Meister der Dämmerung

Peter Handke. Eine Biografie

(Autor)

Buch | Hardcover
368 Seiten
2010 | 2. Auflage
DVA (Verlag)
978-3-421-04449-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Meister der Dämmerung - Malte Herwig
22,99 inkl. MwSt
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Handke ganz persönlich - die erste umfassende Biografie
Peter Handke ist einer der umstrittensten und produktivsten Autoren der Gegenwart. Sein Bild in der Öffentlichkeit ist von Extremen geprägt: Hohepriester der Kunst, einsamer Mönch, Serbenfreund. Wie viel Wahrheit steckt hinter diesen Bildern? Auch sein Leben erscheint als ständige Gratwanderung zwischen Extremen: zwischen Einsamkeit und Liebe, Menschenscheu und Ruhmsucht, Sprache und Politik, Traum und Welt.
Der Journalist und Literaturwissenschaftler Malte Herwig legt die tief ins Leben reichenden Wurzeln dieses Werks bloß wie kein Biograf zuvor. Er führte lange Gespräche mit dem Dichter, dessen Verwandten, Weggefährten und Kontrahenten, und er erhielt Einsicht in Handkes Notizbücher und Korrespondenz. Eine aufschlussreiche und kontroverse Biografie - so kontrovers wie Handke selbst.

Malte Herwig, geboren 1972 in Kassel, studierte Germanistik, Geschichte und Politik in Mainz, Harvard und Oxford, wo er 2002 mit einer Arbeit über Thomas Mann promovierte. Er war mehrere Jahre Redakteur im Kulturressort des Spiegel und lebt heute als freier Journalist in Hamburg. Seine Reportagen und Essays erscheinen in Die Zeit, Weltwoche und New York Times. Für sein Buch über Thomas Mann, Bildungsbürger auf Abwegen, erhielt er 2004 den erstmals gestifteten Thomas-Mann-Förderpreis.

»Herwig weiß den gewaltigen Stoff spannend zu bündeln und formuliert glänzend« FAZ (06.11.2010)

»Höchst informativ und luzide verfasst ist diese Biografie dennoch ein wichtiger Anhaltspunkt für alle, die sich eingehender mit der Person Peter Handke beschäftigen wollen. Ausführliche Gespräche mit Freunden und Weggefährten gewähren einen persönlichen Einblick in den Werdegang Handkes, wie es ihn zuvor nicht gab.«
literaturkritik.de, 03.03.2011

»Ein Muss für jeden Handke-Anhänger, aber auch all jenen LeserInnen zu empfehlen, die mehr über einen außerordentlich komplexen Menschen mit all seinen Stärken und Schwächen wissen wollen.« Bn, 1/11

»Malte Herwig hat mit dem Autor zusammengearbeitet, aber dennoch eine solide Distanz gehalten, die es ihm erlaubt, auch die Brüche der Dichterexistenz zu benennen.« St. Galler Tagblatt, 21.01.2011

»Malte Herwig zeichnet die aktive Passivität des Jura-Studenten Handke in Graz einschließlich seiner Radiofeuilletons detailreich nach, ebenso den Aufstieg zu einer Art Popstar der Literatur seit den späten 1960er Jahren.« Süddeutsche Zeitung, 18.11.2010

»Wer Handke nur als den skandalisierten Autor der Feuilletons und Kulturnachrichten kennt, wird nach der Lektüre dieses Buches ein anderes Bild vor Augen haben.« Rotary Magazin, 12/10

»Malte Herwig bleibt selbst so etwas wie ein Meister der Dämmerung, obwohl sein Buch in manch anderer Hinsicht auch ein Meilenstein für spätere Handke-Biografen sein wird.« Frankfurter Neue Presse, 15.11.2010

»Malte Herwigs brillante Biografie, die heute erscheint, spürt diesen Wurzeln in Handkes Leben und Werk nach und fördert Erstaunliches zutage.« Sächsische Zeitung (09.11.2010)

»Seine stringent voranschreitende, wohlformulierte, mit Spaß und hohem Gewinn zu lesende Biographie setzt einen Autor ins Licht, der unter Hochspannung steht.« Augsburger Allgemeine (08.11.2010)

»Peter Handke hat seinen Biographen gefunden« Falter (03.11.2010)

»Ein Buch, das weder ketzerisch ist, noch bloße Ehrerbietung. Es ist ein kluges Spiel der Fragen, zurückhaltend und von adäquater Sensibilität.« Die Welt (06.11.2010)

»Das Porträt eines Dr. Jeckyll und Mr. Hyde ... eminent lesbar.« Der Tagesspiegel (08.11.2010)

»Herausragend geschrieben ... der Abenteuerroman vom Innenleben des Dichters« Kurier (07.11.2010)

