte, einsame Nacht Es ist bekannt, dass sich Temperaturveränderungen auf unsere Stimmung und unser Verhalten niederschlagen. Angenehmes, warmes Wetter hebt die Laune. Hitze hingegen wird mit Aggression und Verbrechen in Verbindung gebracht. In Shakespeares Tragödie Romeo und Julia warnt Benvolio seinen Freund Mercutio vor den Auswirkungen der schwülen Hitze in den Straßen von Verona: Ich bitt dich, Freund, lass uns nach Hause gehn! Der Tag ist heiß, die Capulets sind draußen, Und treffen wir, so gibt es sicher Zank: Denn bei der Hitze tobt das tolle Blut. Wie immer sind die Zusammenhänge etwas komplizierter, doch die Beziehung zwischen Hitze und Leidenschaft ist klar. Klassische Psychologen wehren sich zwar noch gegen diese Erkenntnis, genau wie Hardliner den Klimawandel leugnen, doch es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Umweltfaktoren tiefgreifende Auswirkungen auf unser Fühlen und Denken haben. "Was macht das Wetter?" ist oft nichts anderes als eine Frage nach dem Befinden, und die Antwort auf diese scheinbar harmlose Frage kann einen erheblichen Einfluss auf unser Urteil und unsere Entscheidungen haben. Mein Vater erzählte gern einen Witz: Ein Mann und eine Frau haben seit 15 Jahren eine Beziehung. Eines Tages fragt die Frau: "Meinst du nicht, wir sollten heiraten?" Worauf der Mann antwortet: "Gute Idee! Aber wen? Die Welt ist kalt und herzlos." Natürlich meint die Frau, sie sollten einander heiraten, doch der Mann weist darauf hin, wie schwierig es ist, geeignete Partner zu finden. Wir verweisen oft auf die "Kälte" und "Herzlosigkeit" der Welt, wenn wir Angst haben, große Veränderungen in unserem Leben vorzunehmen und zum Beispiel eine neue Stelle zu suchen oder eine Partnerschaft zu beenden. Wir fürchten uns vor dem, was uns erwartet: einer schwierigen, beängstigenden, einsamen und eben kalten Welt. Eine Freundin erzählte mir einmal eine traurige Geschichte aus ihrer Jugend. Als sie 13 Jahre alt war, freute sie sich darauf, mit ihren beiden besten Freundinnen ins Ferienlager zu fahren. Doch einen Tag vor der Abreise wurde die eine Freundin krank und die Familie der anderen änderte ihre Pläne für den Sommer - plötzlich musste sie allein ins Ferienlager. Als sie mir Jahrzehnte später bei einer warmen Tasse Tee davon erzählte, erinnerte sie sich daran, wie sehr sie diesen Sommer jede Nacht gefroren hatte. Obwohl die Sommer in Israel sehr warm sind, reichte ihr das Laken nicht aus. Viele Sprachen kennen diese Verbindung zwischen Einsamkeit und Kälte, in der Poesie ist sie ein beliebtes Bild. Hätte meine Freundin weniger gefroren, wenn ihre Freundinnen mit von der Partie gewesen wären? Im kanadischen Toronto liegt die Durchschnittstemperatur im Winter weit unter dem Gefrierpunkt. Monatelang kämpfen die Einwohner der Stadt mit Schnee, Eis, Matsch und eisigen Winden. Das perfekte Umfeld für zwei Wissenschaftler von der Universität von Toronto, um den Zusammenhang zwischen Einsamkeit und dem Gefühl der Kälte zu untersuchen. In zwei Experimenten gingen sie der Frage nach, ob sich die Temperatur auf unseren Gemütszustand niederschlägt und ob umgekehrt unser Gemütszustand einen Einfluss auf unsere Wahrnehmung der Temperatur hat. Im ersten Experiment sollten sich 32 Studenten an eine Situation erinnern, in der sie sich ausgeschlossen und einsam gefühlt hatten - eine Party, zu der sie nicht eingeladen wurden, ein Spiel, an dem sie nicht teilnehmen durften, oder Ähnliches. Weitere 32 Studenten sollten sich an eine Situation erinnern, in der sie Teil einer Gruppe waren und zum Beispiel in einen Club aufgenommen wurden oder an einem Spiel teilnahmen. Dann wurde das Experiment scheinbar unterbrochen und die Wissenschaftler erklärten den Teilnehmern, die Hausverwaltung frage, ob die Raumtemperatur in Ordnung sei. Die Studierenden sollten die Temperatur schätzen. Dabei stellte sich heraus, dass die Teilnehmer, die sich an eine Situation des Ausgeschlossenseins erinnerten, den Raum als kälter wahrnahmen als diejenigen, die sich an eine Situation des Dabeiseins erinnerten. Die erste Gruppe schätzte die Raumtemperatur auf durchschnittlich 21,5 Grad Celsius, die zweite auf 24 Grad. Dabei saßen alle in ein und demselben Raum. Die Erinnerung an bestimmte Emotionen wirkt sich also auf körperliche Empfindungen im Hier und Jetzt aus. Selbst wenn wir uns nur an einen Moment der Einsamkeit erinnern, nehmen wir unsere Umgebung als kälter wahr. Die Wissenschaftler wollten es jedoch nicht bei der Erinnerung belassen und die Erfahrung der Einsamkeit im Hier und Jetzt herstellen. Sie entwickelten einen genialen Versuchsaufbau, um die Erfahrung des Ausgeschlossenseins nachzustellen. Dazu ließen sie Studenten an einem virtuellen Ballspiel teilnehmen. Die Teilnehmer spielten online mit drei anderen Spielern - sie ahnten nicht, dass sich hinter diesen anderen Spielern ein "grausames" Programm verbarg, das so angelegt war, dass sich die virtuellen Spieler den "Ball" zuwarfen und den echten Spieler weitgehend ignorierten. Eine zweite Gruppe spielte dasselbe Spiel, doch in diesem Fall war der Computer freundlicher und ließ die realen Spieler mitspielen. Nach diesem Spiel erhielten beide Gruppen einen Marketing-Fragebogen, der scheinbar nichts mit dem Ballspiel zu tun hatte. Auf einer Skala von 1 bis 7 sollten sie bewerten, wie sehr sie sich in diesem Moment einen heißen Kaffee, eine warme Suppe, einen Apfel, ein Gebäckstück oder eine kalte Limonade wünschten. Die Teilnehmer wussten nicht, dass in Wirklichkeit die Auswirkungen der Ausgrenzung während des Computerspiels ermittelt werden sollten. Die Wissenschaftler stellten fest, dass sich die ausgeschlossenen Teilnehmer deutlich häufiger für etwas Warmes entschieden als die übrigen Teilnehmer. Daraus zogen sie den Schluss, dass Einsamkeit als kalt empfunden wird und sich mit Wärme kompensieren lässt. Eine andere Gruppe von Wissenschaftlern bohrte tiefer nach und untersuchte die Auswirkungen der Einsamkeit auf die Oberflächentemperatur der Haut. Sie benutzten dasselbe virtuelle Ballspiel wie im vorigen Experiment und maßen dabei die Hauttemperatur der Fingerspitzen. Dabei stellten sie fest, dass die Hauttemperatur der Teilnehmer, die vom Computer ausgegrenzt wurden, tatsächlich allmählich sank. In einem nächsten Schritt gingen einige Wissenschaftler der Frage nach, ob der Kontakt mit etwas Warmem die Stimmung der Ausgeschlossenen wieder hebt. Wieder teilten sie ihre Teilnehmer in zwei Gruppen ein und ließen sie das virtuelle Ballspiel spielen. Diesmal unterbrach der Computer das Spiel jedoch nach drei Minuten mit einer Fehlermeldung. In diesem Moment kamen zufällig die Wissenschaftler vorbei und hatten eine Tasse mit kaltem oder heißem Tee in der Hand. Die Teilnehmer baten um Unterstützung, und die Wissenschaftler reichten ihnen die Tasse mit der Bitte, sie zu halten, während sie das Programm wieder zum Laufen brachten. Nach dem Spiel sollten die Teilnehmer auf einer Skala von 0 bis 5 angeben, ob sie sich "schlecht", "angespannt", "traurig" oder "gestresst" gefühlt hatten. Wie zu erwarten, fühlten sich die ausgeschlossenen Teilnehmer im Durchschnitt schlechter als die übrigen. Das Erstaunliche war jedoch, dass diejenigen Teilnehmer, die Kontakt mit der kalten Tasse hatten, mehr negative Gefühle hatten. Wer eine warme Tasse in der Hand gehalten hatte, war offenbar auch innerlich gewärmt worden und fühlte sich besser. Unterm Strich zeigen diese Ergebnisse, dass es nicht nur von der objektiven Temperatur abhängt, ob uns warm oder kalt ist, sondern auch von unserem psychischen Zustand. Wenn wir uns einsam fühlen, wenn wir ausgegrenzt werden oder wenn wir uns in einem Raum mit Menschen aufhalten, die unsere Ansichten und Vorlieben nicht teilen, dann hat dies Auswirkungen auf unser körperliches und geistiges Erleben. Selbst wenn wir in einiger Entfernung zu einer Gruppe oder einem Menschen sitzen oder stehen, fühlen wir uns ausgeschlossen und nehmen unsere Umgebung als kälter wahr. Wenn wir uns dagegen angenommen fühlen und die Menschen im Raum unsere Ansichten und Vorlieben teilen oder wenn wir näher bei anderen sitzen, dann nehmen wir den Raum als wärmer wahr. Diese Erkenntnisse haben direkte Auswirkungen auf unseren Alltag und sind von besonderem Interesse für Lehrer und Eltern, die ihren Kindern beim Umgang mit unterschiedlichen Situationen helfen wollen. Viele Kinder und Jugendliche fühlen sich in der Schule einsam und ausgegrenzt, was zu Anpassungsschwierigkeiten führen kann. Wenn wir wissen, dass sich Wärme positiv auf zwischenmenschliche Beziehungen auswirkt, können wir unseren Kindern helfen, die Schule als warm zu empfinden, und dafür sorgen, dass andere Kinder ihnen mit mehr Wärme begegnen. Wenn wir die Raumtemperatur anheben, unsere Kinder ausreichend warm anziehen oder in der Pause Heißgetränke und warmes Essen reichen, kann dies das zwischenmenschliche Klima schon erheblich verbessern. Ein junger Mann erzählte mir, seine Eltern hätten ihn als Jugendlichen in die Psychotherapie geschickt, um ihre Beziehung zu verbessern, doch er habe sich in der Praxis derart unwohl gefühlt, dass er während der ersten vier Monate nicht einmal die Jacke ausgezogen habe. So lange brauchte er, um mit dem Therapeuten warm zu werden. Ich selbst erinnere mich an Partys, bei denen ich niemanden kannte und mich beim Betreten des Raums sehr einsam fühlte. Anderen Gästen schien es ähnlich zu gehen, denn auch sie zogen ihre Jacken nicht aus. Wenn Sie zu einer Party einladen oder eine Sitzung organisieren, dann sorgen Sie dafür, dass im Raum eine angenehme Temperatur herrscht. Wenn Sie zur kalten Jahreszeit vornweg ein warmes Getränk anbieten oder eine heiße Suppe servieren, dann kann das sehr helfen. Einsame Menschen - Menschen in einer neuen, unbekannten Umgebung - benötigen nicht nur seelische, sondern auch körperliche Wärme.

