Kritik der schwarzen Vernunft (eBook)

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2014 | 1. Auflage
332 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73848-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kritik der schwarzen Vernunft -  Achille Mbembe
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Der globale Kapitalismus hat seit seiner Entstehung immer schon nicht nur Waren, sondern auch »Rassen« und »Spezies« produziert. Ihm liegt ein rassistisches Denken, eine »schwarze Vernunft« zugrunde, wie der große afrikanische Philosoph und Vordenker des Postkolonialismus Achille Mbembe in seinem brillanten und mitreißenden Buch zeigt. Der sich unaufhaltsam ausbreitende Kapitalismus neoliberaler Spielart überträgt die Figur des »Negers« nun auf die gesamte »subalterne Menschheit«. In diesem Prozess des »Schwarzwerdens der Welt«, so die radikale Kritik Mbembes, bilden auch Europa und seine Bürger mittlerweile nur noch eine weitere Provinz im weltumspannenden Imperium dieses Kapitalismus.

<p>Achille Mbembe, geboren 1957, ist ein kamerunischer Historiker und politischer Philosoph. Er z&auml;hlt zu den Vordenkern des Postkolonialismus. Mbembe lehrt nach Stationen an der Columbia University, der University of California in Berkeley, der Yale University und der Duke University heute an der University of the Witwatersrand in Johannesburg. F&uuml;r sein Buch <em>Kritik der schwarzen Vernunft</em> wurde Mbembe 2015 mit dem 36. Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet.</p>

27Erstes Kapitel

Das Rassensubjekt

Es wird also im Folgenden um die schwarze Vernunft gehen. Dieser mehrdeutige und polemische Ausdruck soll mehrere Dinge bedeuten: Gestalten des Wissens; ein Ausbeutungs- und Ausraubungsmodell; ein Paradigma der Unterwerfung und der Modalitäten ihrer Überwindung; und schließlich einen psychischen Traumkomplex. Dieser große Käfig, in Wirklichkeit ein komplexes Netz aus Spaltungen, Unsicherheiten und Mehrdeutigkeiten, hat die Rasse zur Grundlage.

Über die Rasse (oder den Rassismus) kann man nur in einer fatal unzureichenden, grauen, also unangemessenen Sprache sprechen. Für den Augenblick genügt der Hinweis, dass sie eine Form urwüchsiger Darstellung ist. Da sie nicht zwischen Innerem und Äußerem, zwischen den Hüllen und ihrem Inhalt zu unterscheiden vermag, verweist sie in erster Linie auf Oberflächenbilder. In ihrem Tiefenbezug ist die Rasse sodann ein perverser Komplex, der Ängste und Qualen, Verwirrungen des Denkens und Schrecken, aber vor allem unendliches Leid und Katastrophen herbeiführt. In ihrer phantasmagorischen Dimension ist sie eine Gestalt der wahnhaften und gelegentlich auch hysterischen Phobie. Ansonsten ist sie das, was sich seiner selbst versichert, indem es hasst, Schrecken verbreitet, mordet, das heißt, den Anderen nicht als Seinesgleichen, sondern als ein bedrohliches Objekt konstituiert, vor dem man sich schützen, das man loswerden oder, da man keine vollständige Herrschaft darüber erlangen kann, einfach vernichten muss.26 Aber wie 28Frantz Fanon anmerkt, ist Rasse auch der Name, den man dem bitteren Ressentiment geben muss, dem unwiderstehlichen Drang nach Rache, also dem Zorn derer, die unter dem Joch der Unterdrückung allzu oft gezwungen sind, unzählige Beleidigungen, alle erdenklichen Arten von Gewalt und Demütigung und zahllose Verletzungen hinzunehmen.27 Wir werden in diesem Buch daher nach dem Charakter dieses Ressentiments fragen und uns dabei vor Augen führen, was die Rasse ausmacht, ihre gleichermaßen reale und fiktive Tiefe, die Beziehungen, in denen sie sich ausdrückt, und was sie in jenem Vorgang bewirkt, bei dem die menschliche Person zu einer Sache, einem Objekt oder einer Ware aufgelöst wird, wie es historisch bei den Menschen afrikanischer Herkunft der Fall war.28