Vorwort Alles ist Verwandlung. Wer die Biographie eines Künstlers schreibt, noch dazu eines lebenden, sollte sich eine Neugier auf die Metamorphosen bewahren, die zwischen Kunst und Welt hin- und herführen. Er darf die literarischen Masken nicht weniger ernst nehmen als die Gesichter seiner Gesprächspartner - die sich ja wiederum als Masken entpuppen können. Natürlich gibt es die üblichen Daten, die aktenkundig geworden sind. Aber ein Lebenslauf ist noch keine Biographie, so wie ein Baugerüst kein Haus und ein Skelett kein Mensch aus Fleisch und Blut ist. »Wenn ich nachdenke, was ich bisher in meinem Dasein erlebt habe«, schreibt Handke in seinem Roman "Mein Jahr in der Niemandsbucht", »dann war das weder der Krieg in der Kindheit, noch die Flucht aus dem Russendeutschland heim nach Österreich, noch das jugendlange Eingesperrtsein ins Internat, noch, nach den vielen Fiebrigkeiten, jene erste ruhige Zeile, bei der ich wußte, ich war nun auf dem Weg, noch das Zusammensein mit einer Frau oder meinem Kind, sondern allein jene Verwandlung.« Es gibt wenige Autoren, die ihr Leben so radikal nach ihrer Berufung ausgerichtet haben wie Peter Handke. Ein Schriftsteller formt nicht nur ein Werk, er wird auch von ihm geformt, so wie ein Gesetz zwar nicht den Naturzustand einer Gesellschaft beschreibt, aber dennoch ihre Geschicke beeinflußt. Peter Handke hat seiner als chaotisch und unsicher empfundenen Existenz schon früh ein Gesetz gegeben, indem er zu schreiben anfing. Wenn er jemals seine Autobiographie schreiben würde, erzählte Handke mir einmal, dann würde er sie "Betrachtungen meiner Irrtümer" nennen. Nicht falsche Bescheidenheit oder Koketterie verbirgt sich hinter diesem Titel, sondern der Wunsch nach Selbsterkenntnis - vielleicht der stärkste Antrieb zum Schreiben überhaupt. So darf sich auch der Biograph nicht davon leiten lassen, was angenehm, vorteilhaft oder wünschenswert an seiner Geschichte sein kann. Sondern er muß vorurteilslos lesen und recherchieren. Was auf den folgenden Seiten steht, ist folglich nichts als die Wahrheit. Die Aufgabe des Biographen ist es, das Leben in seinen Höhen und Tiefen zu zeigen und den Verwandlungen nachzuspüren. Vollständig und abschließend kann so ein Werk im Leben nie werden und muß es auch nicht. Aber der Biograph sollte etwas Wesentlichem auf der Spur sein. Seine Neugier muß dem Menschen mit Haut und Haaren gelten, dem »full man«, wie ein englischer Autor einmal schrieb. Ein Urteil fällen können dann andere. Peter Handke hat diese Voraussetzung sofort akzeptiert, als ich ihm von meinem Plan erzählte, ein Buch über ihn zu schreiben. Handke hat mir mehrere Jahre lang immer wieder Zugang zu Briefen, Familiendokumenten, seinen Tagebüchern und anderen Aufzeichnungen gewährt und war zu zahlreichen Gesprächen bereit. Er hat mir den Kontakt zu seinen Freunden ermöglicht und den zu seinen Gegnern akzeptiert. Von gelegentlichen Nachfragen abgesehen (»Haben Sie immer noch nicht aufgegeben?« - »Geht Ihnen das Geld nicht aus?«), hat er nie versucht, auf den Fortgang des Projekts Einfluß zu nehmen. Wer über einen lebenden Künstler schreibt, hat vor allem eine Pflicht: nah dran zu sein - als genauer Leser wie als Beobachter und Befrager. Gleichzeitig gilt es, Distanz zu wahren. Man darf nicht eingreifen ins Geschehen und sich auch nicht gemein machen mit den Beteiligten. Doch ohne Sympathie wäre der Stoff des Biographen schon zu Lebzeiten tot. »Natürlich will ein Künstler nicht bewundert, sondern in treusorgender Ironie betrachtet werden«, hat Peter Handke in den Phantasien der Wiederholung geschrieben. Daran habe ich mich gehalten. M. H. Hamburg, im Juli 2010 KAPITEL 1 KRIEG Vorspiel im Gasthaus Klagenfurt, im Frühling 1942. Die junge Maria Siutz genießt das Stadtleben. Für sie bedeutet es die große Freiheit: Tagsüber die Arbeit in einem Hotel. Danach tanzen, sich unterhalten, lustig sein bis in die späten Nachtstunden. Seit drei Jahren tobt der Krieg, aber hier merkt man nicht viel davon. Die Hakenkreuzfahnen spiegeln sich im Wörthersee, die Führerstimme im Volksempfänger hat noch etwas Beruhigendes, und an Wochenenden herrscht wogendes Gedränge auf dem Adolf-Hitler-Platz. Maria geht auf in der neuen Volksgemeinschaft. Sie hat nie verstanden, warum der Vater und die Brüder so stolz sind auf ihre slowenischen Vorfahren. Heimatlose Tagelöhner, Knechte, Wanderarbeiter - eine schöne Ahnengalerie ist das! Nein, sie mußte raus aus dem kleinen Grenzdorf Griffen, wo sie sich bei der Landarbeit die Hände wund scheuerte und keine Zukunft hatte. Die Zukunft gehört den Deutschen, das hat sie immer wieder gehört seit 1938. Ganz Kärnten ist deutsch. Sogar an den Bauernhäusern hängen Spruchbänder mit der Aufschrift »Ein Volk, ein Reich, ein Führer«. In den Stuben mahnen Plakate: »Der Kärntner spricht Deutsch.« Slowenisch, die Sprache von Marias Vorfahren, ist seit dem »Anschluß« Österreichs an Hitlerdeutschland verboten. An diesem Frühlingsabend hätte Maria ohnehin nicht slowenisch gesprochen. Sie hat sich fein herausgeputzt und ist ein bißchen aufgeregt, als sie in die Paradeisergasse einbiegt und das Hotel Tigerwirt betritt. Der alte Gasthof ist ein beliebter Treffpunkt der gehobenen Klagenfurter Gesellschaft. Hier sitzen Stadtverordnete und Wehrmachtsoffiziere, Geschäftsleute und Liebespaare. Auch die Hauptfunktionäre des Kärntner Heimatdienstes sind hier nach 1918 zusammengekommen, um den »Abwehrkampf« gegen den neu entstandenen Staat der Jugoslawen zu organisieren. Maria hat keine Berührungsängste. Und kaum öffnet sie die Tür zur Gaststube, springt einer der dort Sitzenden schon auf: der deutsche Wehrmachtssoldat, der ihr immer so schöne Komplimente macht. Erich Schönemann ist kleiner als sie, fast kahlköpfig, dreizehn Jahre älter - und verheiratet. Es gäbe viele Gründe für die zweiundzwanzig jährige Maria Siutz, auf dem Absatz kehrtzumachen und in das Leben zurückzukehren, das ihr bestimmt zu sein scheint. Ein archaisches Leben, in dem Achtung vor den »vollendeten Tatsachen« herrscht: vor Geburt, Heirat, Schwangerschaft, Dorfleben und Tod. Dahinter keine Welt. Was für ein Gegensatz tut sich auf, wenn sie die Familie auf dem Dorf besucht. Neben der städtisch-elegant gekleideten Maria sieht die ältere Schwester fast wie eine Schweinemagd aus - und schimpft auch so: »Während ich im Stroh hinter dem Ziegenstall übernachte, kugelst du mit dem reichsdeutschen Ziegenbock im Tigerwirt durchs Doppelbett.« Bereitet es Maria kein schlechtes Gewissen, die Nächte mit einem deutschen Soldaten zu verbringen, während die Sippe daheim auf dem winzigen Hof schuftet? Nein, sie will sich von niemandem mehr etwas sagen lassen. Nur noch von ihm, dem Heißgeliebten. Erich Schönemann gibt sich weltmännisch; der fesche Offizier stellt etwas dar, ist Zahlmeister der Kompanie. Wenn sie die Kartoffeln mit dem Messer zerschneidet, rügt er ihren Mangel an Etikette. Im Frieden - wie lang ist das her - war er Sparkassenangestellter. Im Krieg hat er bisher Glück gehabt, nur einmal ist er im Lazarett gelandet - wegen Hämorrhoiden. Sie machen gemeinsam Ausflüge in die Umgebung, er schenkt ihr Parfüm und ein charmantes Lächeln. Daheim in Norddeutschland wartet die Ehefrau mit dem neugeborenen Kind. Ist Maria sich nicht bewußt, worauf sie sich einläßt? Die Nächte im Tigerwirt bleiben nicht ohne Folgen. Noch bevor Erich Schönemann sich an die heimatliche Ehefront verabschiedet, stellt Maria fest, daß sie von ihm schwanger ist. Welch Grazie! Welch Hoheit! Ein Schrei gellt durch die niedrige, dürftige Stube. Ganz und gar nicht der Schrei eines Neugeborenen, sondern einer, der wie aus dem Innern eines Grabes schallt. Die Landhebamme Anna Menne hält das Kind der Maria Siutz in den Händen, die vor kurzem geheiratet hat und nun offiziell Maria Handke heißt. Wütend brüllt der Knabe, als empöre es ihn, daß gerade er auf so einer Welt, in so einer Hütte geboren wurde. Sogar von der Straße kommen die Leute herbeigelaufen, um das außergewöhnliche Kind zu bestaunen: Welch Grazie! Welch Hoheit! Der Sohn, den Maria am Nikolaustag 1942 um 18.45 Uhr in ihrem Elternhaus Altenmarkt Nr. 25, Marktgemeinde Griffen, auf die Welt bringt, verweigert von Anfang an die Muttermilch. Arm von Geburt, wird er durch seinen Weltekel geadelt. Aus den dunklen Augen in seinem Engelsgesicht wird das Kind finstere Blicke auf die Menschen werfen. Dämonen haben seine Geburt begleitet - keine echten, sondern als Teufel verkleidete Dorfbewohner, die nach altem Brauch am Vorabend des Nikolaustags mit Gerassel und Gebrüll um die Häuser ziehen. Höllenlärm als Wiegenlied: Noch heute glaubt der Schriftsteller Peter Handke, »daß mein Grundschrecken von den Stunden vor der Geburt herrührt, wo diese Teufel, die als Teufel verkleideten Typen, mit den Ketten und Ruten durch das Dorf gegangen sind und alles niedergemacht und gebrüllt haben«8. Der Nikolauskobold, der Krampus, ist »eine innere Hebamme. Innen hat er beigetragen zu meiner entsetzlichen Schreckhaftigkeit, die wiederum nix mit Angst zu tun hat. Ich bin, glaube ich, kein ängstlicher Mensch. Aber es genügt mir irgendein Geräusch.« Der Junge wird im nahe gelegenen Stift Griffen auf den Namen Peter getauft. Der im Geburtsregister als Taufpate eingetragene Onkel Gregor Siutz steht als Wehrmachtssoldat im Feld und wird durch seine Schwester Ursula vertreten. Seinen Nachnamen verdankt der Täufling dem aus Berlin stammenden Unteroffizier Adolf Bruno Handke, den die Mutter am 4. November im Stift Griffen geheiratet hat. Bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr wird der Junge nicht erfahren, wer sein leiblicher Vater ist. Ein einziges Mal hat sich ein fremdes Gesicht über das sechs Monate alte Kind gebeugt und es »mit seltsamen Gedanken« angesehen. Dann ist Erich Schönemann für achtzehn Jahre aus dem Leben des jungen Peter verschwunden, dem die Mutter erst spät und auf sein Drängen hin die Wahrheit erzählt. Peter Handke: Schon dieser Name sagt etwas über die Grundspannung aus, die sich durch sein Leben und Werk zieht - über das ewige Gefühl von Unbehaustheit, das ihn zu einem Wanderer zwischen den Welten macht. Seit Generationen, berichtet der Erzähler in "Die Wiederholung" (1986), sei bei seinen slowenischen Vorfahren jeder Erstgeborene auf den Namen Gregor getauft worden. Das trifft auf Handkes Großvater, den 1886 geborenen Gregor Siutz, ebenso zu wie auf den 1913 geborenen ältesten Bruder seiner Mutter, den verhinderten Taufpaten. Der Junge hingegen erhält den Vornamen Peter. Wenn es Zufall ist, dann jedenfalls ein passender, daß der in eine arme Familie mit slawischen Wurzeln Geborene den gleichen Vornamen trägt wie der im Exil lebende jugoslawische König Peter II. Und »Handke«? Peter Handkes Bücher haben diesen Namen zum Inbegriff österreichischer Literatur von Weltrang gemacht. Aber während es in ganz Österreich kaum mehr als ein Dutzend Handkes gibt, verzeichnet allein das Berliner Telefonbuch über achtzig. Bereits sein »deutscher« Nachname machte Peter Handke im Kärntner Dorf Griffen zu einem Außenseiter. In einer Welt gezeugt, in einer anderen Welt geboren: Ein Kind des Überschwangs und der Freiheit oder eine Ausgeburt der Wollust? Schreibt der Autor von seiner Kindheit, ist oft von einem Fluch die Rede, der auf der Familie lastet. In Handkes 2010 erschienenem Werk "Immer noch Sturm", einem Theaterstück über seine Familie und die Kärntner Partisanen im Zweiten Weltkrieg, steht bereits die Zeugung des den Autor vertretenden Ichs unter einem Unstern. Nachdem der jüngste Bruder der Mutter im Krieg gefallen ist und sie von einem deutschen Soldaten geschwängert wurde, verflucht ihr Vater Deutschland: »Und verflucht sei der deutsche Liebeswurm in deinem Liebesbauch. Verflucht sei die Frucht deines Leibes.