Prolog. Im Labyrinth der Sinne Im Jahr 2005 unternahm ich mit einigen Freunden eine vierwöchige Rundreise durch Guatemala. Der Höhepunkt unseres aufregenden Aufenthalts in dem mittelamerikanischen Land war ein Ausflug zum Nationalpark Tikal, wo wir die Ruinen einer Maya-Stadt besuchten. In Tikal übernachteten wir in kleinen Hütten. Da mein Mann nicht mitgekommen war, hatte ich eine Hütte für mich allein. Um 22 Uhr wurde der Strom abgeschaltet. Ich schlief unruhig und wachte gegen2 Uhr morgens auf. Es war stockdunkel. Ich hatte keine Taschenlampe und kein Handy in Reichweite und sah nichts - absolut nichts. Durch das Fenster schien keine Straßenlaterne, keine Mondsichel, nicht einmal ein Stern. Es war auch nichts zu hören, der Urwald schwieg. Ich war noch nie so nah am völligen Sinnesentzug gewesen. Es war eine ausgesprochen unerfreuliche Erfahrung. Mit dem ersten Morgengrauen zog ich mich an und lief nach draußen. Als ich die Sonnenstrahlen im Gesicht spürte und die Vögel hörte, fühlte ich mich wie neugeboren. Außer mir war noch niemand auf den Beinen. Ich sog die Schönheit und die Farben der Natur in mich ein und freute mich, als eine Gürteltierfamilie an mir vorbeimarschierte. Ich verspürte ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit, der Leere und Dunkelheit der Nacht entkommen zu sein. In diesen wenigen Stunden der völligen Finsternis hatte ich auf eindrückliche Weise den engen Zusammenhang zwischen unseren Sinnen und unserem Gemütszustand erfahren. Ohne Sinneseindrücke könnten wir nicht leben. Doch unsere Sinne können auch mit Reizen überflutet werden, wie dies in Großstädten der Fall ist. Die städtische Umwelt ist ein permanentes Gewusel: hastende Fußgänger, aggressive Autofahrer, donnernde Lastwagen, erstickende Abgase, selbstmörderische Fahrradkuriere, bunte Werbung, die harte Skyline, kochender Asphalt, aneinandergepresste Körper. Ich liebe Städte wie New York, Los Angeles oder meine Heimatstadt Tel Aviv, aber manchmal brauche selbst ich eine Pause. Die meisten anderen Menschen fühlen sich von dieser Reizüberflutung überfordert, weshalb sie die ruhigeren Vororte oder die Natur vorziehen. Zwischen diesen beiden Polen liegt ein breites Spektrum von Sinnesreizen. Der völlige Entzug von Sinneseindrücken ist genauso unangenehm wie die Reizüberflutung. Aber ob wir das wollen oder nicht, wir sind ständig Signalen und Reizen aus unserer Umwelt ausgesetzt. Wir berühren Gegenstände von unterschiedlicher Temperatur und Oberflächenbeschaffenheit, riechen angenehme und unangenehme Gerüche, sehen eine Flut von Farben und heben unterschiedlich schwere Objekte. Einen großen Teil der Welt nehmen wir bewusst über unsere Sinnesorgane wahr. Aber auch unbewusst werden wir auf ganz erstaunliche Weise von diesen Sinneseindrücken beeinflusst. In diesem Buch unternehmen wir einen systematischen Rundgang durch die Wahrnehmungen unserer verschiedenen Sinnesorgane und sehen uns an, wie diese unser Denken und unsere vermeintlich rationalen Entscheidungen beeinflussen, ohne dass wir dies bemerken. Warum stimmt Wärme uns freundlicher und warum beeinträchtigt die Farbe Rot unsere Leistungsfähigkeit? Warum erscheint eine Bewerberin geeigneter, wenn sie ihre Unterlagen in einer schweren Mappe verschickt? Warum fördern saubere Gerüche moralisches Verhalten und warum schummeln wir dennoch eher, wenn wir frisch geduscht sind? So verblüffend diese Zusammenhänge klingen mögen, sie wurden in Experimenten nachgewiesen und in renommierten Fachzeitschriften veröffentlicht. Außerdem eröffnen diese erstaunlichen Tatsachen ein völlig neues Verständnis des menschlichen Denkens. Hier stelle ich diese Ergebnisse erstmals einem breiten Publikum vor. In diesem Buch geht es um die unbewussten Einflüsse unserer Sinneseindrücke auf unser Fühlen, Denken und Handeln. Kaum wahrnehmbare Signale aus unserer Umwelt bestimmen darüber, ob wir gut schlafen, in einer Prüfung durchfallen oder uns verlieben. In Hans Christian Andersens Märchen "Die Prinzessin auf der Erbse" ist nur eine Prinzessin sensibel genug, um eine unter 20 Matratzen versteckte Erbse zu spüren. In Wirklichkeit aber ist jeder von uns außerordentlich empfänglich für die Reize aus unserer Umwelt. Wie die Prinzessin können wir zwar oft nicht sagen, was uns stört, doch dass uns etwas stört, das spüren wir nur zu gut. Viele dieser Effekte sind ausgesprochen kurzlebig, sie flackern irgendwo am Rande unseres Unterbewusstseins auf und bewirken keine dauerhaften Veränderungen. Doch deshalb sind sie keineswegs bedeutungslos. Diese Reize haben nämlich einen erheblichen Einfluss auf unser Verhalten in Verhandlungen, im Unterricht, in Prüfungen oder im Sport. Sie bestimmen, wie wir uns bei einem Rendezvous fühlen oder wie wir in einem Vorstellungsgespräch wahrgenommen werden. Dieses Buch will Ihr Bewusstsein für diese Signale oder "Erbsen" schärfen und Ihnen zeigen, wie sie Ihr Verhalten und das der Menschen in Ihrer Umgebung beeinflussen. Dass die Umwelt gewaltige Auswirkungen auf uns hat, erlebte ich zum ersten Mal im Alter von 18 Jahren. Damals leistete ich meinen Wehrdienst in der israelischen Armee und war in einem unterirdischen Geheimbunker stationiert. Gleichzeitig begann ich mit meinem Psychologiestudium. Ich leistete 48-Stunden-Schichten im Bunker, um dann ans Tageslicht zurückzukehren und in Vorlesungen zu lernen, wie die menschliche Psyche auf Extrembedingungen reagiert. Mit einem gewissen Gefühl der Ironie kehrte ich danach in unser unterirdisches Gefängnis zurück, um erneut 48 Stunden Dienst zu tun. Im Grunde war mein Leben ein Experiment. Im Bunker lebten und arbeiteten wir im Neonlicht, atmeten wieder und wieder dieselbe gefilterte Luft und schliefen in stockdunklen Kämmerchen. Ich verlor jegliches Zeitgefühl. Als Psychologiestudentin konnte ich nicht umhin, bei meiner Rückkehr in den Bunker jede Geste und Marotte meiner Kollegen zu beobachten. Auch wenn ich es noch nicht ahnte, war ich schon damals fasziniert von der Frage, wie wir durch unsere Umwelt geprägt und beeinflusst werden. Die Welt wurde zum Labor. Nach dem Abschluss meines Studiums der Klinischen Psychologie promovierte ich an der Universität Harvard. Ich erforschte den Einfluss von Stereotypen, Persönlichkeitseigenschaften und Kultur auf unser Verhalten. Mein Schwerpunkt waren Geschlechterunterschiede bei Kindern und Erwachsenen. Ich führte aufschlussreiche Experimente durch, veröffentlichte die Ergebnisse in renommierten Fachzeitschriften und liebte meine Arbeit. Im Jahr 2008 stieß ich in der Zeitschrift Science auf einen Artikel von Lawrence Williams und John Bargh.1 Die beiden Wissenschaftler hatten nachgewiesen, dass Versuchsteilnehmer, die eine warme Tasse in der Hand hielten, einen anderen Menschen eher als emotional "warm" wahrnehmen. Diese und andere Untersuchungen kamen mir wie Science Fiction vor, weil sie zeigten, wie unser Denken, unsere Wahrnehmungen und unser Urteil durch subtile Umwelteinflüsse gelenkt werden. Diese Erkenntnisse wirkten elektrisierend auf mich. Sie erinnerten mich daran, mit welcher Faszination ich noch in der Schule eine Einführung in die Psychoanalyse gelesen und entdeckt hatte, wie das Unbewusste auf unsere Psyche und unseren Körper wirkt. Die Geschichten von Patienten, die unter körperlichen Gebrechen wie Lähmungen und Sehstörungen gelitten hatten und durch Gesprächstherapien geheilt wurden, weil sie die unbewussten Ursachen hinter ihren Symptomen entdeckten, hatten mich dazu bewogen, Psychologie zu studieren. Nun stand die Psychologie vor einer neuen Revolution. Mit dem Unterschied, dass diese Untersuchungen im Labor durchgeführt wurden und die Versuchspersonen ganz normale und gesunde Menschen waren. Diese Experimente beschäftigten sich mit alltäglichen Verhaltensweisen, zum Beispiel unserem Umgang mit Freunden, der Beurteilung von Bewerbern und der Einschätzung von zwischenmenschlichen Situationen. Hier ging es nicht um verborgene oder verdrängte Motive, Wünsche und Ängste, die unser Verhalten beeinflussen. Die Wissenschaftler untersuchten vielmehr Sinneseindrücke, die ununterbrochen auf uns einströmen, und die unser Verhalten beeinflussen, ohne dass wir auch nur das Geringste davon mitbekommen. Wahrscheinlich sind Sie wie die meisten Menschen überzeugt davon, dass Sie Ihr Verhalten selbst in der Hand haben. Vielleicht befremdet es Sie also ein wenig zu hören, dass unser Verhalten in Wirklichkeit fortwährend von scheinbar vernachlässigbaren Umweltfaktoren und Sinneseindrücken beeinflusst wird. Diese Erkenntnisse widersprechen unserem gesunden Menschenverstand, und genau das machte sie für mich so faszinierend. Ich beschloss, den Zusammenhang von Körper und Geist zu erforschen, und zwar mithilfe dieses neuen Ansatzes, der sogenannten Theorie des Embodiment, der Körperlichkeit des Denkens. Ich bin in Tel Aviv aufgewachsen, doch die Sommerferien verbrachte ich immer im Kibbuz meiner Tante. Der