Fabulieren und Abschließung des Geistes

Der Rückgriff auf das Konzept der Rasse, zumindest wie hier skizziert, mag erstaunen. Schließlich existiert die Rasse nicht als natürliche physische, anthropologische oder genetische Tatsache.29 Aber sie ist nicht bloß eine nützliche 29Fiktion, ein phantastisches Konstrukt oder eine ideologische Projektion, deren Funktion darin besteht, die Aufmerksamkeit von ansonsten als ernsthaft eingestuften Konflikten – vom Klassenkampf oder vom Kampf der Geschlechter – abzulenken. In vielen Fällen ist sie eine autonome Gestalt der Realität, deren Kraft und Dichte sich auf ihren beweglichen, unbeständigen, wechselhaften Charakter zurückführen lässt. Außerdem gründete die Welt vor gar nicht allzu langer Zeit in einem Urdualismus, der seine Rechtfertigung seinerseits teilweise im alten Mythos rassischer Überlegenheit fand.30 In ihrem gierigen Bedürfnis nach Mythen, die ihre Macht begründen konnten, hielt die westliche Hemisphäre sich für das Zentrum der Welt, für die Heimat der Vernunft, des universellen Lebens und der menschlichen Wahrheit. Als »zivilisierteste« Region der Erde hatte allein der Westen ein Ius gentium erfunden. Nur ihm war es gelungen, eine Zivilgesellschaft der Nationen zu schaffen, verstanden als eine öffentliche Sphäre gegenseitiger Rechte. Nur er hatte eine Idee des Menschen als Träger bürgerlicher und politischer 30Rechte hervorgebracht, die es dem Menschen ermöglichten, seine privaten und öffentlichen Fähigkeiten zu entwickeln, als Person, als Bürger und Angehöriger des Menschengeschlechts, den als solchen alles Menschliche betraf. Nur er hatte ein Spektrum menschlicher Gebräuche kodifiziert, das diplomatische Rituale, die öffentliche Moral und die guten Sitten sowie die Techniken des Handels, der Religion und der Regierung umfasste.

Der Rest – Gestalten des Andersartigen, der Differenz und der reinen Macht des Negativen – war Ausdruck des Objektseins schlechthin. Afrika im Allgemeinen und der Neger im Besonderen wurden als perfekte Symbole dieses pflanzlichen und beschränkten Lebens dargestellt. Als jede Gestalt überschreitende und deshalb grundsätzlich nicht darstellbare Gestalt galt insbesondere der Neger als perfektes Beispiel dieses intensiv von der Leere bearbeiteten Andersseins, dessen Negativ am Ende alle Momente des Daseins durchdrungen hatte – Tod des Lichts, Zerstörung und Untergang, namenlose Nacht der Welt.31 Über solche Gestalten sagte Hegel, sie seien Statuen ohne Sprache und Selbstbewusstsein; menschliche Wesen, die unfähig seien, sich endgültig von der Tiergestalt zu befreien, mit der sie vermengt waren; im Grunde liege es in ihrer Natur, etwas in sich zu bergen, das bereits tot sei.

Solche Gestalten seien das Kennzeichen »vereinzelter ungeselliger Völkergeister, die in ihrem Hasse sich auf den Tod bekämpfen«, sich nach Art der Tiere zerfleischen und vernichten – eine noch schwankende Art von Menschheit, die Menschwerden und Tierwerden miteinander vermenge und letztlich ein Selbstbewusstsein »ohne Allgemein31heit« besitze.32 Andere räumten – barmherziger – ein, dass solche Wesen nicht gänzlich ohne Menschlichkeit seien. Diese noch im Schlaf liegende Menschheit habe sich noch nicht an das Abenteuer der von Paul Valéry so genannten »unüberbrückbaren Kluft« gewagt. Es sei aber möglich, sie auf unseren Stand zu erheben. Diese Bürde gebe uns jedoch keineswegs das Recht, ihre Unterlegenheit auszunutzen. Vielmehr erwachse uns daraus eine Pflicht – nämlich ihr zu helfen und sie zu schützen.33 Genau das mache das koloniale Unternehmen zu einem zutiefst »zivilisatorischen« und »humanitären« Werk, und die unvermeidlich damit verbundene Gewalt könne nur moralischer Natur sein.34