« Als die beiden älteren Brüder der Mutter auf Fronturlaub nach Hause kommen, beschimpfen sie das Kuckuckskind als »Winzling, Vorform des großen Feinds, des Usurpators. Familienfeind - Volksfeind. Heraus aus der Wiege - in die Hundehütte mit dem Bankert.« Die Passage zeigt, wie der Dichter aus den ungewöhnlichen Umständen seiner Geburt Inspiration zieht. In Immer noch Sturm ist es der Makel der deutschen Abstammung, der das Ich unter den stolzen Slowenen in seiner Familie zum Fremdling macht. In Die Wiederholung erforscht der Ich-Erzähler die slowenischen Wurzeln seiner Familie, auf welche diese aber nicht stolz ist, sondern die sie mit Armut und Niedergang assoziiert. Es ist keine Überraschung, daß sich Handke in seinen erdachten Rollen immer wieder auf die Seite der Aussätzigen und Verfemten schlägt. Die Figur des Außenseiters ist für die Literatur der Moderne grundlegend, und erst recht für das Werk eines Autors wie Handke, der am eigenen Leib erfahren hat, was es bedeutet, Außenseiter zu sein. Es gibt heute kaum einen anderen Schriftsteller, der sich immer wieder derart intensiv mit der Erinnerung an sich selbst, an die eigene Vergangenheit beschäftigt. Doch ist das Ergebnis alles andere als eine lyrische Nabelschau. Handkes Werke sind Bruchstücke einer großen Konfession, und die Radikalität und Schonungslosigkeit, mit der er seine Selbsterforschung betreibt, ist einmalig. Hier schreibt einer über sich, aber stellvertretend für alle, die der Welt noch nicht so abhanden gekommen sind, daß sie sich nicht einmal mehr für sich selbst interessieren. Der Weg der Selbstverwirklichung führt durch die Sprache der Erzählung: »Durch das Schreiben gelingt es mir zu behaupten, daß ich bin, was ich einmal gewesen bin.« Ja, was würde Peter Handke ohne die »Umarmung der Geschichte« machen, die ihn durch seine Erzählungen trägt? In allen seinen Werken vermischen sich stark autobiographische Elemente mit solchen, die vielleicht nicht den äußeren Tatsachen entsprechen, aber einer inneren Wirklichkeit. Die Phantasie drängt Handke, früher Erlebtes »mit immer neuem Leben zu infizieren«. Durch das Erinnern wird die Vergangenheit nicht gebannt, sondern erst wirklich erfahren, »bewußt, benennbar, stimmhaft und spruchreif«. Kaum überraschend also, daß die Kindheit der wichtigste Erfahrungsraum ist, aus dem sich das umfangreiche Werk der Selbstbetrachtung speist. Immer und immer wieder kehrt Handke in seinen Erzählungen zu den Quellen seiner Kindheit zurück, zu Eindrücken, Erlebnissen, Gefühlen: »Ich nehme erst richtig wahr in der Wiederholung.« Erst durch das Schreiben wird Handkes von Angst, Armut und Einsamkeit geprägte Kindheit und Jugendzeit zum »Entfaltungsraum für Erfahrungen, die diese Angst läutern und verwandeln«. Die geliebten Toten Heimatlos kommt Handke zur Welt. Die Familie seiner Mutter ist eine »Sippe von Knechten«, Landarbeitern, Zimmerleuten - seßhaft und ortlos zugleich. Ein böser Zwiespalt. Im Erinnerungsvorrat der Familie sind sie noch gespeichert, die »jahrhundertealten Alpträume der Habenichtse, die überall nur in der Fremde waren«. Eine Kindheitserinnerung: Der mit finsterer Miene am Radio drehende Großvater wirkte auf den kleinen Peter wie ein auf einem einsamen Außenposten vergessener Mensch, der wieder einmal ohne Hoffnung das Signal zur Rückkehr sucht. Rückkehr wohin? Immer wieder machen sich die Protagonisten von Handkes Romanen und Erzählungen über das Grenzgebirge der Karawanken auf den Weg nach Jugoslawien und auf die Suche nach ihren slawischen Wurzeln. Sie brechen aus seiner Heimatregion am Ostrand der Kärntner Jaunfeldebene auf, mal aus Rinkolach (Mein Jahr in der Niemandsbucht, 1994), mal aus Rinkenberg (Die Wiederholung) - beides kaum zehn Kilometer von Handkes Geburtsort Griffen entfernte Städtchen. In diesem Bermudadreieck der Bedeutungslosigkeit muß das Kind anfangen, sich selbst Geschichten zu erzählen, um nicht verrückt zu werden vor Langeweile. Wenigstens einer in Handkes langer Ahnenreihe von bedeutungslosen Niemanden hatte Glück im Unglück: Sein 1886 in Altenmarkt Nr. 25 geborener Großvater Gregor Siutz bewirtschaftet als Kleinbauer eine sogenannte Keusche, ein kleines Gehöft, und arbeitet nebenbei als Zimmermann. Für den jungen Handke ist der Großvater die wichtigste Bezugsperson neben der Mutter - trotz seiner Strenge und seines Jähzorns. Denn mit den Vätern sonst ist es nicht weit her. Die Identifikationsfiguren im Handkeschen Werk stammen allesamt aus der Mutterlinie und werden vom Großvater angeführt. Gregor Siutz hatte bei der Kärntner Volksabstimmung 1920 für den Anschluß des südösterreichischen Gebiets an das neugegründete Jugoslawien gestimmt und wurde dafür von seinen deutschnationalen Dorfnachbarn mit dem Erschlagen bedroht. Handkes Großvater, dessen slowenische Vorfahren noch Sivec hießen, ließ sich weder einschüchtern noch den Stolz auf seine Herkunft nehmen. Erst der Zweite Weltkrieg, der ihm zwei Söhne raubt, scheint den alten Mann gebrochen zu haben. »Der hat dann immer die linke Wochenzeitschrift gelesen. Aber er war halt dann kaputt. Politik. Durch den Tod der Söhne war er erledigt«, erinnert sich Handke. Von der Familie und im Dorf wird der Großvater »Ote« gerufen, nach dem slowenischen »oCe« für Großvater. Eine alte Ansichtskarte vom Stift Griffen, die Maria Handke Anfang der siebziger Jahre ihrem Sohn im Auftrag seines Großvaters schreibt, zeigt, wie eng die Beziehung zwischen den beiden ist: »Du hast mir im letzten Brief mitgeschrieben, das Hotelzimmer in Freiburg hat gerochen wie die Stifterkirche, ich habe es ihm erzählt. Diese Karte hatte er schon, als ich noch klein war. Er dankt Dir für die Kartengrüße, seine rechte Hand ist ziemlich steif und zittrig, und er läßt Dich und Deine Libgart herzlich grüßen, Herzlich Mama.« In einem Brief an die Mutter beschreibt der achtzehnjährige Handke den Großvater: »Ein Mensch, groß in seiner Einfalt, groß in seiner Stärke, groß in seiner Schwäche, mit den natürlichen, ursprünglichen Regungen eines Bauern, der nichts gelten läßt, es sei denn Frömmigkeit, körperlicher Schmerz und Mühsal, gesehen mit den trüben und doch so großartigen Augen einer einfachen Seele, deren Vorgänge zugleich mannigfaltiger und komplexer sind als die unsrigen, in der alles Zorn ist, was bei uns Wut, Nervosität, Unbehagen, Antipathie usw. ist; in der alles Freude ist, was bei uns Wohlbefinden, Ruhe der Nerven, Belustigtsein oder einfach Nichtvorhandensein von Schmerz - so haben überhaupt alle ursprünglichen Menschen uns voraus, daß ihre Empfindungen, Wahrnehmungen und Gefühle großräumiger und komplexer sind als die unsrigen und deshalb umfassender.« Aus diesen Zeilen spricht vor allem der Wunsch nach Einfachheit und Natürlichkeit, nach Nähe zur Natur, die Handke sich erträumt, von der ihn als Geistesmenschen aber sein Leben lang etwas trennt. Handkes »Lob des Ote« läßt ahnen, wie fremd sich der angehende Dichter in der rauhen Natur gefühlt haben muß, die ihn gleichwohl fasziniert. Ein Familienfoto zeigt den Großvater mit seinem zweitältesten Sohn Georg bei der Feldarbeit zu Füßen des Schloßbergs. Die Burg hoch oben ist längst verfallen. Doch die Feldarbeiter, die im Schatten des massigen Felsens den Pflug über die Äcker ziehen, wirken immer noch wie Leibeigene, Gefangene ihres harten Schicksals. Gregor Siutz war als unehelicher Sohn einer Bauerstochter auf die Welt gekommen, und diesem Umstand verdankte er, daß er selbst es später zu etwas Grund und Boden brachte: »Seine Mutter wenigstens war die Tochter eines recht wohlhabenden Bauern, bei dem sein Vater, für ihn nicht mehr als>der Erzeuger Am 27. Januar 1913 heiratet Gregor Siutz die sechsundzwanzigjährige Ursula Karnaus. In rascher Folge werden fünf Kinder geboren: Gregor (2. November 1913), Ursula (13. Oktober 1915), Georg (3. Mai 1918), Maria (8. Oktober 1920) und Hans (27. Dezember 1922). Während die Söhne und Töchter auf dem vom Großvater gepachteten Land arbeiten, verdingt er selbst sich in der Umgebung als Zimmermann. Gregor Siutz spart, verliert alles Zurückgelegte in der Inflation Anfang der zwanziger Jahre, beginnt wieder zu sparen. In "Wunschloses Unglück" (1972), der Erzählung über Leben und Selbstmord der Mutter, erwähnt Handke die »gespenstische Bedürfnislosigkeit«, die der strenge Patriarch der ganzen Familie auferlegt. Er trinkt und raucht nicht, spielt nur sonntags Karten. An eine Ausbildung der Kinder, gar seiner zwei Töchter Maria und Ursula, ist nicht zu denken, höchstens an eine Ausstattung für Beruf oder Heirat. Aus diesem armseligen Leben im Dorf scheint kein Ausbrechen denkbar. So tief verinnerlicht ist dieses Gefühl, daß der jüngste Sohn, Hans, es der Familienlegende zufolge nur kurz im Klagenfurter Priesterseminar aushält. Bereits nach wenigen Tagen kehrt er heim und greift sofort - es ist Samstag - zum Besen, um den Hof zu kehren. Dann beginnt der Krieg. Alle drei Söhne werden zur Wehrmacht eingezogen und an die sich immer weiter ausdehnenden Fronten von Hitlers Großreich geschickt. Daheim in Griffen steht nun im düsteren Herrgottswinkel unter dem Kreuz der geheimnisvoll leuchtende Volksempfänger, dem andächtig gelauscht wird. Maria schreibt einem der Brüder im Feld: »Ich schaue auf der Landkarte, wo Du jetzt sein könntest.« Als erster fällt im Juli 1943 der bereits mehrfach verwundete Gefreite Hans Siutz mit gerade einmal zwanzig Jahren. Er liegt im Norden Rußlands auf dem »Heldenfriedhof Nowo Pawlowka« begraben. Am 2. November findet der Obergefreite Gregor Siutz auf der Krim den Tod. Auch von ihm ist die Grabstätte bekannt: Er ruht auf dem Friedhof von Dshankoi im Grab Nr. 375. Der junge Handke wächst in einem Trauerhaus auf. »Die geliebten Toten meiner Mutter, das lag in der Luft.« Es ist eine bedrückende Atmosphäre, in welcher »der Verschollene, anders als ein mit Sicherheit Toter, den Angehörigen keine Ruhe ließ, sondern ihnen, ohne daß sie das Kleinste tun konnten, mit jedem Tag neuerlich wegstarb«. Oft geht das Kind an die alte Truhe des Großvaters, die auf der hölzernen Galerie steht. In ihr hat der Ote nicht nur seinen Bajonettdolch und die Gasmaske aus dem Ersten Weltkrieg verstaut, sondern auch Bücher werden in ihr aufbewahrt: »Es gibt ja so alte Bücher, die noch in den Truhen herumliegen. Ich zumindest kannte das, ich bin so in einem Bauernhaus aufgewachsen. Da war so eine Brüstung im ersten Stock, da gab es eine Truhe. Da habe ich immer gelesen. Da fand ich all die Bücher, und vieles von diesen Büchern ist mir noch ganz verschwommen in Erinnerung. Manches verwechsle ich einfach mit Erlebtem und mit Gelesenem.«