Kibbuz erschien mir wie ein anderer Planet - es gab kein Telefon, keine Autos, nur endlose Felder und dazwischen ein paar Gehöfte. Auch die Menschen waren anders, vor allem ruhiger, und sie hatten einen ganz anderen Ausdruck im Gesicht. Bei meinen Besuchen beobachtete ich auch an mir selbst Veränderungen. Alle hatten das Gefühl, Teil eines größeren Ganzen zu sein und ein gemeinsames Ziel zu verfolgen, wir waren eher im Einklang mit der Natur, die unser Leben und unseren Tagesablauf prägte. Bei einem meiner Besuche kam mir der Vergleich des Lebens mit einem Segelboot: Wir hatten zwar die Hand am Steuer, doch die unsichtbaren Kräfte der Natur, zum Beispiel der Wind, waren sehr viel wichtiger als alles, was wir taten. Nachdem ich mich mein Leben lang mit der menschlichen Psyche beschäftigt habe, denke ich heute, dass das kleine Mädchen von damals gar nicht so Unrecht hatte. Ununterbrochen wirken Temperaturen, Texturen, Gewichte, Geräusche, Gerüche, Farben und eine ganze Sinfonie von äußeren Eindrücken auf uns ein und beeinflussen uns, ohne dass wir dies bemerken. Wir glauben, dass unser Denken und Handeln allein unserem freien Willen unterliegt, doch in Wirklichkeit wird es in erstaunlichem Maße von unseren Sinneseindrücken beeinflusst und oft sogar von diesen angestoßen. Nach drei Jahrzehnten der Forschung und Lehre fasziniert mich die neue Theorie des Embodiment mehr denn je. Meine Studenten staunen Bauklötze über diese neuen Erkenntnisse, und wenn wir unsere eigenen Experimente entwickeln, erstaunen wir uns selbst. In einer Untersuchung haben wir beispielsweise festgestellt, dass unsere Moralvorstellungen durch Geschmackserlebnisse verändert werden; dabei möchte ich wetten, dass Sie und die meisten anderen Menschen davon ausgehen, dass unsere Moralvorstellungen auf tiefsten inneren Überzeugungen beruhen, die sich nicht durch momentane Sinneswahrnehmungen erschüttern lassen. Zu Beginn dieses Buches werden wir uns ansehen, wie sich die Temperatur auf unsere Stimmung und unsere Entscheidungen auswirkt. Kapitel 1 Ein Kaffee gefällig? Was die Temperatur mit uns anstellt Wenn Sie verheiratet sind oder waren, dann kennen Sie vermutlich eine eiserne Regel der Ehe: Der Mann ist an allem schuld. Ich bin seit 30 Jahren verheiratet, und vor zehn Jahren beschlossen wir, unsere kleine Wohnung in Tel Aviv zu verkaufen. Es war eine moderne und helle Wohnung in der Innenstadt, doch wir waren inzwischen ausgezogen und die Vermietung war kompliziert geworden. Viele Kaufinteressenten sahen sich die Wohnung an, und ein frisch verheiratetes Pärchen kam immer wieder. Zu einer der Besichtigungen brachten die beiden sogar einen Architekten mit, der mit einem Maßband hantierte und jede Ecke vermaß, um Umbauvorschläge zu machen. Die beiden waren offensichtlich sehr interessiert. Seltsamerweise sprachen wir nie über Geld. Israelis sind als zurückhaltende Verhandlungsführer bekannt, weshalb wir schon über Notartermine redeten, obwohl wir uns noch gar nicht auf einen Preis geeinigt hatten. Zur abschließenden Verhandlung trafen wir uns in der Wohnung von gemeinsamen Freunden, um uns bei einer Tasse Tee zu verständigen. Auf der Fahrt dorthin erklärte ich meinem Mann, dass mir das Angebot der beiden zu niedrig erschien und dass ich auf jeden Fall mehr verlangen wollte. Im Kopf ging ich meine Argumente durch, zum Beispiel den Wert der Wohnung, die hervorragende Lage und das Interesse anderer Käufer. Nachdem wir uns an den Tisch gesetzt hatten, schenkten uns die Gastgeber heißen Tee ein, und nach zehn Minuten hatte ich dem Angebot der beiden zugestimmt. Wieder zu Hause, hätte ich mich in den Hintern beißen können. Ich wusste, dass wir mehr bekommen hätten, wenn wir mehr verlangt hätten. Das Pärchen hatte großes Interesse. Warum hatten wir so einfach nachgegeben? Natürlich, mein Mann war schuld. Warum hatte er nicht auf einem höheren Preis bestanden? Warum hatte er einfach so eingelenkt? Vielleicht waren wir das Gezerre ja einfach leid und wollten den Verkauf hinter uns bringen. Vielleicht lag es auch daran, dass uns das Pärchen sympathisch war. Jahre später stellte ich fest, dass vermutlich etwas ganz anderes schuld war: die warme Tasse Tee. Im Jahr 2008 luden Lawrence Williams und John Bargh 41 Studenten zu einem psychologischen Experiment ein. Einer nach dem anderen betraten die Teilnehmer den Eingangsbereich des Gebäudes, wurden dort von einer jungen wissenschaftlichen Mitarbeiterin in Empfang genommen, zum Aufzug gebracht und in ein Labor im vierten Stock des Gebäudes begleitet. Die Mitarbeiterin hatte die Hände voll, sie trug einen Stapel Bücher, ein Klemmbrett und eine Tasse Kaffee. Im Aufzug bat sie die Teilnehmer, kurz ihre Tasse zu halten, damit sie den Namen auf dem Klemmbrett notieren konnte. Diese scheinbar harmlose Bitte war der entscheidende Teil des Experiments. Der Hälfte der Teilnehmer drückte sie eine warme Tasse Kaffee in die Hand, der anderen Hälfte eine Tasse mit Eiskaffee. Damit machten beide Gruppen unterschiedliche Temperaturerfahrungen, ohne zu ahnen, wie wichtig dies für das Experiment sein sollte. Nach dem Verlassen des Aufzugs wurden die Teilnehmer ins Labor geführt und dort von einer anderen Mitarbeiterin in Empfang genommen, die das Experiment durchführte. Sie sollten die Beschreibung einer fiktiven Person A lesen, die als begabt, intelligent, entschlossen, praktisch, tüchtig und vorsichtig beschrieben wurde. Dann sollten sie diese Person nach zehn weiteren Aspekten beurteilen, die nicht in der Beschreibung enthalten waren. Bei der Hälfte handelte es sich um Eigenschaften, die wir mit "warmen" oder "kalten" Persönlichkeiten in Verbindung bringen, zum Beispiel großzügig oder geizig, gutmütig oder jähzornig, gesellig oder abweisend, fürsorglich oder egoistisch. Die übrigen Eigenschaften hatten nichts mit der Wärme oder Kälte einer Persönlichkeit zu tun - es handelte sich zum Beispiel um Gegensatzpaare wie redselig oder wortkarg, stark oder schwach, ehrlich oder unehrlich. An diesem Punkt kommt die Tasse ins Spiel. Teilnehmer, die im Aufzug einige Augenblicke lang eine warme Tasse Kaffee in der Hand gehabt hatten, bewerteten Person A deutlich öfter als großzügig, gutmütig und fürsorglich als die anderen Teilnehmer, die eine kalte Tasse halten sollten. In Fragen, die nichts mit der Wärme oder Kälte einer Persönlichkeit zu tun hatten, fällten sie jedoch mehr oder weniger dasselbe Urteil, unabhängig von der Temperatur der Tasse. Könnte eine so unbedeutende Handlung wie das Halten einer Kaffeetasse in einem Aufzug dafür sorgen, dass wir die Menschen in unserer Umgebung positiver wahrnehmen? Was geht hier aus psychologischer Sicht vor? Die Erkenntnis, dass körperliche Wärme zwischenmenschliche Wärme fördert, war derart überraschend, dass viele Wissenschaftler Zweifel anmeldeten. Doch wie wir gleich sehen werden, beeinflusst die Temperatur nicht nur das Urteil von Versuchsteilnehmern über eine fiktive Person A in einem Text, sondern sie hat auch Auswirkungen darauf, wie wir im wirklichen Leben auf andere Menschen reagieren. Außerdem hat die Temperatur einen Einfluss darauf, wie nah uns ein Mensch erscheint und wie wir unsere Beziehung zu ihm wahrnehmen. Intimität gehört zu jeder Beziehung, auch wenn jeder Mensch ein anderes Maß an Nähe braucht und geben kann. Im Jahr 2009 untersuchten zwei niederländische Wissenschaftler, ob die Temperatur etwas damit zu tun hat, wie wir unsere Beziehung zu anderen Menschen wahrnehmen. Wie im ersten Experiment mit der Kaffeetasse sollten die Teilnehmer warme oder kalte Getränke halten. In diesem Fall bat der durchführende Wissenschaftler den Teilnehmer, seine Tasse einige Minuten lang zu halten, während er so tat, als installiere er einen Fragebogen auf dem Computer. Dann nahm der Wissenschaftler die Tasse wieder an sich und forderte den Teilnehmer auf, an eine reale Person aus seinem persönlichen Umfeld zu denken und die Nähe zu dieser Person einzuschätzen. Versuchspersonen, die eine warme Tasse gehalten hatten, schätzten diese Beziehungen durchweg als emotional enger ein als Versuchspersonen, die eine kalte Tasse gehalten hatten. Das ist umso erstaunlicher, als wir unsere intimen Beziehungen meist für stabil halten - wir würden nicht erwarten, dass unsere Einschätzung von der Temperatur eines Getränks abhängt, das wir zufällig in der Hand halten. Doch unsere Psyche existiert nicht im luftleeren Raum, weshalb unsere Gefühle und Werte durch subtile Veränderungen in unserer Umgebung beeinflusst werden können. Scheinbar völlig irrelevante körperliche und sinnliche Wahrnehmungen schlagen sich auf unseren Gemütszustand nieder, ohne dass wir uns dessen bewusst werden. Die Theorie des Embodiment der physischen Intelligenz geht davon aus, dass unsere Entscheidungen, Verhaltensweisen, Urteile und Gefühle untrennbar mit unseren sinnlich-motorischen Erfahrungen - etwa dem Kontakt mit warmen oder kalten