Das heißt, der europäische Diskurs, der wissenschaftliche wie der volkstümliche, griff in der Art, ferne Welten zu denken, zu klassifizieren und zu imaginieren, häufig auf Verfahren des Fabulierens zurück. Indem er vielfach erfundene Tatsachen als real, sicher und exakt darstellte, umging er die Sache, die er zu erfassen vorgab, und nahm selbst dann ein zutiefst von Phantasien geprägtes Verhältnis zu ihr ein, wenn er den Anspruch auf eine objektive Darstellung erhob. Die wichtigsten Merkmale dieses phantasierten Verhältnisses sind bislang noch keineswegs geklärt, aber die Verfahren, mit deren Hilfe die Fabulierarbeit Gestalt annehmen konnte, und die Gewalt, zu der sie führte, sind inzwischen hinreichend bekannt. Hier kann man heute nur noch wenig hinzufügen. Wenn es jedoch ein Objekt und einen Ort gibt, an denen dieses 32Phantasieverhältnis und die zugrunde liegende Fiktionsökonomie am brutalsten, klarsten und deutlichsten zutage treten, so ist es dieses Zeichen, das man den Neger nennt, und indirekt auch dieser scheinbar aus der Welt gefallene Ort namens Afrika, dessen Besonderheit darin besteht, dass es keine Gattungsbezeichnung und erst recht kein Eigenname ist, sondern ein Hinweis auf die Abwesenheit eines Werkes.

Gewiss, nicht alle Neger sind Afrikaner, und nicht alle Afrikaner sind Neger. Aber es hat kaum Bedeutung, wo sie sind. Als Objekte des Diskurses und der Erkenntnis haben Afrika und der Neger seit dem Beginn der Moderne die Theorie des Namens wie auch Stellung und Funktion des Zeichens und der Darstellung in eine tiefe Krise gestürzt. Dasselbe gilt für das Verhältnis zwischen Sein und Erscheinung, Wahrheit und Irrtum, Vernunft und Unvernunft, ja sogar Sprache und Leben. Wenn es um die Neger und Afrika ging, drehte sich die ruinierte und entleerte Vernunft tatsächlich immer wieder um sich selbst und stürzte sich häufig in einen scheinbar unzugänglichen Raum, in dem die niedergestreckte Sprache und selbst die Worte kein Gedächtnis mehr besaßen. Die üblichen Funktionen der Sprache waren erloschen, und sie verwandelte sich in eine phantastische Maschine, deren Kraft zugleich auf ihrem volkssprachlichen Charakter, einer fürchterlichen Verletzungsmacht und ihrer grenzenlosen Verbreitung basierte. Auch heute noch steht das Wort, wenn es um diese beiden Bezeichnungen geht, nicht immer für die Sache; wahr und falsch lassen sich nicht voneinander trennen, und die Bedeutung des Zeichens ist nicht immer der bezeichneten Sache angemessen. Das Zeichen ist kein bloßer Ersatz für die Sache. Wort oder Bild haben oft nur wenig über die objektive Welt zu sagen. Die Welt der Worte und Zeichen hat solch eine 33Autonomie erlangt, dass sie nicht mehr nur ein Schirm für jegliche Erfassung des Subjekts, seines Lebens und seiner Entstehungsbedingungen ist, sondern eine eigenständige Kraft, die sich von jeglicher Verankerung in der Realität zu befreien vermag. Dass dies so ist, muss zu einem ganz beträchtlichen Teil dem Gesetz der Rasse zugeschrieben werden.

Es wäre ein Irrtum, wenn man meinte, wir hätten endgültig jenes Regime hinter uns gelassen, dessen Urszenen der Handel mit Negersklaven und dann die Plantagen- oder Bergbaukolonie darstellten. In diesem Taufbecken unserer Moderne setzte man zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte das Prinzip der Rasse und das Subjekt gleichen Namens unter dem Zeichen des Kapitals an die...

Erscheint lt. Verlag 10.11.2014
Übersetzer Michael Bischoff
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Critique de la raison nègre
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Politische Theorie
Schlagworte Black History Month • Kapitalismus • Kapitalismuskritik • Kritik • Rassismus • spiegel bestseller • Spiegelbestseller • SPIEGEL-Bestseller • STW 2205 • STW2205 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2205
ISBN-10 3-518-73848-8 / 3518738488
ISBN-13 978-3-518-73848-1 / 9783518738481
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