Vorwort Alles ist Verwandlung. Wer die Biographie eines Künstlers schreibt, noch dazu eines lebenden, sollte sich eine Neugier auf die Metamorphosen bewahren, die zwischen Kunst und Welt hin- und herführen. Er darf die literarischen Masken nicht weniger ernst nehmen als die Gesichter seiner Gesprächspartner - die sich ja wiederum als Masken entpuppen können. Natürlich gibt es die üblichen Daten, die aktenkundig geworden sind. Aber ein Lebenslauf ist noch keine Biographie, so wie ein Baugerüst kein Haus und ein Skelett kein Mensch aus Fleisch und Blut ist. »Wenn ich nachdenke, was ich bisher in meinem Dasein erlebt habe«, schreibt Handke in seinem Roman "Mein Jahr in der Niemandsbucht", »dann war das weder der Krieg in der Kindheit, noch die Flucht aus dem Russendeutschland heim nach Österreich, noch das jugendlange Eingesperrtsein ins Internat, noch, nach den vielen Fiebrigkeiten, jene erste ruhige Zeile, bei der ich wußte, ich war nun auf dem Weg, noch das Zusammensein mit einer Frau oder meinem Kind, sondern allein jene Verwandlung.« Es gibt wenige Autoren, die ihr Leben so radikal nach ihrer Berufung ausgerichtet haben wie Peter Handke. Ein Schriftsteller formt nicht nur ein Werk, er wird auch von ihm geformt, so wie ein Gesetz zwar nicht den Naturzustand einer Gesellschaft beschreibt, aber dennoch ihre Geschicke beeinflußt. Peter Handke hat seiner als chaotisch und unsicher empfundenen Existenz schon früh ein Gesetz gegeben, indem er zu schreiben anfing. Wenn er jemals seine Autobiographie schreiben würde, erzählte Handke mir einmal, dann würde er sie "Betrachtungen meiner Irrtümer" nennen. Nicht falsche Bescheidenheit oder Koketterie verbirgt sich hinter diesem Titel, sondern der Wunsch nach Selbsterkenntnis - vielleicht der stärkste Antrieb zum Schreiben überhaupt. So darf sich auch der Biograph nicht davon leiten lassen, was angenehm, vorteilhaft oder wünschenswert an seiner Geschichte sein kann. Sondern er muß vorurteilslos lesen und recherchieren. Was auf den folgenden Seiten steht, ist folglich nichts als die Wahrheit. Die Aufgabe des Biographen ist es, das Leben in seinen Höhen und Tiefen zu zeigen und den Verwandlungen nachzuspüren. Vollständig und abschließend kann so ein Werk im Leben nie werden und muß es auch nicht. Aber der Biograph sollte etwas Wesentlichem auf der Spur sein. Seine Neugier muß dem Menschen mit Haut und Haaren gelten, dem »full man«, wie ein englischer Autor einmal schrieb. Ein Urteil fällen können dann andere. Peter Handke hat diese Voraussetzung sofort akzeptiert, als ich ihm von meinem Plan erzählte, ein Buch über ihn zu schreiben. Handke hat mir mehrere Jahre lang immer wieder Zugang zu Briefen, Familiendokumenten, seinen Tagebüchern und anderen Aufzeichnungen gewährt und war zu zahlreichen Gesprächen bereit. Er hat mir den Kontakt zu seinen Freunden ermöglicht und den zu seinen Gegnern akzeptiert. Von gelegentlichen Nachfragen abgesehen (»Haben Sie immer noch nicht aufgegeben?« - »Geht Ihnen das Geld nicht aus?«), hat er nie versucht, auf den Fortgang des Projekts Einfluß zu nehmen. Wer über einen lebenden Künstler schreibt, hat vor allem eine Pflicht: nah dran zu sein - als genauer Leser wie als Beobachter und Befrager. Gleichzeitig gilt es, Distanz zu wahren. Man darf nicht eingreifen ins Geschehen und sich auch nicht gemein machen mit den Beteiligten. Doch ohne Sympathie wäre der Stoff des Biographen schon zu Lebzeiten tot. »Natürlich will ein Künstler nicht bewundert, sondern in treusorgender Ironie betrachtet werden«, hat Peter Handke in den Phantasien der Wiederholung geschrieben. Daran habe ich mich gehalten. M. H. Hamburg, im Juli 2010 KAPITEL 1 KRIEG Vorspiel im Gasthaus Klagenfurt, im Frühling 1942. Die junge Maria Siutz genießt das Stadtleben. Für sie bedeutet es die große Freiheit: Tagsüber die Arbeit in einem Hotel. Danach tanzen, sich unterhalten, lustig sein bis in die späten Nachtstunden. Seit drei Jahren tobt der Krieg, aber hier merkt man nicht viel davon. Die Hakenkreuzfahnen spiegeln sich im Wörthersee, die Führerstimme im Volksempfänger hat noch etwas Beruhigendes, und an Wochenenden herrscht wogendes Gedränge auf dem Adolf-Hitler-Platz. Maria geht auf in der neuen Volksgemeinschaft. Sie hat nie verstanden, warum der Vater und die Brüder so stolz sind auf ihre slowenischen Vorfahren. Heimatlose Tagelöhner, Knechte, Wanderarbeiter - eine schöne Ahnengalerie ist das! Nein, sie mußte raus aus dem kleinen Grenzdorf Griffen, wo sie sich bei der Landarbeit die Hände wund scheuerte und keine Zukunft hatte. Die Zukunft gehört den Deutschen, das hat sie immer wieder gehört seit 1938. Ganz Kärnten ist deutsch. Sogar an den Bauernhäusern hängen Spruchbänder mit der Aufschrift »Ein Volk, ein Reich, ein Führer«. In den Stuben mahnen Plakate: »Der Kärntner spricht Deutsch.« Slowenisch, die Sprache von Marias Vorfahren, ist seit dem »Anschluß« Österreichs an Hitlerdeutschland verboten. An diesem Frühlingsabend hätte Maria ohnehin nicht slowenisch gesprochen. Sie hat sich fein herausgeputzt und ist ein bißchen aufgeregt, als sie in die Paradeisergasse einbiegt und das Hotel Tigerwirt betritt. Der alte Gasthof ist ein beliebter Treffpunkt der gehobenen Klagenfurter Gesellschaft. Hier sitzen Stadtverordnete und Wehrmachtsoffiziere, Geschäftsleute und Liebespaare. Auch die Hauptfunktionäre des Kärntner Heimatdienstes sind hier nach 1918 zusammengekommen, um den »Abwehrkampf« gegen den neu entstandenen Staat der Jugoslawen zu organisieren. Maria hat keine Berührungsängste. Und kaum öffnet sie die Tür zur Gaststube, springt einer der dort Sitzenden schon auf: der deutsche Wehrmachtssoldat, der ihr immer so schöne Komplimente macht. Erich Schönemann ist kleiner als sie, fast kahlköpfig, dreizehn Jahre älter - und verheiratet. Es gäbe viele Gründe für die zweiundzwanzig jährige Maria Siutz, auf dem Absatz kehrtzumachen und in das Leben zurückzukehren, das ihr bestimmt zu sein scheint. Ein archaisches Leben, in dem Achtung vor den »vollendeten Tatsachen« herrscht: vor Geburt, Heirat, Schwangerschaft, Dorfleben und Tod. Dahinter keine Welt. Was für ein Gegensatz tut sich auf, wenn sie die Familie auf dem Dorf besucht. Neben der städtisch-elegant gekleideten Maria sieht die ältere Schwester fast wie eine Schweinemagd aus - und schimpft auch so: »Während ich im Stroh hinter dem Ziegenstall übernachte, kugelst du mit dem reichsdeutschen Ziegenbock im Tigerwirt durchs Doppelbett.« Bereitet es Maria kein schlechtes Gewissen, die Nächte mit einem deutschen Soldaten zu verbringen, während die Sippe daheim auf dem winzigen Hof schuftet? Nein, sie will sich von niemandem mehr etwas sagen lassen. Nur noch von ihm, dem Heißgeliebten. Erich Schönemann gibt sich weltmännisch; der fesche Offizier stellt etwas dar, ist Zahlmeister der Kompanie. Wenn sie die Kartoffeln mit dem Messer zerschneidet, rügt er ihren Mangel an Etikette. Im Frieden - wie lang ist das her - war er Sparkassenangestellter. Im Krieg hat er bisher Glück gehabt, nur einmal ist er im Lazarett gelandet - wegen Hämorrhoiden. Sie machen gemeinsam Ausflüge in die Umgebung, er schenkt ihr Parfüm und ein charmantes Lächeln. Daheim in Norddeutschland wartet die Ehefrau mit dem neugeborenen Kind. Ist Maria sich nicht bewußt, worauf sie sich einläßt? Die Nächte im Tigerwirt bleiben nicht ohne Folgen. Noch bevor Erich Schönemann sich an die heimatliche Ehefront verabschiedet, stellt Maria fest, daß sie von ihm schwanger ist. Welch Grazie! Welch Hoheit! Ein Schrei gellt durch die niedrige, dürftige Stube. Ganz und gar nicht der Schrei eines Neugeborenen, sondern einer, der wie aus dem Innern eines Grabes schallt. Die Landhebamme Anna Menne hält das Kind der Maria Siutz in den Händen, die vor kurzem geheiratet hat und nun offiziell Maria Handke heißt. Wütend brüllt der Knabe, als empöre es ihn, daß gerade er auf so einer Welt, in so einer Hütte geboren wurde. Sogar von der Straße kommen die Leute herbeigelaufen, um das außergewöhnliche Kind zu bestaunen: Welch Grazie! Welch Hoheit! Der Sohn, den Maria am Nikolaustag 1942 um 18.45 Uhr in ihrem Elternhaus Altenmarkt Nr. 25, Marktgemeinde Griffen, auf die Welt bringt, verweigert von Anfang an die Muttermilch. Arm von Geburt, wird er durch seinen Weltekel geadelt. Aus den dunklen Augen in seinem Engelsgesicht wird das Kind finstere Blicke auf die Menschen werfen. Dämonen haben seine Geburt begleitet - keine echten, sondern als Teufel verkleidete Dorfbewohner, die nach altem Brauch am Vorabend des Nikolaustags mit Gerassel und Gebrüll um die Häuser ziehen. Höllenlärm als Wiegenlied: Noch heute glaubt der Schriftsteller Peter Handke, »daß mein Grundschrecken von den Stunden vor der Geburt herrührt, wo diese Teufel, die als Teufel verkleideten Typen, mit den Ketten und Ruten durch das Dorf gegangen sind und alles niedergemacht und gebrüllt haben«8. Der Nikolauskobold, der Krampus, ist »eine innere Hebamme. Innen hat er beigetragen zu meiner entsetzlichen Schreckhaftigkeit, die wiederum nix mit Angst zu tun hat. Ich bin, glaube ich, kein ängstlicher Mensch. Aber es genügt mir irgendein Geräusch.« Der Junge wird im nahe gelegenen Stift Griffen auf den Namen Peter getauft. Der im Geburtsregister als Taufpate eingetragene Onkel Gregor Siutz steht als Wehrmachtssoldat im Feld und wird durch seine Schwester Ursula vertreten. Seinen Nachnamen verdankt der Täufling dem aus Berlin stammenden Unteroffizier Adolf Bruno Handke, den die Mutter am 4. November im Stift Griffen geheiratet hat. Bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr wird der Junge nicht erfahren, wer sein leiblicher Vater ist. Ein einziges Mal hat sich ein fremdes Gesicht über das sechs Monate alte Kind gebeugt und es »mit seltsamen Gedanken« angesehen. Dann ist Erich Schönemann für achtzehn Jahre aus dem Leben des jungen Peter verschwunden, dem die Mutter erst spät und auf sein Drängen hin die Wahrheit erzählt. Peter Handke: Schon dieser Name sagt etwas über die Grundspannung aus, die sich durch sein Leben und Werk zieht - über das ewige Gefühl von Unbehaustheit, das ihn zu einem Wanderer zwischen den Welten macht. Seit Generationen, berichtet der Erzähler in "Die Wiederholung" (1986), sei bei seinen slowenischen Vorfahren jeder Erstgeborene auf den Namen Gregor getauft worden. Das trifft auf Handkes Großvater, den 1886 geborenen Gregor Siutz, ebenso zu wie auf den 1913 geborenen ältesten Bruder seiner Mutter, den verhinderten Taufpaten. Der Junge hingegen erhält den Vornamen Peter. Wenn es Zufall ist, dann jedenfalls ein passender, daß der in eine arme Familie mit slawischen Wurzeln Geborene den gleichen Vornamen trägt wie der im Exil lebende jugoslawische König Peter II. Und »Handke«? Peter Handkes Bücher haben diesen Namen zum Inbegriff österreichischer Literatur von Weltrang gemacht. Aber während es in ganz Österreich kaum mehr als ein Dutzend Handkes gibt, verzeichnet allein das Berliner Telefonbuch über achtzig. Bereits sein »deutscher« Nachname machte Peter Handke im Kärntner Dorf Griffen zu einem Außenseiter. In einer Welt gezeugt, in einer anderen Welt geboren: Ein Kind des Überschwangs und der Freiheit oder eine Ausgeburt der Wollust? Schreibt der Autor von seiner Kindheit, ist oft von einem Fluch die Rede, der auf der Familie lastet. In Handkes 2010 erschienenem Werk "Immer noch Sturm", einem Theaterstück über seine Familie und die Kärntner Partisanen im Zweiten Weltkrieg, steht bereits die Zeugung des den Autor vertretenden Ichs unter einem Unstern. Nachdem der jüngste Bruder der Mutter im Krieg gefallen ist und sie von einem deutschen Soldaten geschwängert wurde, verflucht ihr Vater Deutschland: »Und verflucht sei der deutsche Liebeswurm in deinem Liebesbauch. Verflucht sei die Frucht deines Leibes.