Gegenständen - zusammenhängen. In der Vergangenheit beschäftigte sich die Psychologie mit der Frage, was in unseren Köpfen vorgeht und warum wir bestimmte Fehler machen oder diese und jene Entscheidung treffen. Psychologen untersuchten Ängste, Wünsche, Erinnerungen und Emotionen. Aber was ist mit unserer Umwelt? Vor allem in Situationen, in denen wir Leistungen bringen sollen - etwa im Beruf, in einem Vorstellungsgespräch, einer Prüfung oder einem Sportwettkampf -,entscheiden auch Faktoren außerhalb unseres Kopfs - sprich: die Umwelt - darüber, ob wir Erfolg haben oder nicht. Ausgehend von der Embodiment-Theorie könnten wir beispielsweise untersuchen, wie beim Vorsprechen im Theater scheinbar unbedeutende Faktoren wie die Wärme der Scheinwerfer, die Farbe des Vorhangs oder unscheinbare Logos die Leistung der Schauspieler beeinflussen. Die Embodiment-Forschung geht davon aus, dass die menschliche Psyche nicht losgelöst von der Umwelt betrachtet werden kann und dass die Sinne eine Brücke zwischen der Umwelt und bewussten beziehungsweise unbewussten Denkprozessen sind. Psychologen und Neurowissenschaftler, die auf diesem neuen Gebiet forschen, versuchen zu zeigen, inwieweit Sinneseindrücke unsere psychischen Zustände und Denkprozesse beeinflussen. Diese Verbindungen zwischen Körper und Geist zeigen sich in allem, was wir tun. Lesen Sie den folgenden Satz: In seinem warmen Händedruck war nichts von der Last zu spüren, die er auf seinen Schultern trug, doch er konnte nicht vergessen, dass er sie kaltblütig erschossen hatte und nie wieder mit reinem Gewissen schlafen würde. Mit seinen schiefen sprachlichen Bildern würde dieser Satz zwar keinen Literaturnobelpreis gewinnen, aber sehen wir ihn uns einmal näher an. Die Redewendungen "warmer Händedruck", "Last auf den Schultern", "Kaltblütigkeit" und "reines Gewissen" machen deutlich, dass dieser Zusammenhang zwischen körperlichem Erleben und emotionalem Zustand tief in unserer Sprache verwurzelt ist. Es gibt wohl kaum eine Emotion, die sich nicht mit einer körperlichen Metapher umschreiben ließe: Einsamkeit ist kalt, Schuld wiegt schwer, Grausamkeit ist hart und so weiter. In diesem Buch werden wir sehen, dass dieser Zusammenhang zwischen körperlichen Empfindungen und Emotionen beziehungsweise Verhaltensweisen nicht nur in unseren sprachlichen Bildern existiert, sondern auch in Wirklichkeit. Körperliche Empfindungen wie Wärme, Distanz, Gewicht und viele andere subtile Sinneseindrücke wirken sich auf unser Urteil, unsere Emotionen und unsere Leistung aus. So kompliziert dieser Zusammenhang zwischen physischen Empfindungen und psychischem Erleben auch sein mag, er äußert sich in eindeutiger Weise - etwa in einem Gefühl der Kälte, das aus der Einsamkeit kommt. Eine kalte, einsame Nacht Es ist bekannt, dass sich Temperaturveränderungen auf unsere Stimmung und unser Verhalten niederschlagen. Angenehmes, warmes Wetter hebt die Laune. Hitze hingegen wird mit Aggression und Verbrechen in Verbindung gebracht. In Shakespeares Tragödie Romeo und Julia warnt Benvolio seinen Freund Mercutio vor den Auswirkungen der schwülen Hitze in den Straßen von Verona: Ich bitt dich, Freund, lass uns nach Hause gehn! Der Tag ist heiß, die Capulets sind draußen, Und treffen wir, so gibt es sicher Zank: Denn bei der Hitze tobt das tolle Blut. Wie immer sind die Zusammenhänge etwas komplizierter, doch die Beziehung zwischen Hitze und Leidenschaft ist klar. Klassische Psychologen wehren sich zwar noch gegen diese Erkenntnis, genau wie Hardliner den Klimawandel leugnen, doch es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Umweltfaktoren tiefgreifende Auswirkungen auf unser Fühlen und Denken haben. "Was macht das Wetter?" ist oft nichts anderes als eine Frage nach dem Befinden, und die Antwort auf diese scheinbar harmlose Frage kann einen erheblichen Einfluss auf unser Urteil und unsere Entscheidungen haben. Mein Vater erzählte gern einen Witz: Ein Mann und eine Frau haben seit 15 Jahren eine Beziehung. Eines Tages fragt die Frau: "Meinst du nicht, wir sollten heiraten?" Worauf der Mann antwortet: "Gute Idee! Aber wen? Die Welt ist kalt und herzlos." Natürlich meint die Frau, sie sollten einander heiraten, doch der Mann weist darauf hin, wie schwierig es ist, geeignete Partner zu finden. Wir verweisen oft auf die "Kälte" und "Herzlosigkeit" der Welt, wenn wir Angst haben, große Veränderungen in unserem Leben vorzunehmen und zum Beispiel eine neue Stelle zu suchen oder eine Partnerschaft zu beenden. Wir fürchten uns vor dem, was uns erwartet: einer schwierigen, beängstigenden, einsamen und eben kalten Welt. Eine Freundin erzählte mir einmal eine traurige Geschichte aus ihrer Jugend. Als sie 13 Jahre alt war, freute sie sich darauf, mit ihren beiden besten Freundinnen ins Ferienlager zu fahren. Doch einen Tag vor der Abreise wurde die eine Freundin krank und die Familie der anderen änderte ihre Pläne für den Sommer - plötzlich musste sie allein ins Ferienlager. Als sie mir Jahrzehnte später bei einer warmen Tasse Tee davon erzählte, erinnerte sie sich daran, wie sehr sie diesen Sommer jede Nacht gefroren hatte. Obwohl die Sommer in Israel sehr warm sind, reichte ihr das Laken nicht aus. Viele Sprachen kennen diese Verbindung zwischen Einsamkeit und Kälte, in der Poesie ist sie ein beliebtes Bild. Hätte meine Freundin weniger gefroren, wenn ihre Freundinnen mit von der Partie gewesen wären? Im kanadischen Toronto liegt die Durchschnittstemperatur im Winter weit unter dem Gefrierpunkt. Monatelang kämpfen die Einwohner der Stadt mit Schnee, Eis, Matsch und eisigen Winden. Das perfekte Umfeld für zwei Wissenschaftler von der Universität von Toronto, um den Zusammenhang zwischen Einsamkeit und dem Gefühl der Kälte zu untersuchen. In zwei Experimenten gingen sie der Frage nach, ob sich die Temperatur auf unseren Gemütszustand niederschlägt und ob umgekehrt unser Gemütszustand einen Einfluss auf unsere Wahrnehmung der Temperatur hat. Im ersten Experiment sollten sich 32 Studenten an eine Situation erinnern, in der sie sich ausgeschlossen und einsam gefühlt hatten - eine Party, zu der sie nicht eingeladen wurden, ein Spiel, an dem sie nicht teilnehmen durften, oder Ähnliches. Weitere 32 Studenten sollten sich an eine Situation erinnern, in der sie Teil einer Gruppe waren und zum Beispiel in einen Club aufgenommen wurden oder an einem Spiel teilnahmen. Dann wurde das Experiment scheinbar unterbrochen und die Wissenschaftler erklärten den Teilnehmern, die Hausverwaltung frage, ob die Raumtemperatur in Ordnung sei. Die Studierenden sollten die Temperatur schätzen. Dabei stellte sich heraus, dass die Teilnehmer, die sich an eine Situation des Ausgeschlossenseins erinnerten, den Raum als kälter wahrnahmen als diejenigen, die sich an eine Situation des Dabeiseins erinnerten. Die erste Gruppe schätzte die Raumtemperatur auf durchschnittlich 21,5 Grad Celsius, die zweite auf 24 Grad. Dabei saßen alle in ein und demselben Raum. Die Erinnerung an bestimmte Emotionen wirkt sich also auf körperliche Empfindungen im Hier und Jetzt aus. Selbst wenn wir uns nur an einen Moment der Einsamkeit erinnern, nehmen wir unsere Umgebung als kälter wahr. Die Wissenschaftler wollten es jedoch nicht bei der Erinnerung belassen und die Erfahrung der Einsamkeit im Hier und Jetzt herstellen. Sie entwickelten einen genialen Versuchsaufbau, um die Erfahrung des Ausgeschlossenseins nachzustellen. Dazu ließen sie Studenten an einem virtuellen Ballspiel teilnehmen. Die Teilnehmer spielten online mit drei anderen Spielern - sie ahnten nicht, dass sich hinter diesen anderen Spielern ein "grausames" Programm verbarg, das so angelegt war, dass sich die virtuellen Spieler den "Ball" zuwarfen und den echten Spieler weitgehend ignorierten. Eine zweite Gruppe spielte dasselbe Spiel, doch in diesem Fall war der Computer freundlicher und ließ die realen Spieler mitspielen. Nach diesem Spiel erhielten beide Gruppen einen Marketing-Fragebogen, der scheinbar nichts mit dem Ballspiel zu tun hatte. Auf einer Skala von 1 bis 7 sollten sie bewerten, wie sehr sie sich in diesem Moment einen heißen Kaffee, eine warme Suppe, einen Apfel, ein Gebäckstück oder eine kalte Limonade wünschten. Die Teilnehmer wussten nicht, dass in Wirklichkeit die Auswirkungen der Ausgrenzung während des Computerspiels ermittelt werden sollten. Die Wissenschaftler stellten fest, dass sich die ausgeschlossenen Teilnehmer deutlich häufiger für etwas Warmes entschieden als die übrigen Teilnehmer. Daraus zogen sie den Schluss, dass Einsamkeit als kalt empfunden wird und sich mit Wärme kompensieren lässt. Eine andere Gruppe von Wissenschaftlern bohrte tiefer nach und untersuchte die Auswirkungen der Einsamkeit auf die Oberflächentemperatur der Haut. Sie benutzten dasselbe virtuelle Ballspiel wie im vorigen Experiment und maßen dabei die Hauttemperatur der Fingerspitzen. Dabei stellten sie fest, dass die Hauttemperatur der Teilnehmer, die vom Computer ausgegrenzt wurden, tatsächlich allmählich sank. In einem nächsten Schritt gingen einige Wissenschaftler der Frage nach, ob der Kontakt mit etwas Warmem die Stimmung der Ausgeschlossenen wieder hebt. Wieder teilten sie ihre Teilnehmer in zwei Gruppen ein und ließen sie das virtuelle Ballspiel spielen. Diesmal unterbrach der Computer das Spiel jedoch nach drei Minuten mit einer Fehlermeldung. In diesem Moment kamen zufällig die Wissenschaftler vorbei und hatten eine Tasse mit kaltem oder heißem Tee in der Hand. Die Teilnehmer baten um Unterstützung, und die Wissenschaftler reichten ihnen die Tasse mit der Bitte, sie zu halten, während sie das Programm wieder zum Laufen brachten. Nach dem Spiel sollten die Teilnehmer auf einer Skala von 0 bis 5 angeben, ob sie sich "schlecht", "angespannt", "traurig" oder "gestresst" gefühlt hatten. Wie zu erwarten, fühlten sich die ausgeschlossenen Teilnehmer im Durchschnitt schlechter als die übrigen. Das Erstaunliche war jedoch, dass diejenigen Teilnehmer, die Kontakt mit der kalten Tasse hatten, mehr negative Gefühle hatten. Wer eine warme Tasse in der Hand gehalten hatte, war offenbar auch innerlich gewärmt worden und fühlte sich besser. Unterm Strich zeigen diese Ergebnisse, dass es nicht nur von der objektiven Temperatur abhängt, ob uns warm oder kalt ist, sondern auch von unserem psychischen Zustand. Wenn wir uns einsam fühlen, wenn wir ausgegrenzt werden oder wenn wir uns in einem Raum mit Menschen aufhalten, die unsere Ansichten und Vorlieben nicht teilen, dann hat dies Auswirkungen auf unser körperliches und geistiges Erleben. Selbst wenn wir in einiger Entfernung zu einer Gruppe oder einem Menschen sitzen oder stehen, fühlen wir uns ausgeschlossen und nehmen unsere Umgebung als kälter wahr. Wenn wir uns dagegen angenommen fühlen und die Menschen im Raum unsere Ansichten und Vorlieben teilen oder wenn wir näher bei anderen sitzen, dann nehmen wir den Raum als wärmer wahr. Diese Erkenntnisse haben direkte Auswirkungen auf unseren Alltag und sind von besonderem Interesse für Lehrer und Eltern, die ihren Kindern beim Umgang mit unterschiedlichen Situationen helfen wollen. Viele Kinder und Jugendliche fühlen sich in der Schule einsam und ausgegrenzt, was zu Anpassungsschwierigkeiten führen kann. Wenn wir wissen, dass sich Wärme positiv auf zwischenmenschliche Beziehungen auswirkt, können wir unseren Kindern helfen, die Schule als warm zu empfinden, und dafür sorgen, dass andere Kinder ihnen mit mehr Wärme begegnen. Wenn wir die Raumtemperatur anheben, unsere Kinder ausreichend warm anziehen oder in der Pause Heißgetränke und warmes Essen reichen, kann dies das zwischenmenschliche Klima schon erheblich verbessern. Ein junger Mann erzählte mir, seine Eltern hätten ihn als Jugendlichen in die Psychotherapie geschickt, um ihre Beziehung zu verbessern, doch er habe sich in der Praxis derart unwohl gefühlt, dass er während der ersten vier Monate nicht einmal die Jacke ausgezogen habe. So lange brauchte er, um mit dem Therapeuten warm zu werden. Ich selbst erinnere mich an Partys, bei denen ich niemanden kannte und mich beim Betreten des Raums sehr einsam fühlte. Anderen Gästen schien es ähnlich zu gehen, denn auch sie zogen ihre Jacken nicht aus. Wenn Sie zu einer Party einladen oder eine Sitzung organisieren, dann sorgen Sie dafür, dass im Raum eine angenehme Temperatur herrscht. Wenn Sie zur kalten Jahreszeit vornweg ein warmes Getränk anbieten oder eine heiße Suppe servieren, dann kann das sehr helfen. Einsame Menschen - Menschen in einer neuen, unbekannten Umgebung - benötigen nicht nur seelische, sondern auch körperliche Wärme.

Prolog. Im Labyrinth der Sinne Im Jahr 2005 unternahm ich mit einigen Freunden eine vierwöchige Rundreise durch Guatemala. Der Höhepunkt unseres aufregenden Aufenthalts in dem mittelamerikanischen Land war ein Ausflug zum Nationalpark Tikal, wo wir die Ruinen einer Maya-Stadt besuchten. In Tikal übernachteten wir in kleinen Hütten. Da mein Mann nicht mitgekommen war, hatte ich eine Hütte für mich allein. Um 22 Uhr wurde der Strom abgeschaltet. Ich schlief unruhig und wachte gegen2 Uhr morgens auf. Es war stockdunkel. Ich hatte keine Taschenlampe und kein Handy in Reichweite und sah nichts - absolut nichts. Durch das Fenster schien keine Straßenlaterne, keine Mondsichel, nicht einmal ein Stern. Es war auch nichts zu hören, der Urwald schwieg. Ich war noch nie so nah am völligen Sinnesentzug gewesen. Es war eine ausgesprochen unerfreuliche Erfahrung. Mit dem ersten Morgengrauen zog ich mich an und lief nach draußen. Als ich die Sonnenstrahlen im Gesicht spürte und die Vögel hörte, fühlte ich mich wie neugeboren. Außer mir war noch niemand auf den Beinen. Ich sog die Schönheit und die Farben der Natur in mich ein und freute mich, als eine Gürteltierfamilie an mir vorbeimarschierte. Ich verspürte ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit, der Leere und Dunkelheit der Nacht entkommen zu sein. In diesen wenigen Stunden der völligen Finsternis hatte ich auf eindrückliche Weise den engen Zusammenhang zwischen unseren Sinnen und unserem Gemütszustand erfahren. Ohne Sinneseindrücke könnten wir nicht leben. Doch unsere Sinne können auch mit Reizen überflutet werden, wie dies in Großstädten der Fall ist. Die städtische Umwelt ist ein permanentes Gewusel: hastende Fußgänger, aggressive Autofahrer, donnernde Lastwagen, erstickende Abgase, selbstmörderische Fahrradkuriere, bunte Werbung, die harte Skyline, kochender Asphalt, aneinandergepresste Körper. Ich liebe Städte wie New York, Los Angeles oder meine Heimatstadt Tel Aviv, aber manchmal brauche selbst ich eine Pause. Die meisten anderen Menschen fühlen sich von dieser Reizüberflutung überfordert, weshalb sie die ruhigeren Vororte oder die Natur vorziehen. Zwischen diesen beiden Polen liegt ein breites Spektrum von Sinnesreizen. Der völlige Entzug von Sinneseindrücken ist genauso unangenehm wie die Reizüberflutung. Aber ob wir das wollen oder nicht, wir sind ständig Signalen und Reizen aus unserer Umwelt ausgesetzt. Wir berühren Gegenstände von unterschiedlicher Temperatur und Oberflächenbeschaffenheit, riechen angenehme und unangenehme Gerüche, sehen eine Flut von Farben und heben unterschiedlich schwere Objekte. Einen großen Teil der Welt nehmen wir bewusst über unsere Sinnesorgane wahr. Aber auch unbewusst werden wir auf ganz erstaunliche Weise von diesen Sinneseindrücken beeinflusst. In diesem Buch unternehmen wir einen systematischen Rundgang durch die Wahrnehmungen unserer verschiedenen Sinnesorgane und sehen uns an, wie diese unser Denken und unsere vermeintlich rationalen Entscheidungen beeinflussen, ohne dass wir dies bemerken. Warum stimmt Wärme uns freundlicher und warum beeinträchtigt die Farbe Rot unsere Leistungsfähigkeit? Warum erscheint eine Bewerberin geeigneter, wenn sie ihre Unterlagen in einer schweren Mappe verschickt? Warum fördern saubere Gerüche moralisches Verhalten und warum schummeln wir dennoch eher, wenn wir frisch geduscht sind? So verblüffend diese Zusammenhänge klingen mögen, sie wurden in Experimenten nachgewiesen und in renommierten Fachzeitschriften veröffentlicht. Außerdem eröffnen diese erstaunlichen Tatsachen ein völlig neues Verständnis des menschlichen Denkens. Hier stelle ich diese Ergebnisse erstmals einem breiten Publikum vor. In diesem Buch geht es um die unbewussten Einflüsse unserer Sinneseindrücke auf unser Fühlen, Denken und Handeln. Kaum wahrnehmbare Signale aus unserer Umwelt bestimmen darüber, ob wir gut schlafen, in einer Prüfung durchfallen oder uns verlieben. In Hans Christian Andersens Märchen "Die Prinzessin auf der Erbse" ist nur eine Prinzessin sensibel genug, um eine unter 20 Matratzen versteckte Erbse zu spüren. In Wirklichkeit aber ist jeder von uns außerordentlich empfänglich für die Reize aus unserer Umwelt. Wie die Prinzessin können wir zwar oft nicht sagen, was uns stört, doch dass uns etwas stört, das spüren wir nur zu gut. Viele dieser Effekte sind ausgesprochen kurzlebig, sie flackern irgendwo am Rande unseres Unterbewusstseins auf und bewirken keine dauerhaften Veränderungen. Doch deshalb sind sie keineswegs bedeutungslos. Diese Reize haben nämlich einen erheblichen Einfluss auf unser Verhalten in Verhandlungen, im Unterricht, in Prüfungen oder im Sport. Sie bestimmen, wie wir uns bei einem Rendezvous fühlen oder wie wir in einem Vorstellungsgespräch wahrgenommen werden. Dieses Buch will Ihr Bewusstsein für diese Signale oder "Erbsen" schärfen und Ihnen zeigen, wie sie Ihr Verhalten und das der Menschen in Ihrer Umgebung beeinflussen. Dass die Umwelt gewaltige Auswirkungen auf uns hat, erlebte ich zum ersten Mal im Alter von 18 Jahren. Damals leistete ich meinen Wehrdienst in der israelischen Armee und war in einem unterirdischen Geheimbunker stationiert. Gleichzeitig begann ich mit meinem