« Als die beiden älteren Brüder der Mutter auf Fronturlaub nach Hause kommen, beschimpfen sie das Kuckuckskind als »Winzling, Vorform des großen Feinds, des Usurpators. Familienfeind - Volksfeind. Heraus aus der Wiege - in die Hundehütte mit dem Bankert.« Die Passage zeigt, wie der Dichter aus den ungewöhnlichen Umständen seiner Geburt Inspiration zieht. In Immer noch Sturm ist es der Makel der deutschen Abstammung, der das Ich unter den stolzen Slowenen in seiner Familie zum Fremdling macht. In Die Wiederholung erforscht der Ich-Erzähler die slowenischen Wurzeln seiner Familie, auf welche diese aber nicht stolz ist, sondern die sie mit Armut und Niedergang assoziiert. Es ist keine Überraschung, daß sich Handke in seinen erdachten Rollen immer wieder auf die Seite der Aussätzigen und Verfemten schlägt. Die Figur des Außenseiters ist für die Literatur der Moderne grundlegend, und erst recht für das Werk eines Autors wie Handke, der am eigenen Leib erfahren hat, was es bedeutet, Außenseiter zu sein. Es gibt heute kaum einen anderen Schriftsteller, der sich immer wieder derart intensiv mit der Erinnerung an sich selbst, an die eigene Vergangenheit beschäftigt. Doch ist das Ergebnis alles andere als eine lyrische Nabelschau. Handkes Werke sind Bruchstücke einer großen Konfession, und die Radikalität und Schonungslosigkeit, mit der er seine Selbsterforschung betreibt, ist einmalig. Hier schreibt einer über sich, aber stellvertretend für alle, die der Welt noch nicht so abhanden gekommen sind, daß sie sich nicht einmal mehr für sich selbst interessieren. Der Weg der Selbstverwirklichung führt durch die Sprache der Erzählung: »Durch das Schreiben gelingt es mir zu behaupten, daß ich bin, was ich einmal gewesen bin.« Ja, was würde Peter Handke ohne die »Umarmung der Geschichte« machen, die ihn durch seine Erzählungen trägt? In allen seinen Werken vermischen sich stark autobiographische Elemente mit solchen, die vielleicht nicht den äußeren Tatsachen entsprechen, aber einer inneren Wirklichkeit. Die Phantasie drängt Handke, früher Erlebtes »mit immer neuem Leben zu infizieren«. Durch das Erinnern wird die Vergangenheit nicht gebannt, sondern erst wirklich erfahren, »bewußt, benennbar, stimmhaft und spruchreif«. Kaum überraschend also, daß die Kindheit der wichtigste Erfahrungsraum ist, aus dem sich das umfangreiche Werk der Selbstbetrachtung speist. Immer und immer wieder kehrt Handke in seinen Erzählungen zu den Quellen seiner Kindheit zurück, zu Eindrücken, Erlebnissen, Gefühlen: »Ich nehme erst richtig wahr in der Wiederholung.« Erst durch das Schreiben wird Handkes von Angst, Armut und Einsamkeit geprägte Kindheit und Jugendzeit zum »Entfaltungsraum für Erfahrungen, die diese Angst läutern und verwandeln«. Die geliebten Toten Heimatlos kommt Handke zur Welt. Die Familie seiner Mutter ist eine »Sippe von Knechten«, Landarbeitern, Zimmerleuten - seßhaft und ortlos zugleich. Ein böser Zwiespalt. Im Erinnerungsvorrat der Familie sind sie noch gespeichert, die »jahrhundertealten Alpträume der Habenichtse, die überall nur in der Fremde waren«. Eine Kindheitserinnerung: Der mit finsterer Miene am Radio drehende Großvater wirkte auf den kleinen Peter wie ein auf einem einsamen Außenposten vergessener Mensch, der wieder einmal ohne Hoffnung das Signal zur Rückkehr sucht. Rückkehr wohin? Immer wieder machen sich die Protagonisten von Handkes Romanen und Erzählungen über das Grenzgebirge der Karawanken auf den Weg nach Jugoslawien und auf die Suche nach ihren slawischen Wurzeln. Sie brechen aus seiner Heimatregion am Ostrand der Kärntner Jaunfeldebene auf, mal aus Rinkolach (Mein Jahr in der Niemandsbucht, 1994), mal aus Rinkenberg (Die Wiederholung) - beides kaum zehn Kilometer von Handkes Geburtsort Griffen entfernte Städtchen. In diesem Bermudadreieck der Bedeutungslosigkeit muß das Kind anfangen, sich selbst Geschichten zu erzählen, um nicht verrückt zu werden vor Langeweile. Wenigstens einer in Handkes langer Ahnenreihe von bedeutungslosen Niemanden hatte Glück im Unglück: Sein 1886 in Altenmarkt Nr. 25 geborener Großvater Gregor Siutz bewirtschaftet als Kleinbauer eine sogenannte Keusche, ein kleines Gehöft, und arbeitet nebenbei als Zimmermann. Für den jungen Handke ist der Großvater die wichtigste Bezugsperson neben der Mutter - trotz seiner Strenge und seines Jähzorns. Denn mit den Vätern sonst ist es nicht weit her. Die Identifikationsfiguren im Handkeschen Werk stammen allesamt aus der Mutterlinie und werden vom Großvater angeführt. Gregor Siutz hatte bei der Kärntner Volksabstimmung 1920 für den Anschluß des südösterreichischen Gebiets an das neugegründete Jugoslawien gestimmt und wurde dafür von seinen deutschnationalen Dorfnachbarn mit dem Erschlagen bedroht. Handkes Großvater, dessen slowenische Vorfahren noch Sivec hießen, ließ sich weder einschüchtern noch den Stolz auf seine Herkunft nehmen. Erst der Zweite Weltkrieg, der ihm zwei Söhne raubt, scheint den alten Mann gebrochen zu haben. »Der hat dann immer die linke Wochenzeitschrift gelesen. Aber er war halt dann kaputt. Politik. Durch den Tod der Söhne war er erledigt«, erinnert sich Handke. Von der Familie und im Dorf wird der Großvater »Ote« gerufen, nach dem slowenischen »oCe« für Großvater. Eine alte Ansichtskarte vom Stift Griffen, die Maria Handke Anfang der siebziger Jahre ihrem Sohn im Auftrag seines Großvaters schreibt, zeigt, wie eng die Beziehung zwischen den beiden ist: »Du hast mir im letzten Brief mitgeschrieben, das Hotelzimmer in Freiburg hat gerochen wie die Stifterkirche, ich habe es ihm erzählt. Diese Karte hatte er schon, als ich noch klein war. Er dankt Dir für die Kartengrüße, seine rechte Hand ist ziemlich steif und zittrig, und er läßt Dich und Deine Libgart herzlich grüßen, Herzlich Mama.« In einem Brief an die Mutter beschreibt der achtzehnjährige Handke den Großvater: »Ein Mensch, groß in seiner Einfalt, groß in seiner Stärke, groß in seiner Schwäche, mit den natürlichen, ursprünglichen Regungen eines Bauern, der nichts gelten läßt, es sei denn Frömmigkeit, körperlicher Schmerz und Mühsal, gesehen mit den trüben und doch so großartigen Augen einer einfachen Seele, deren Vorgänge zugleich mannigfaltiger und komplexer sind als die unsrigen, in der alles Zorn ist, was bei uns Wut, Nervosität, Unbehagen, Antipathie usw. ist; in der alles Freude ist, was bei uns Wohlbefinden, Ruhe der Nerven, Belustigtsein oder einfach Nichtvorhandensein von Schmerz - so haben überhaupt alle ursprünglichen Menschen uns voraus, daß ihre Empfindungen, Wahrnehmungen und Gefühle großräumiger und komplexer sind als die unsrigen und deshalb umfassender.« Aus diesen Zeilen spricht vor allem der Wunsch nach Einfachheit und Natürlichkeit, nach Nähe zur Natur, die Handke sich erträumt, von der ihn als Geistesmenschen aber sein Leben lang etwas trennt. Handkes »Lob des Ote« läßt ahnen, wie fremd sich der angehende Dichter in der rauhen Natur gefühlt haben muß, die ihn gleichwohl fasziniert. Ein Familienfoto zeigt den Großvater mit seinem zweitältesten Sohn Georg bei der Feldarbeit zu Füßen des Schloßbergs. Die Burg hoch oben ist längst verfallen. Doch die Feldarbeiter, die im Schatten des massigen Felsens den Pflug über die Äcker ziehen, wirken immer noch wie Leibeigene, Gefangene ihres harten Schicksals. Gregor Siutz war als unehelicher Sohn einer Bauerstochter auf die Welt gekommen, und diesem Umstand verdankte er, daß er selbst es später zu etwas Grund und Boden brachte: »Seine Mutter wenigstens war die Tochter eines recht wohlhabenden Bauern, bei dem sein Vater, für ihn nicht mehr als>der Erzeuger Am 27. Januar 1913 heiratet Gregor Siutz die sechsundzwanzigjährige Ursula Karnaus. In rascher Folge werden fünf Kinder geboren: Gregor (2. November 1913), Ursula (13. Oktober 1915), Georg (3. Mai 1918), Maria (8. Oktober 1920) und Hans (27. Dezember 1922). Während die Söhne und Töchter auf dem vom Großvater gepachteten Land arbeiten, verdingt er selbst sich in der Umgebung als Zimmermann. Gregor Siutz spart, verliert alles Zurückgelegte in der Inflation Anfang der zwanziger Jahre, beginnt wieder zu sparen. In "Wunschloses Unglück" (1972), der Erzählung über Leben und Selbstmord der Mutter, erwähnt Handke die »gespenstische Bedürfnislosigkeit«, die der strenge Patriarch der ganzen Familie auferlegt. Er trinkt und raucht nicht, spielt nur sonntags Karten. An eine Ausbildung der Kinder, gar seiner zwei Töchter Maria und Ursula, ist nicht zu denken, höchstens an eine Ausstattung für Beruf oder Heirat. Aus diesem armseligen Leben im Dorf scheint kein Ausbrechen denkbar. So tief verinnerlicht ist dieses Gefühl, daß der jüngste Sohn, Hans, es der Familienlegende zufolge nur kurz im Klagenfurter Priesterseminar aushält. Bereits nach wenigen Tagen kehrt er heim und greift sofort - es ist Samstag - zum Besen, um den Hof zu kehren. Dann beginnt der Krieg. Alle drei Söhne werden zur Wehrmacht eingezogen und an die sich immer weiter ausdehnenden Fronten von Hitlers Großreich geschickt. Daheim in Griffen steht nun im düsteren Herrgottswinkel unter dem Kreuz der geheimnisvoll leuchtende Volksempfänger, dem andächtig gelauscht wird. Maria schreibt einem der Brüder im Feld: »Ich schaue auf der Landkarte, wo Du jetzt sein könntest.« Als erster fällt im Juli 1943 der bereits mehrfach verwundete Gefreite Hans Siutz mit gerade einmal zwanzig Jahren. Er liegt im Norden Rußlands auf dem »Heldenfriedhof Nowo Pawlowka« begraben. Am 2. November findet der Obergefreite Gregor Siutz auf der Krim den Tod. Auch von ihm ist die Grabstätte bekannt: Er ruht auf dem Friedhof von Dshankoi im Grab Nr. 375. Der junge Handke wächst in einem Trauerhaus auf. »Die geliebten Toten meiner Mutter, das lag in der Luft.« Es ist eine bedrückende Atmosphäre, in welcher »der Verschollene, anders als ein mit Sicherheit Toter, den Angehörigen keine Ruhe ließ, sondern ihnen, ohne daß sie das Kleinste tun konnten, mit jedem Tag neuerlich wegstarb«. Oft geht das Kind an die alte Truhe des Großvaters, die auf der hölzernen Galerie steht. In ihr hat der Ote nicht nur seinen Bajonettdolch und die Gasmaske aus dem Ersten Weltkrieg verstaut, sondern auch Bücher werden in ihr aufbewahrt: »Es gibt ja so alte Bücher, die noch in den Truhen herumliegen. Ich zumindest kannte das, ich bin so in einem Bauernhaus aufgewachsen. Da war so eine Brüstung im ersten Stock, da gab es eine Truhe. Da habe ich immer gelesen. Da fand ich all die Bücher, und vieles von diesen Büchern ist mir noch ganz verschwommen in Erinnerung. Manches verwechsle ich einfach mit Erlebtem und mit Gelesenem.«