Psychologiestudium. Ich leistete 48-Stunden-Schichten im Bunker, um dann ans Tageslicht zurückzukehren und in Vorlesungen zu lernen, wie die menschliche Psyche auf Extrembedingungen reagiert. Mit einem gewissen Gefühl der Ironie kehrte ich danach in unser unterirdisches Gefängnis zurück, um erneut 48 Stunden Dienst zu tun. Im Grunde war mein Leben ein Experiment. Im Bunker lebten und arbeiteten wir im Neonlicht, atmeten wieder und wieder dieselbe gefilterte Luft und schliefen in stockdunklen Kämmerchen. Ich verlor jegliches Zeitgefühl. Als Psychologiestudentin konnte ich nicht umhin, bei meiner Rückkehr in den Bunker jede Geste und Marotte meiner Kollegen zu beobachten. Auch wenn ich es noch nicht ahnte, war ich schon damals fasziniert von der Frage, wie wir durch unsere Umwelt geprägt und beeinflusst werden. Die Welt wurde zum Labor. Nach dem Abschluss meines Studiums der Klinischen Psychologie promovierte ich an der Universität Harvard. Ich erforschte den Einfluss von Stereotypen, Persönlichkeitseigenschaften und Kultur auf unser Verhalten. Mein Schwerpunkt waren Geschlechterunterschiede bei Kindern und Erwachsenen. Ich führte aufschlussreiche Experimente durch, veröffentlichte die Ergebnisse in renommierten Fachzeitschriften und liebte meine Arbeit. Im Jahr 2008 stieß ich in der Zeitschrift Science auf einen Artikel von Lawrence Williams und John Bargh.1 Die beiden Wissenschaftler hatten nachgewiesen, dass Versuchsteilnehmer, die eine warme Tasse in der Hand hielten, einen anderen Menschen eher als emotional "warm" wahrnehmen. Diese und andere Untersuchungen kamen mir wie Science Fiction vor, weil sie zeigten, wie unser Denken, unsere Wahrnehmungen und unser Urteil durch subtile Umwelteinflüsse gelenkt werden. Diese Erkenntnisse wirkten elektrisierend auf mich. Sie erinnerten mich daran, mit welcher Faszination ich noch in der Schule eine Einführung in die Psychoanalyse gelesen und entdeckt hatte, wie das Unbewusste auf unsere Psyche und unseren Körper wirkt. Die Geschichten von Patienten, die unter körperlichen Gebrechen wie Lähmungen und Sehstörungen gelitten hatten und durch Gesprächstherapien geheilt wurden, weil sie die unbewussten Ursachen hinter ihren Symptomen entdeckten, hatten mich dazu bewogen, Psychologie zu studieren. Nun stand die Psychologie vor einer neuen Revolution. Mit dem Unterschied, dass diese Untersuchungen im Labor durchgeführt wurden und die Versuchspersonen ganz normale und gesunde Menschen waren. Diese Experimente beschäftigten sich mit alltäglichen Verhaltensweisen, zum Beispiel unserem Umgang mit Freunden, der Beurteilung von Bewerbern und der Einschätzung von zwischenmenschlichen Situationen. Hier ging es nicht um verborgene oder verdrängte Motive, Wünsche und Ängste, die unser Verhalten beeinflussen. Die Wissenschaftler untersuchten vielmehr Sinneseindrücke, die ununterbrochen auf uns einströmen, und die unser Verhalten beeinflussen, ohne dass wir auch nur das Geringste davon mitbekommen. Wahrscheinlich sind Sie wie die meisten Menschen überzeugt davon, dass Sie Ihr Verhalten selbst in der Hand haben. Vielleicht befremdet es Sie also ein wenig zu hören, dass unser Verhalten in Wirklichkeit fortwährend von scheinbar vernachlässigbaren Umweltfaktoren und Sinneseindrücken beeinflusst wird. Diese Erkenntnisse widersprechen unserem gesunden Menschenverstand, und genau das machte sie für mich so faszinierend. Ich beschloss, den Zusammenhang von Körper und Geist zu erforschen, und zwar mithilfe dieses neuen Ansatzes, der sogenannten Theorie des Embodiment, der Körperlichkeit des Denkens. Ich bin in Tel Aviv aufgewachsen, doch die Sommerferien verbrachte ich immer im Kibbuz meiner Tante. Der Kibbuz erschien mir wie ein anderer Planet - es gab kein Telefon, keine Autos, nur endlose Felder und dazwischen ein paar Gehöfte. Auch die Menschen waren anders, vor allem ruhiger, und sie hatten einen ganz anderen Ausdruck im Gesicht. Bei meinen Besuchen beobachtete ich auch an mir selbst Veränderungen. Alle hatten das Gefühl, Teil eines größeren Ganzen zu sein und ein gemeinsames Ziel zu verfolgen, wir waren eher im Einklang mit der Natur, die unser Leben und unseren Tagesablauf prägte. Bei einem meiner Besuche kam mir der Vergleich des Lebens mit einem Segelboot: Wir hatten zwar die Hand am Steuer, doch die unsichtbaren Kräfte der Natur, zum Beispiel der Wind, waren sehr viel wichtiger als alles, was wir taten. Nachdem ich mich mein Leben lang mit der menschlichen Psyche beschäftigt habe, denke ich heute, dass das kleine Mädchen von damals gar nicht so Unrecht hatte. Ununterbrochen wirken Temperaturen, Texturen, Gewichte, Geräusche, Gerüche, Farben und eine ganze Sinfonie von äußeren Eindrücken auf uns ein und beeinflussen uns, ohne dass wir dies bemerken. Wir glauben, dass unser Denken und Handeln allein unserem freien Willen unterliegt, doch in Wirklichkeit wird es in erstaunlichem Maße von unseren Sinneseindrücken beeinflusst und oft sogar von diesen angestoßen. Nach drei Jahrzehnten der Forschung und Lehre fasziniert mich die neue Theorie des Embodiment mehr denn je. Meine Studenten staunen Bauklötze über diese neuen Erkenntnisse, und wenn wir unsere eigenen Experimente entwickeln, erstaunen wir uns selbst. In einer Untersuchung haben wir beispielsweise festgestellt, dass unsere Moralvorstellungen durch Geschmackserlebnisse verändert werden; dabei möchte ich wetten, dass Sie und die meisten anderen Menschen davon ausgehen, dass unsere Moralvorstellungen auf tiefsten inneren Überzeugungen beruhen, die sich nicht durch momentane Sinneswahrnehmungen erschüttern lassen. Zu Beginn dieses Buches werden wir uns ansehen, wie sich die Temperatur auf unsere Stimmung und unsere Entscheidungen auswirkt. Kapitel 1 Ein Kaffee gefällig? Was die Temperatur mit uns anstellt Wenn Sie verheiratet sind oder waren, dann kennen Sie vermutlich eine eiserne Regel der Ehe: Der Mann ist an allem schuld. Ich bin seit 30 Jahren verheiratet, und vor zehn Jahren beschlossen wir, unsere kleine Wohnung in Tel Aviv zu verkaufen. Es war eine moderne und helle Wohnung in der Innenstadt, doch wir waren inzwischen ausgezogen und die Vermietung war kompliziert geworden. Viele Kaufinteressenten sahen sich die Wohnung an, und ein frisch verheiratetes Pärchen kam immer wieder. Zu einer der Besichtigungen brachten die beiden sogar einen Architekten mit, der mit einem Maßband hantierte und jede Ecke vermaß, um Umbauvorschläge zu machen. Die beiden waren offensichtlich sehr interessiert. Seltsamerweise sprachen wir nie über Geld. Israelis sind als zurückhaltende Verhandlungsführer bekannt, weshalb wir schon über Notartermine redeten, obwohl wir uns noch gar nicht auf einen Preis geeinigt hatten. Zur abschließenden Verhandlung trafen wir uns in der Wohnung von gemeinsamen Freunden, um uns bei einer Tasse Tee zu verständigen. Auf der Fahrt dorthin erklärte ich meinem Mann, dass mir das Angebot der beiden zu niedrig erschien und dass ich auf jeden Fall mehr verlangen wollte. Im Kopf ging ich meine Argumente durch, zum Beispiel den Wert der Wohnung, die hervorragende Lage und das Interesse anderer Käufer. Nachdem wir uns an den Tisch gesetzt hatten, schenkten uns die Gastgeber heißen Tee ein, und nach zehn Minuten hatte ich dem Angebot der beiden zugestimmt. Wieder zu Hause, hätte ich mich in den Hintern beißen können. Ich wusste, dass wir mehr bekommen hätten, wenn wir mehr verlangt hätten. Das Pärchen hatte großes Interesse. Warum hatten wir so einfach nachgegeben? Natürlich, mein Mann war schuld. Warum hatte er nicht auf einem höheren Preis bestanden? Warum hatte er einfach so eingelenkt? Vielleicht waren wir das Gezerre ja einfach leid und wollten den Verkauf hinter uns bringen. Vielleicht lag es auch daran, dass uns das Pärchen sympathisch war. Jahre später stellte ich fest, dass vermutlich etwas ganz anderes schuld war: die warme Tasse Tee. Im Jahr 2008 luden Lawrence Williams und John Bargh 41 Studenten zu einem psychologischen Experiment ein. Einer nach dem anderen betraten die Teilnehmer den Eingangsbereich des Gebäudes, wurden dort von einer jungen wissenschaftlichen Mitarbeiterin in Empfang genommen, zum Aufzug gebracht und in ein Labor im vierten Stock des Gebäudes begleitet. Die Mitarbeiterin hatte die Hände voll, sie trug einen Stapel Bücher, ein Klemmbrett und eine Tasse Kaffee. Im Aufzug bat sie die Teilnehmer, kurz ihre Tasse zu halten, damit sie den Namen auf dem Klemmbrett notieren konnte. Diese scheinbar harmlose Bitte war der entscheidende Teil des Experiments. Der Hälfte der Teilnehmer drückte sie eine warme Tasse Kaffee in die Hand, der anderen Hälfte eine Tasse mit Eiskaffee. Damit machten beide Gruppen unterschiedliche Temperaturerfahrungen, ohne zu ahnen, wie wichtig dies für das Experiment sein sollte. Nach dem Verlassen des Aufzugs wurden die Teilnehmer ins Labor geführt und dort von einer anderen Mitarbeiterin in