Vorwort
Alles ist Verwandlung. Wer die Biographie eines Künstlers schreibt, noch dazu eines lebenden, sollte sich eine Neugier auf die Metamorphosen bewahren, die zwischen Kunst und Welt hin- und herführen. Er darf die literarischen Masken nicht weniger ernst nehmen als die Gesichter seiner Gesprächspartner - die sich ja wiederum als Masken entpuppen können. Natürlich gibt es die üblichen Daten, die aktenkundig geworden sind. Aber ein Lebenslauf ist noch keine Biographie, so wie ein Baugerüst kein Haus und ein Skelett kein Mensch aus Fleisch und Blut ist. »Wenn ich nachdenke, was ich bisher in meinem Dasein erlebt habe«, schreibt Handke in seinem Roman "Mein Jahr in der Niemandsbucht", »dann war das weder der Krieg in der Kindheit, noch die Flucht aus dem Russendeutschland heim nach Österreich, noch das jugendlange Eingesperrtsein ins Internat, noch, nach den vielen Fiebrigkeiten, jene erste ruhige Zeile, bei der ich wußte, ich war nun auf dem Weg, noch das Zusammensein mit einer Frau oder meinem Kind, sondern allein jene Verwandlung.« Es gibt wenige Autoren, die ihr Leben so radikal nach ihrer Berufung ausgerichtet haben wie Peter Handke. Ein Schriftsteller formt nicht nur ein Werk, er wird auch von ihm geformt, so wie ein Gesetz zwar nicht den Naturzustand einer Gesellschaft beschreibt, aber dennoch ihre Geschicke beeinflußt. Peter Handke hat seiner als chaotisch und unsicher empfundenen Existenz schon früh ein Gesetz gegeben, indem er zu schreiben anfing. Wenn er jemals seine Autobiographie schreiben würde, erzählte Handke mir einmal, dann würde er sie "Betrachtungen meiner Irrtümer" nennen. Nicht falsche Bescheidenheit oder Koketterie verbirgt sich hinter diesem Titel, sondern der Wunsch nach Selbsterkenntnis - vielleicht der stärkste Antrieb zum Schreiben überhaupt. So darf sich auch der Biograph nicht davon leiten lassen, was angenehm, vorteilhaft oder wünschenswert an seiner Geschichte sein kann. Sondern er muß vorurteilslos lesen und recherchieren. Was auf den folgenden Seiten steht, ist folglich nichts als die Wahrheit. Die Aufgabe des Biographen ist es, das Leben in seinen Höhen und Tiefen zu zeigen und den Verwandlungen nachzuspüren. Vollständig und abschließend kann so ein Werk im Leben nie werden und muß es auch nicht. Aber der Biograph sollte etwas Wesentlichem auf der Spur sein. Seine Neugier muß dem Menschen mit Haut und Haaren gelten, dem »full man«, wie ein englischer Autor einmal schrieb. Ein Urteil fällen können dann andere. Peter Handke hat diese Voraussetzung sofort akzeptiert, als ich ihm von meinem Plan erzählte, ein Buch über ihn zu schreiben. Handke hat mir mehrere Jahre lang immer wieder Zugang zu Briefen, Familiendokumenten, seinen Tagebüchern und anderen Aufzeichnungen gewährt und war zu zahlreichen Gesprächen bereit. Er hat mir den Kontakt zu seinen Freunden ermöglicht und den zu seinen Gegnern akzeptiert. Von gelegentlichen Nachfragen abgesehen (»Haben Sie immer noch nicht aufgegeben?« - »Geht Ihnen das Geld nicht aus?«), hat er nie versucht, auf den Fortgang des Projekts Einfluß zu nehmen. Wer über einen lebenden Künstler schreibt, hat vor allem eine Pflicht: nah dran zu sein - als genauer Leser wie als Beobachter und Befrager. Gleichzeitig gilt es, Distanz zu wahren. Man darf nicht eingreifen ins Geschehen und sich auch nicht gemein machen mit den Beteiligten. Doch ohne Sympathie wäre der Stoff des Biographen schon zu Lebzeiten tot. »Natürlich will ein Künstler nicht bewundert, sondern in treusorgender Ironie betrachtet werden«, hat Peter Handke in den Phantasien der Wiederholung geschrieben. Daran habe ich mich gehalten. M. H. Hamburg, im Juli 2010 KAPITEL 1 KRIEG Vorspiel im Gasthaus Klagenfurt, im Frühling 1942. Die junge Maria Siutz genießt das Stadtleben. Für sie bedeutet es die große Freiheit: Tagsüber die Arbeit in einem Hotel. Danach tanzen, sich unterhalten, lustig sein bis in die späten Nachtstunden. Seit drei Jahren tobt der Krieg, aber hier merkt man nicht viel davon. Die Hakenkreuzfahnen spiegeln sich im Wörthersee, die Führerstimme im Volksempfänger hat noch etwas Beruhigendes, und an Wochenenden herrscht wogendes Gedränge auf dem Adolf-Hitler-Platz. Maria geht auf in der neuen Volksgemeinschaft. Sie hat nie verstanden, warum der Vater und die Brüder so stolz sind auf ihre slowenischen Vorfahren. Heimatlose Tagelöhner, Knechte, Wanderarbeiter - eine schöne Ahnengalerie ist das! Nein, sie mußte raus aus dem kleinen Grenzdorf Griffen, wo sie sich bei der Landarbeit die Hände wund scheuerte und keine Zukunft hatte. Die Zukunft gehört den Deutschen, das hat sie immer wieder gehört seit 1938. Ganz Kärnten ist deutsch. Sogar an den Bauernhäusern hängen Spruchbänder mit der Aufschrift »Ein Volk, ein Reich, ein Führer«. In den Stuben mahnen Plakate: »Der Kärntner spricht Deutsch.« Slowenisch, die Sprache von Marias Vorfahren, ist seit dem »Anschluß« Österreichs an Hitlerdeutschland verboten. An diesem Frühlingsabend hätte Maria ohnehin nicht slowenisch gesprochen. Sie hat sich fein herausgeputzt und ist ein bißchen aufgeregt, als sie in die Paradeisergasse einbiegt und das Hotel Tigerwirt betritt. Der alte Gasthof ist ein beliebter Treffpunkt der gehobenen Klagenfurter Gesellschaft. Hier sitzen Stadtverordnete und Wehrmachtsoffiziere, Geschäftsleute und Liebespaare. Auch die Hauptfunktionäre des Kärntner Heimatdienstes sind hier nach 1918 zusammengekommen, um den »Abwehrkampf« gegen den neu entstandenen Staat der Jugoslawen zu organisieren. Maria hat keine Berührungsängste. Und kaum öffnet sie die Tür zur Gaststube, springt einer der dort Sitzenden schon auf: der deutsche Wehrmachtssoldat, der ihr immer so schöne Komplimente macht. Erich Schönemann ist kleiner als sie, fast kahlköpfig, dreizehn Jahre älter - und verheiratet. Es gäbe viele Gründe für die zweiundzwanzig jährige Maria Siutz, auf dem Absatz kehrtzumachen und in das Leben zurückzukehren, das ihr bestimmt zu sein scheint. Ein archaisches Leben, in dem Achtung vor den »vollendeten Tatsachen« herrscht: vor Geburt, Heirat, Schwangerschaft, Dorfleben und Tod. Dahinter keine Welt. Was für ein Gegensatz tut sich auf, wenn sie die Familie auf dem Dorf besucht. Neben der städtisch-elegant gekleideten Maria sieht die ältere Schwester fast wie eine Schweinemagd aus - und schimpft auch so: »Während ich im Stroh hinter dem Ziegenstall übernachte, kugelst du mit dem reichsdeutschen Ziegenbock im Tigerwirt durchs Doppelbett.« Bereitet es Maria kein schlechtes Gewissen, die Nächte mit einem deutschen Soldaten zu verbringen, während die Sippe daheim auf dem winzigen Hof schuftet? Nein, sie will sich von niemandem mehr etwas sagen lassen. Nur noch von ihm, dem Heißgeliebten. Erich Schönemann gibt sich weltmännisch; der fesche Offizier stellt etwas dar, ist Zahlmeister der Kompanie. Wenn sie die Kartoffeln mit dem Messer zerschneidet, rügt er ihren Mangel an Etikette. Im Frieden - wie lang ist das her - war er Sparkassenangestellter. Im Krieg hat er bisher Glück gehabt, nur einmal ist er im Lazarett gelandet - wegen Hämorrhoiden. Sie machen gemeinsam Ausflüge in die Umgebung, er schenkt ihr Parfüm und ein charmantes Lächeln. Daheim in Norddeutschland wartet die Ehefrau mit dem neugeborenen Kind. Ist Maria sich nicht bewußt, worauf sie sich einläßt? Die Nächte im Tigerwirt bleiben nicht ohne Folgen. Noch bevor Erich Schönemann sich an die heimatliche Ehefront verabschiedet, stellt Maria fest, daß sie von ihm schwanger ist. Welch Grazie! Welch Hoheit! Ein Schrei gellt durch die niedrige, dürftige Stube. Ganz und gar nicht der Schrei eines Neugeborenen, sondern