Empfang genommen, die das Experiment durchführte. Sie sollten die Beschreibung einer fiktiven Person A lesen, die als begabt, intelligent, entschlossen, praktisch, tüchtig und vorsichtig beschrieben wurde. Dann sollten sie diese Person nach zehn weiteren Aspekten beurteilen, die nicht in der Beschreibung enthalten waren. Bei der Hälfte handelte es sich um Eigenschaften, die wir mit "warmen" oder "kalten" Persönlichkeiten in Verbindung bringen, zum Beispiel großzügig oder geizig, gutmütig oder jähzornig, gesellig oder abweisend, fürsorglich oder egoistisch. Die übrigen Eigenschaften hatten nichts mit der Wärme oder Kälte einer Persönlichkeit zu tun - es handelte sich zum Beispiel um Gegensatzpaare wie redselig oder wortkarg, stark oder schwach, ehrlich oder unehrlich. An diesem Punkt kommt die Tasse ins Spiel. Teilnehmer, die im Aufzug einige Augenblicke lang eine warme Tasse Kaffee in der Hand gehabt hatten, bewerteten Person A deutlich öfter als großzügig, gutmütig und fürsorglich als die anderen Teilnehmer, die eine kalte Tasse halten sollten. In Fragen, die nichts mit der Wärme oder Kälte einer Persönlichkeit zu tun hatten, fällten sie jedoch mehr oder weniger dasselbe Urteil, unabhängig von der Temperatur der Tasse. Könnte eine so unbedeutende Handlung wie das Halten einer Kaffeetasse in einem Aufzug dafür sorgen, dass wir die Menschen in unserer Umgebung positiver wahrnehmen? Was geht hier aus psychologischer Sicht vor? Die Erkenntnis, dass körperliche Wärme zwischenmenschliche Wärme fördert, war derart überraschend, dass viele Wissenschaftler Zweifel anmeldeten. Doch wie wir gleich sehen werden, beeinflusst die Temperatur nicht nur das Urteil von Versuchsteilnehmern über eine fiktive Person A in einem Text, sondern sie hat auch Auswirkungen darauf, wie wir im wirklichen Leben auf andere Menschen reagieren. Außerdem hat die Temperatur einen Einfluss darauf, wie nah uns ein Mensch erscheint und wie wir unsere Beziehung zu ihm wahrnehmen. Intimität gehört zu jeder Beziehung, auch wenn jeder Mensch ein anderes Maß an Nähe braucht und geben kann. Im Jahr 2009 untersuchten zwei niederländische Wissenschaftler, ob die Temperatur etwas damit zu tun hat, wie wir unsere Beziehung zu anderen Menschen wahrnehmen. Wie im ersten Experiment mit der Kaffeetasse sollten die Teilnehmer warme oder kalte Getränke halten. In diesem Fall bat der durchführende Wissenschaftler den Teilnehmer, seine Tasse einige Minuten lang zu halten, während er so tat, als installiere er einen Fragebogen auf dem Computer. Dann nahm der Wissenschaftler die Tasse wieder an sich und forderte den Teilnehmer auf, an eine reale Person aus seinem persönlichen Umfeld zu denken und die Nähe zu dieser Person einzuschätzen. Versuchspersonen, die eine warme Tasse gehalten hatten, schätzten diese Beziehungen durchweg als emotional enger ein als Versuchspersonen, die eine kalte Tasse gehalten hatten. Das ist umso erstaunlicher, als wir unsere intimen Beziehungen meist für stabil halten - wir würden nicht erwarten, dass unsere Einschätzung von der Temperatur eines Getränks abhängt, das wir zufällig in der Hand halten. Doch unsere Psyche existiert nicht im luftleeren Raum, weshalb unsere Gefühle und Werte durch subtile Veränderungen in unserer Umgebung beeinflusst werden können. Scheinbar völlig irrelevante körperliche und sinnliche Wahrnehmungen schlagen sich auf unseren Gemütszustand nieder, ohne dass wir uns dessen bewusst werden. Die Theorie des Embodiment der physischen Intelligenz geht davon aus, dass unsere Entscheidungen, Verhaltensweisen, Urteile und Gefühle untrennbar mit unseren sinnlich-motorischen Erfahrungen - etwa dem Kontakt mit warmen oder kalten Gegenständen - zusammenhängen. In der Vergangenheit beschäftigte sich die Psychologie mit der Frage, was in unseren Köpfen vorgeht und warum wir bestimmte Fehler machen oder diese und jene Entscheidung treffen. Psychologen untersuchten Ängste, Wünsche, Erinnerungen und Emotionen. Aber was ist mit unserer Umwelt? Vor allem in Situationen, in denen wir Leistungen bringen sollen - etwa im Beruf, in einem Vorstellungsgespräch, einer Prüfung oder einem Sportwettkampf -,entscheiden auch Faktoren außerhalb unseres Kopfs - sprich: die Umwelt - darüber, ob wir Erfolg haben oder nicht. Ausgehend von der Embodiment-Theorie könnten wir beispielsweise untersuchen, wie beim Vorsprechen im Theater scheinbar unbedeutende Faktoren wie die Wärme der Scheinwerfer, die Farbe des Vorhangs oder unscheinbare Logos die Leistung der Schauspieler beeinflussen. Die Embodiment-Forschung geht davon aus, dass die menschliche Psyche nicht losgelöst von der Umwelt betrachtet werden kann und dass die Sinne eine Brücke zwischen der Umwelt und bewussten beziehungsweise unbewussten Denkprozessen sind. Psychologen und Neurowissenschaftler, die auf diesem neuen Gebiet forschen, versuchen zu zeigen, inwieweit Sinneseindrücke unsere psychischen Zustände und Denkprozesse beeinflussen. Diese Verbindungen zwischen Körper und Geist zeigen sich in allem, was wir tun. Lesen Sie den folgenden Satz: In seinem warmen Händedruck war nichts von der Last zu spüren, die er auf seinen Schultern trug, doch er konnte nicht vergessen, dass er sie kaltblütig erschossen hatte und nie wieder mit reinem Gewissen schlafen würde. Mit seinen schiefen sprachlichen Bildern würde dieser Satz zwar keinen Literaturnobelpreis gewinnen, aber sehen wir ihn uns einmal näher an. Die Redewendungen "warmer Händedruck", "Last auf den Schultern", "Kaltblütigkeit" und "reines Gewissen" machen deutlich, dass dieser Zusammenhang zwischen körperlichem Erleben und emotionalem Zustand tief in unserer Sprache verwurzelt ist. Es gibt wohl kaum eine Emotion, die sich nicht mit einer körperlichen Metapher umschreiben ließe: Einsamkeit ist kalt, Schuld wiegt schwer, Grausamkeit ist hart und so weiter. In diesem Buch werden wir sehen, dass dieser Zusammenhang zwischen körperlichen Empfindungen und Emotionen beziehungsweise Verhaltensweisen nicht nur in unseren sprachlichen Bildern existiert, sondern auch in Wirklichkeit. Körperliche Empfindungen wie Wärme, Distanz, Gewicht und viele andere subtile Sinneseindrücke wirken sich auf unser Urteil, unsere Emotionen und unsere Leistung aus. So kompliziert dieser Zusammenhang zwischen physischen Empfindungen und psychischem Erleben auch sein mag, er äußert sich in eindeutiger Weise - etwa in einem Gefühl der Kälte, das aus der Einsamkeit kommt. Eine kalte, einsame Nacht Es ist bekannt, dass sich Temperaturveränderungen auf unsere Stimmung und unser Verhalten niederschlagen. Angenehmes, warmes Wetter hebt die Laune. Hitze hingegen wird mit Aggression und Verbrechen in Verbindung gebracht. In Shakespeares Tragödie Romeo und Julia warnt Benvolio seinen Freund Mercutio vor den Auswirkungen der schwülen Hitze in den Straßen von Verona: Ich bitt dich, Freund, lass uns nach Hause gehn! Der Tag ist heiß, die Capulets sind draußen, Und treffen wir, so gibt es sicher Zank: Denn bei der Hitze tobt das tolle Blut. Wie immer sind die Zusammenhänge etwas komplizierter, doch die Beziehung zwischen Hitze und Leidenschaft ist klar. Klassische Psychologen wehren sich zwar noch gegen diese Erkenntnis, genau wie Hardliner den Klimawandel leugnen, doch es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Umweltfaktoren tiefgreifende Auswirkungen auf unser Fühlen und Denken haben. "Was macht das Wetter?" ist oft nichts anderes als eine Frage nach dem Befinden, und die Antwort auf diese scheinbar harmlose Frage kann einen erheblichen Einfluss auf unser Urteil und unsere Entscheidungen haben. Mein Vater erzählte gern einen Witz: Ein Mann und eine Frau haben seit 15 Jahren eine Beziehung. Eines Tages fragt die Frau: "Meinst du nicht, wir sollten heiraten?" Worauf der Mann antwortet: "Gute Idee! Aber wen? Die Welt ist kalt und herzlos." Natürlich meint die Frau, sie sollten einander heiraten, doch der Mann weist darauf hin, wie schwierig es ist, geeignete Partner zu finden. Wir verweisen oft auf die "Kälte" und "Herzlosigkeit" der Welt, wenn wir Angst haben, große Veränderungen in unserem Leben vorzunehmen und zum Beispiel eine neue Stelle zu suchen oder eine Partnerschaft zu beenden. Wir fürchten uns vor dem, was uns erwartet: einer schwierigen, beängstigenden, einsamen und eben kalten Welt. Eine Freundin erzählte mir einmal eine traurige Geschichte aus ihrer Jugend. Als sie 13 Jahre alt war, freute sie sich darauf, mit ihren beiden besten Freundinnen ins Ferienlager zu fahren. Doch einen Tag vor der Abreise wurde die eine Freundin krank und die Familie der anderen änderte ihre Pläne für den Sommer - plötzlich musste sie allein ins Ferienlager. Als sie mir Jahrzehnte später bei einer warmen Tasse Tee davon erzählte, erinnerte sie sich daran, wie sehr sie diesen Sommer jede Nacht gefroren hatte. Obwohl die Sommer in Israel sehr warm sind, reichte ihr das Laken nicht aus. Viele Sprachen