einer, der wie aus dem Innern eines Grabes schallt. Die Landhebamme Anna Menne hält das Kind der Maria Siutz in den Händen, die vor kurzem geheiratet hat und nun offiziell Maria Handke heißt. Wütend brüllt der Knabe, als empöre es ihn, daß gerade er auf so einer Welt, in so einer Hütte geboren wurde. Sogar von der Straße kommen die Leute herbeigelaufen, um das außergewöhnliche Kind zu bestaunen: Welch Grazie! Welch Hoheit! Der Sohn, den Maria am Nikolaustag 1942 um 18.45 Uhr in ihrem Elternhaus Altenmarkt Nr. 25, Marktgemeinde Griffen, auf die Welt bringt, verweigert von Anfang an die Muttermilch. Arm von Geburt, wird er durch seinen Weltekel geadelt. Aus den dunklen Augen in seinem Engelsgesicht wird das Kind finstere Blicke auf die Menschen werfen. Dämonen haben seine Geburt begleitet - keine echten, sondern als Teufel verkleidete Dorfbewohner, die nach altem Brauch am Vorabend des Nikolaustags mit Gerassel und Gebrüll um die Häuser ziehen. Höllenlärm als Wiegenlied: Noch heute glaubt der Schriftsteller Peter Handke, »daß mein Grundschrecken von den Stunden vor der Geburt herrührt, wo diese Teufel, die als Teufel verkleideten Typen, mit den Ketten und Ruten durch das Dorf gegangen sind und alles niedergemacht und gebrüllt haben«8. Der Nikolauskobold, der Krampus, ist »eine innere Hebamme. Innen hat er beigetragen zu meiner entsetzlichen Schreckhaftigkeit, die wiederum nix mit Angst zu tun hat. Ich bin, glaube ich, kein ängstlicher Mensch. Aber es genügt mir irgendein Geräusch.« Der Junge wird im nahe gelegenen Stift Griffen auf den Namen Peter getauft. Der im Geburtsregister als Taufpate eingetragene Onkel Gregor Siutz steht als Wehrmachtssoldat im Feld und wird durch seine Schwester Ursula vertreten. Seinen Nachnamen verdankt der Täufling dem aus Berlin stammenden Unteroffizier Adolf Bruno Handke, den die Mutter am 4. November im Stift Griffen geheiratet hat. Bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr wird der Junge nicht erfahren, wer sein leiblicher Vater ist. Ein einziges Mal hat sich ein fremdes Gesicht über das sechs Monate alte Kind gebeugt und es »mit seltsamen Gedanken« angesehen. Dann ist Erich Schönemann für achtzehn Jahre aus dem Leben des jungen Peter verschwunden, dem die Mutter erst spät und auf sein Drängen hin die Wahrheit erzählt. Peter Handke: Schon dieser Name sagt etwas über die Grundspannung aus, die sich durch sein Leben und Werk zieht - über das ewige Gefühl von Unbehaustheit, das ihn zu einem Wanderer zwischen den Welten macht. Seit Generationen, berichtet der Erzähler in "Die Wiederholung" (1986), sei bei seinen slowenischen Vorfahren jeder Erstgeborene auf den Namen Gregor getauft worden. Das trifft auf Handkes Großvater, den 1886 geborenen Gregor Siutz, ebenso zu wie auf den 1913 geborenen ältesten Bruder seiner Mutter, den verhinderten Taufpaten. Der Junge hingegen erhält den Vornamen Peter. Wenn es Zufall ist, dann jedenfalls ein passender, daß der in eine arme Familie mit slawischen Wurzeln Geborene den gleichen Vornamen trägt wie der im Exil lebende jugoslawische König Peter II. Und »Handke«? Peter Handkes Bücher haben diesen Namen zum Inbegriff österreichischer Literatur von Weltrang gemacht. Aber während es in ganz Österreich kaum mehr als ein Dutzend Handkes gibt, verzeichnet allein das Berliner Telefonbuch über achtzig. Bereits sein »deutscher« Nachname machte Peter Handke im Kärntner Dorf Griffen zu einem Außenseiter. In einer Welt gezeugt, in einer anderen Welt geboren: Ein Kind des Überschwangs und der Freiheit oder eine Ausgeburt der Wollust? Schreibt der Autor von seiner Kindheit, ist oft von einem Fluch die Rede, der auf der Familie lastet. In Handkes 2010 erschienenem Werk "Immer noch Sturm", einem Theaterstück über seine Familie und die Kärntner Partisanen im Zweiten Weltkrieg, steht bereits die Zeugung des den Autor vertretenden Ichs unter einem Unstern. Nachdem der jüngste Bruder der Mutter im Krieg gefallen ist und sie von einem deutschen Soldaten geschwängert wurde, verflucht ihr Vater Deutschland: »Und verflucht sei der deutsche Liebeswurm in deinem Liebesbauch. Verflucht sei die Frucht deines Leibes.« Als die beiden älteren Brüder der Mutter auf Fronturlaub nach Hause kommen, beschimpfen sie das Kuckuckskind als »Winzling, Vorform des großen Feinds, des Usurpators. Familienfeind - Volksfeind. Heraus aus der Wiege - in die Hundehütte mit dem Bankert.« Die Passage zeigt, wie der Dichter aus den ungewöhnlichen Umständen seiner Geburt Inspiration zieht. In Immer noch Sturm ist es der Makel der deutschen Abstammung, der das Ich unter den stolzen Slowenen in seiner Familie zum Fremdling macht. In Die Wiederholung erforscht der Ich-Erzähler die slowenischen Wurzeln seiner Familie, auf welche diese aber nicht stolz ist, sondern die sie mit Armut und Niedergang assoziiert. Es ist keine Überraschung, daß sich Handke in seinen erdachten Rollen immer wieder auf die Seite der Aussätzigen und Verfemten schlägt. Die Figur des Außenseiters ist für die Literatur der Moderne grundlegend, und erst recht für das Werk eines Autors wie Handke, der am eigenen Leib erfahren hat, was es bedeutet, Außenseiter zu sein. Es gibt heute kaum einen anderen Schriftsteller, der sich immer wieder derart intensiv mit der Erinnerung an sich selbst, an die eigene Vergangenheit beschäftigt. Doch ist das Ergebnis alles andere als eine lyrische Nabelschau. Handkes Werke sind Bruchstücke einer großen Konfession, und die Radikalität und Schonungslosigkeit, mit der er seine Selbsterforschung betreibt, ist einmalig. Hier schreibt einer über sich, aber stellvertretend für alle, die der Welt noch nicht so abhanden gekommen sind, daß sie sich nicht einmal mehr für sich selbst interessieren. Der Weg der Selbstverwirklichung führt durch die Sprache der Erzählung: »Durch das Schreiben gelingt es mir zu behaupten, daß ich bin, was ich einmal gewesen bin.« Ja, was würde Peter Handke ohne die »Umarmung der Geschichte« machen, die ihn durch seine Erzählungen trägt? In allen seinen Werken vermischen sich stark autobiographische Elemente mit solchen, die vielleicht nicht den äußeren Tatsachen entsprechen, aber einer inneren Wirklichkeit. Die Phantasie drängt Handke, früher Erlebtes »mit immer neuem Leben zu infizieren«. Durch das Erinnern wird die Vergangenheit nicht gebannt, sondern erst wirklich erfahren, »bewußt, benennbar, stimmhaft und spruchreif«. Kaum überraschend also, daß die Kindheit der wichtigste Erfahrungsraum ist, aus dem sich das umfangreiche Werk der Selbstbetrachtung speist. Immer und immer wieder kehrt Handke in seinen Erzählungen zu den Quellen seiner Kindheit zurück, zu Eindrücken, Erlebnissen, Gefühlen: »Ich nehme erst richtig wahr in der Wiederholung.