kennen diese Verbindung zwischen Einsamkeit und Kälte, in der Poesie ist sie ein beliebtes Bild. Hätte meine Freundin weniger gefroren, wenn ihre Freundinnen mit von der Partie gewesen wären? Im kanadischen Toronto liegt die Durchschnittstemperatur im Winter weit unter dem Gefrierpunkt. Monatelang kämpfen die Einwohner der Stadt mit Schnee, Eis, Matsch und eisigen Winden. Das perfekte Umfeld für zwei Wissenschaftler von der Universität von Toronto, um den Zusammenhang zwischen Einsamkeit und dem Gefühl der Kälte zu untersuchen. In zwei Experimenten gingen sie der Frage nach, ob sich die Temperatur auf unseren Gemütszustand niederschlägt und ob umgekehrt unser Gemütszustand einen Einfluss auf unsere Wahrnehmung der Temperatur hat. Im ersten Experiment sollten sich 32 Studenten an eine Situation erinnern, in der sie sich ausgeschlossen und einsam gefühlt hatten - eine Party, zu der sie nicht eingeladen wurden, ein Spiel, an dem sie nicht teilnehmen durften, oder Ähnliches. Weitere 32 Studenten sollten sich an eine Situation erinnern, in der sie Teil einer Gruppe waren und zum Beispiel in einen Club aufgenommen wurden oder an einem Spiel teilnahmen. Dann wurde das Experiment scheinbar unterbrochen und die Wissenschaftler erklärten den Teilnehmern, die Hausverwaltung frage, ob die Raumtemperatur in Ordnung sei. Die Studierenden sollten die Temperatur schätzen. Dabei stellte sich heraus, dass die Teilnehmer, die sich an eine Situation des Ausgeschlossenseins erinnerten, den Raum als kälter wahrnahmen als diejenigen, die sich an eine Situation des Dabeiseins erinnerten. Die erste Gruppe schätzte die Raumtemperatur auf durchschnittlich 21,5 Grad Celsius, die zweite auf 24 Grad. Dabei saßen alle in ein und demselben Raum. Die Erinnerung an bestimmte Emotionen wirkt sich also auf körperliche Empfindungen im Hier und Jetzt aus. Selbst wenn wir uns nur an einen Moment der Einsamkeit erinnern, nehmen wir unsere Umgebung als kälter wahr. Die Wissenschaftler wollten es jedoch nicht bei der Erinnerung belassen und die Erfahrung der Einsamkeit im Hier und Jetzt herstellen. Sie entwickelten einen genialen Versuchsaufbau, um die Erfahrung des Ausgeschlossenseins nachzustellen. Dazu ließen sie Studenten an einem virtuellen Ballspiel teilnehmen. Die Teilnehmer spielten online mit drei anderen Spielern - sie ahnten nicht, dass sich hinter diesen anderen Spielern ein "grausames" Programm verbarg, das so angelegt war, dass sich die virtuellen Spieler den "Ball" zuwarfen und den echten Spieler weitgehend ignorierten. Eine zweite Gruppe spielte dasselbe Spiel, doch in diesem Fall war der Computer freundlicher und ließ die realen Spieler mitspielen. Nach diesem Spiel erhielten beide Gruppen einen Marketing-Fragebogen, der scheinbar nichts mit dem Ballspiel zu tun hatte. Auf einer Skala von 1 bis 7 sollten sie bewerten, wie sehr sie sich in diesem Moment einen heißen Kaffee, eine warme Suppe, einen Apfel, ein Gebäckstück oder eine kalte Limonade wünschten. Die Teilnehmer wussten nicht, dass in Wirklichkeit die Auswirkungen der Ausgrenzung während des Computerspiels ermittelt werden sollten. Die Wissenschaftler stellten fest, dass sich die ausgeschlossenen Teilnehmer deutlich häufiger für etwas Warmes entschieden als die übrigen Teilnehmer. Daraus zogen sie den Schluss, dass Einsamkeit als kalt empfunden wird und sich mit Wärme kompensieren lässt. Eine andere Gruppe von Wissenschaftlern bohrte tiefer nach und untersuchte die Auswirkungen der Einsamkeit auf die Oberflächentemperatur der Haut. Sie benutzten dasselbe virtuelle Ballspiel wie im vorigen Experiment und maßen dabei die Hauttemperatur der Fingerspitzen. Dabei stellten sie fest, dass die Hauttemperatur der Teilnehmer, die vom Computer ausgegrenzt wurden, tatsächlich allmählich sank. In einem nächsten Schritt gingen einige Wissenschaftler der Frage nach, ob der Kontakt mit etwas Warmem die Stimmung der Ausgeschlossenen wieder hebt. Wieder teilten sie ihre Teilnehmer in zwei Gruppen ein und ließen sie das virtuelle Ballspiel spielen. Diesmal unterbrach der Computer das Spiel jedoch nach drei Minuten mit einer Fehlermeldung. In diesem Moment kamen zufällig die Wissenschaftler vorbei und hatten eine Tasse mit kaltem oder heißem Tee in der Hand. Die Teilnehmer baten um Unterstützung, und die Wissenschaftler reichten ihnen die Tasse mit der Bitte, sie zu halten, während sie das Programm wieder zum Laufen brachten. Nach dem Spiel sollten die Teilnehmer auf einer Skala von 0 bis 5 angeben, ob sie sich "schlecht", "angespannt", "traurig" oder "gestresst" gefühlt hatten. Wie zu erwarten, fühlten sich die ausgeschlossenen Teilnehmer im Durchschnitt schlechter als die übrigen. Das Erstaunliche war jedoch, dass diejenigen Teilnehmer, die Kontakt mit der kalten Tasse hatten, mehr negative Gefühle hatten. Wer eine warme Tasse in der Hand gehalten hatte, war offenbar auch innerlich gewärmt worden und fühlte sich besser. Unterm Strich zeigen diese Ergebnisse, dass es nicht nur von der objektiven Temperatur abhängt, ob uns warm oder kalt ist, sondern auch von unserem psychischen Zustand. Wenn wir uns einsam fühlen, wenn wir ausgegrenzt werden oder wenn wir uns in einem Raum mit Menschen aufhalten, die unsere Ansichten und Vorlieben nicht teilen, dann hat dies Auswirkungen auf unser körperliches und geistiges Erleben. Selbst wenn wir in einiger Entfernung zu einer Gruppe oder einem Menschen sitzen oder stehen, fühlen wir uns ausgeschlossen und nehmen unsere Umgebung als kälter wahr. Wenn wir uns dagegen angenommen fühlen und die Menschen im Raum unsere Ansichten und Vorlieben teilen oder wenn wir näher bei anderen sitzen, dann nehmen wir den Raum als wärmer wahr. Diese Erkenntnisse haben direkte Auswirkungen auf unseren Alltag und sind von besonderem Interesse für Lehrer und Eltern, die ihren Kindern beim Umgang mit unterschiedlichen Situationen helfen wollen. Viele Kinder und Jugendliche fühlen sich in der Schule einsam und ausgegrenzt, was zu Anpassungsschwierigkeiten führen kann. Wenn wir wissen, dass sich Wärme positiv auf zwischenmenschliche Beziehungen auswirkt, können wir unseren Kindern helfen, die Schule als warm zu empfinden, und dafür sorgen, dass andere Kinder ihnen mit mehr Wärme begegnen. Wenn wir die Raumtemperatur anheben, unsere Kinder ausreichend warm anziehen oder in der Pause Heißgetränke und warmes Essen reichen, kann dies das zwischenmenschliche Klima schon erheblich verbessern. Ein junger Mann erzählte mir, seine Eltern hätten ihn als Jugendlichen in die Psychotherapie geschickt, um ihre Beziehung zu verbessern, doch er habe sich in der Praxis derart unwohl gefühlt, dass er während der ersten vier Monate nicht einmal die Jacke ausgezogen habe. So lange brauchte er, um mit dem Therapeuten warm zu werden. Ich selbst erinnere mich an Partys, bei denen ich niemanden kannte und mich beim Betreten des Raums sehr einsam fühlte. Anderen Gästen schien es ähnlich zu gehen, denn auch sie zogen ihre Jacken nicht aus. Wenn Sie zu einer Party einladen oder eine Sitzung organisieren, dann sorgen Sie dafür, dass im Raum eine angenehme Temperatur herrscht. Wenn Sie zur kalten Jahreszeit vornweg ein warmes Getränk anbieten oder eine heiße Suppe servieren, dann kann das sehr helfen. Einsame Menschen - Menschen in einer neuen, unbekannten Umgebung - benötigen nicht nur seelische, sondern auch körperliche Wärme.

Erscheint lt. Verlag 9.2.2015
Übersetzer Jürgen Neubauer
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Original-Titel Outside In (AT)
Maße 135 x 215 mm
Gewicht 485 g
Einbandart gebunden
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Naturwissenschaft
Geisteswissenschaften Psychologie Sozialpsychologie
Naturwissenschaften
Schlagworte Anmutung • Attention Economy • Aufmerksamkeitsforschung • Aufmerksamkeitsökonomie • Beeinflussung • Behaviorismus • Behaviour • Behavioural science • Behavioural theory • brain research • Denken • Emotion • Emotionale Wirkung • Emotionalität • Emotionality • Emotionsmanagement • Emotionstheorie • Emotion theory • Gefühl • Gehirn • Gehirnforschung • Gestaltpsychologie • Handlungstheorie • Hirnforschung • human behaviour • Illusion • Liebe • Love • Manipulation • Menschliches Verhalten • Neurobiologie • Neurologie • Neuroscience • Neurowissenschaft • Neurowissenschaften • perception • Psyche • Psychologie • Psychologischer Aspekt • Psychologische Theorie • Psychology • Seele • Senses • Sentiment • Sinne • Sinnesorgan • Sinnestäuschung • Stimmung • Täuschung • Theoretische Psychologie • Trick • Verfahrenstrick • Verhalten • Verhaltensbiologie • Verhaltensforschung • Verhaltenstheorie • Verhaltensweise • Verhaltenswissenschaft • Wahrnehmung • Wahrnehmungsmessung • Wahrnehmungspsychologie • Zustandsmanagementtricks
ISBN-10 3-593-39993-8 / 3593399938
ISBN-13 978-3-593-39993-5 / 9783593399935
Zustand Neuware
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