« Erst durch das Schreiben wird Handkes von Angst, Armut und Einsamkeit geprägte Kindheit und Jugendzeit zum »Entfaltungsraum für Erfahrungen, die diese Angst läutern und verwandeln«. Die geliebten Toten Heimatlos kommt Handke zur Welt. Die Familie seiner Mutter ist eine »Sippe von Knechten«, Landarbeitern, Zimmerleuten - seßhaft und ortlos zugleich. Ein böser Zwiespalt. Im Erinnerungsvorrat der Familie sind sie noch gespeichert, die »jahrhundertealten Alpträume der Habenichtse, die überall nur in der Fremde waren«. Eine Kindheitserinnerung: Der mit finsterer Miene am Radio drehende Großvater wirkte auf den kleinen Peter wie ein auf einem einsamen Außenposten vergessener Mensch, der wieder einmal ohne Hoffnung das Signal zur Rückkehr sucht. Rückkehr wohin? Immer wieder machen sich die Protagonisten von Handkes Romanen und Erzählungen über das Grenzgebirge der Karawanken auf den Weg nach Jugoslawien und auf die Suche nach ihren slawischen Wurzeln. Sie brechen aus seiner Heimatregion am Ostrand der Kärntner Jaunfeldebene auf, mal aus Rinkolach (Mein Jahr in der Niemandsbucht, 1994), mal aus Rinkenberg (Die Wiederholung) - beides kaum zehn Kilometer von Handkes Geburtsort Griffen entfernte Städtchen. In diesem Bermudadreieck der Bedeutungslosigkeit muß das Kind anfangen, sich selbst Geschichten zu erzählen, um nicht verrückt zu werden vor Langeweile. Wenigstens einer in Handkes langer Ahnenreihe von bedeutungslosen Niemanden hatte Glück im Unglück: Sein 1886 in Altenmarkt Nr. 25 geborener Großvater Gregor Siutz bewirtschaftet als Kleinbauer eine sogenannte Keusche, ein kleines Gehöft, und arbeitet nebenbei als Zimmermann. Für den jungen Handke ist der Großvater die wichtigste Bezugsperson neben der Mutter - trotz seiner Strenge und seines Jähzorns. Denn mit den Vätern sonst ist es nicht weit her. Die Identifikationsfiguren im Handkeschen Werk stammen allesamt aus der Mutterlinie und werden vom Großvater angeführt. Gregor Siutz hatte bei der Kärntner Volksabstimmung 1920 für den Anschluß des südösterreichischen Gebiets an das neugegründete Jugoslawien gestimmt und wurde dafür von seinen deutschnationalen Dorfnachbarn mit dem Erschlagen bedroht. Handkes Großvater, dessen slowenische Vorfahren noch Sivec hießen, ließ sich weder einschüchtern noch den Stolz auf seine Herkunft nehmen. Erst der Zweite Weltkrieg, der ihm zwei Söhne raubt, scheint den alten Mann gebrochen zu haben. »Der hat dann immer die linke Wochenzeitschrift gelesen. Aber er war halt dann kaputt. Politik. Durch den Tod der Söhne war er erledigt«, erinnert sich Handke. Von der Familie und im Dorf wird der Großvater »Ote« gerufen, nach dem slowenischen »oCe« für Großvater. Eine alte Ansichtskarte vom Stift Griffen, die Maria Handke Anfang der siebziger Jahre ihrem Sohn im Auftrag seines Großvaters schreibt, zeigt, wie eng die Beziehung zwischen den beiden ist: »Du hast mir im letzten Brief mitgeschrieben, das Hotelzimmer in Freiburg hat gerochen wie die Stifterkirche, ich habe es ihm erzählt. Diese Karte hatte er schon, als ich noch klein war. Er dankt Dir für die Kartengrüße, seine rechte Hand ist ziemlich steif und zittrig, und er läßt Dich und Deine Libgart herzlich grüßen, Herzlich Mama.« In einem Brief an die Mutter beschreibt der achtzehnjährige Handke den Großvater: »Ein Mensch, groß in seiner Einfalt, groß in seiner Stärke, groß in seiner Schwäche, mit den natürlichen, ursprünglichen Regungen eines Bauern, der nichts gelten läßt, es sei denn Frömmigkeit, körperlicher Schmerz und Mühsal, gesehen mit den trüben und doch so großartigen Augen einer einfachen Seele, deren Vorgänge zugleich mannigfaltiger und komplexer sind als die unsrigen, in der alles Zorn ist, was bei uns Wut, Nervosität, Unbehagen, Antipathie usw. ist; in der alles Freude ist, was bei uns Wohlbefinden, Ruhe der Nerven, Belustigtsein oder einfach Nichtvorhandensein von Schmerz - so haben überhaupt alle ursprünglichen Menschen uns voraus, daß ihre Empfindungen, Wahrnehmungen und Gefühle großräumiger und komplexer sind als die unsrigen und deshalb umfassender.« Aus diesen Zeilen spricht vor allem der Wunsch nach Einfachheit und Natürlichkeit, nach Nähe zur Natur, die Handke sich erträumt, von der ihn als Geistesmenschen aber sein Leben lang etwas trennt. Handkes »Lob des Ote« läßt ahnen, wie fremd sich der angehende Dichter in der rauhen Natur gefühlt haben muß, die ihn gleichwohl fasziniert. Ein Familienfoto zeigt den Großvater mit seinem zweitältesten Sohn Georg bei der Feldarbeit zu Füßen des Schloßbergs. Die Burg hoch oben ist längst verfallen. Doch die Feldarbeiter, die im Schatten des massigen Felsens den Pflug über die Äcker ziehen, wirken immer noch wie Leibeigene, Gefangene ihres harten Schicksals. Gregor Siutz war als unehelicher Sohn einer Bauerstochter auf die Welt gekommen, und diesem Umstand verdankte er, daß er selbst es später zu etwas Grund und Boden brachte: »Seine Mutter wenigstens war die Tochter eines recht wohlhabenden Bauern, bei dem sein Vater, für ihn nicht mehr als>der Erzeuger Am 27. Januar 1913 heiratet Gregor Siutz die sechsundzwanzigjährige Ursula Karnaus. In rascher Folge werden fünf Kinder geboren: Gregor (2. November 1913), Ursula (13. Oktober 1915), Georg (3. Mai 1918), Maria (8. Oktober 1920) und Hans (27. Dezember 1922). Während die Söhne und Töchter auf dem vom Großvater gepachteten Land arbeiten, verdingt er selbst sich in der Umgebung als Zimmermann. Gregor Siutz spart, verliert alles Zurückgelegte in der Inflation Anfang der zwanziger Jahre, beginnt wieder zu sparen. In "Wunschloses Unglück" (1972), der Erzählung über Leben und Selbstmord der Mutter, erwähnt Handke die »gespenstische Bedürfnislosigkeit«, die der strenge Patriarch der ganzen Familie auferlegt. Er trinkt und raucht nicht, spielt nur sonntags Karten. An eine Ausbildung der Kinder, gar seiner zwei Töchter Maria und Ursula, ist nicht zu denken, höchstens an eine Ausstattung für Beruf oder Heirat. Aus diesem armseligen Leben im Dorf scheint kein Ausbrechen denkbar. So tief verinnerlicht ist dieses Gefühl, daß der jüngste Sohn, Hans, es der Familienlegende zufolge nur kurz im Klagenfurter Priesterseminar aushält. Bereits nach wenigen Tagen kehrt er heim und greift sofort - es ist Samstag - zum Besen, um den Hof zu kehren. Dann beginnt der Krieg. Alle drei Söhne werden zur Wehrmacht eingezogen und an die sich immer weiter ausdehnenden Fronten von Hitlers Großreich geschickt. Daheim in Griffen steht nun im düsteren Herrgottswinkel unter dem Kreuz der geheimnisvoll leuchtende Volksempfänger, dem andächtig gelauscht wird. Maria schreibt einem der Brüder im Feld: »Ich schaue auf der Landkarte, wo Du jetzt sein könntest.« Als erster fällt im Juli 1943 der bereits mehrfach verwundete Gefreite Hans Siutz mit gerade einmal zwanzig Jahren. Er liegt im Norden Rußlands auf dem »Heldenfriedhof Nowo Pawlowka« begraben. Am 2. November findet der Obergefreite Gregor Siutz auf der Krim den Tod. Auch von ihm ist die Grabstätte bekannt: Er ruht auf dem Friedhof von Dshankoi im Grab Nr. 375. Der junge Handke wächst in einem Trauerhaus auf. »Die geliebten Toten meiner Mutter, das lag in der Luft.« Es ist eine bedrückende Atmosphäre, in welcher »der Verschollene, anders als ein mit Sicherheit Toter, den Angehörigen keine Ruhe ließ, sondern ihnen, ohne daß sie das Kleinste tun konnten, mit jedem Tag neuerlich wegstarb«. Oft geht das Kind an die alte Truhe des Großvaters, die auf der hölzernen Galerie steht. In ihr hat der Ote nicht nur seinen Bajonettdolch und die Gasmaske aus dem Ersten Weltkrieg verstaut, sondern auch Bücher werden in ihr aufbewahrt: »Es gibt ja so alte Bücher, die noch in den Truhen herumliegen. Ich zumindest kannte das, ich bin so in einem Bauernhaus aufgewachsen. Da war so eine Brüstung im ersten Stock, da gab es eine Truhe. Da habe ich immer gelesen. Da fand ich all die Bücher, und vieles von diesen Büchern ist mir noch ganz verschwommen in Erinnerung. Manches verwechsle ich einfach mit Erlebtem und mit Gelesenem.«

Erscheint lt. Verlag 4.11.2010
Zusatzinfo Mit zahlreichen Fotos, Faksimiles von Tagebuchseiten sowie Zeichnungen und Skizzen
Verlagsort München
Sprache deutsch
Maße 135 x 215 mm
Gewicht 613 g
Einbandart gebunden
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Germanistik
Schlagworte Handke, Peter; Biografien/Erinnerungen
ISBN-10 3-421-04449-X / 342104449X
ISBN-13 978-3-421-04449-5 / 9783421044495
Zustand Neuware
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