Die Schwarze Kutsche - Hans Haverkampf

Die Schwarze Kutsche

Roman im heißen Sommer 1759

(Autor)

Buch | Hardcover
296 Seiten
2019
Dielmann, Axel (Verlag)
978-3-86638-281-7 (ISBN)
22,00 inkl. MwSt
Der langjahrige Stadtbau-Dezernent Frankfurts Hans Haverkampf unternimmt in seinem zweiten literarischen Buch eine packende Zeitreise in den Sommer 1759.
Drückende Hitze liegt über der Stadt, die ihm baulich, geographisch wie historisch bestens vertraut ist: Wir lernen Susan und Melissa Hugenheim kennen, die mit ihrem Hauslehrer Michel Schneemilch zum 100-jahrigen Jubilaum des vaterlichen Wollgroßhandels ein Schaferspiel einüben. Durch Zufall gerat der Medizinstudent Jakob Kreuzer unter die Probenden - und Susan überredet ihn für die Rolle des fremden Schafers. Hauslehrer Michel hat personliche Motive, der sich trotz Standesunter- schieden zwischen Jakob und Susan anbahnenden Nahe Steine in den Weg zu legen ...
Die beginnende Liaison bleibt nicht die einzige zwischen den Familien. Die pietistisch frommelnde Melissa wird in der Verbindung mit Lorenz, dem zweiten Sohn des Patriarchen Adam Kreuzer, zur talentierten Geschaftsfrau. Was aber haben Wolltuchhandel und Eisenverarbeitung in Kriegszeiten gemeinsam? Sie werden zu Uniformen und Waffen - immerhin spielt das Buch mitten im Sieben- jahrigen Krieg, was Hans Haverkampf in vielen Strangen des Romans kenntnisreich hinterfüttert: "Dieser historische und kulturhistorische Diskurs ... macht für mich den großen Reiz dieses bemer- kenswerten und eigenwilligen Erzahlwerks aus", sagt Harry Oberlander, der langjahrige Leiter des Literaturforums Hessen, über das an Figuren und Handlungsstrangen pralle Buch.
Gigantische Summen pumpen die Antagonisten Britannien und Frankreich in die Erbfolgekriege. Entsprechend entwachst die Auftragslage der Gesellschaft Hugenheim&Kreuzer rasch den nicht unbescheidenen Frankfurter Dimensionen. Neid entsteht, verbunden mit Intrigen. Als schließlich Michel Schneemilch Susan Hugenheim entführt, heftet sich ein Gerücht an seinen Namen: Ist er Jude? Führt der Skandal womoglich zu einem Pogrom?
Der Bankier Cornelis Kuypers scheint an alledem nicht unbeteiligt zu sein. Er verfügt offenbar über unbegrenzte Mittel, schreckt aber in seinen europaweiten Ambitionen auch vor Drohungen und Gewaltanstiftung nicht zurück. Das alles trifft Hugenheim&Kreuzer empfindlich.

Hans-Erhard Haverkampf ist Wirtschaftswissenschaftler. Ab 1975 war er Mitglied des Frankfurter Magistrats und wirkte hier bis 1989 als Baudezernent und entwickelte zusammen mit Hilmar Hoffmann das Frankfurter Museumsufer. Danach freiberufliche Tätigkeit. Von 1997 an leitete er den Neubau des Bundeskanzleramtes in Berlin und zweier Bauten des Bundestages. 2003 bis 2005 Geschäftsführer der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Anschließend war er in verschiedenen kulturellen Bereichen tätig. Nach diversen Veröffentlichungen war »Meercazzing« (ISBN 978-3-86638-167-4) sein erster Erzählband. »Die Schwarze Kutsche« ist, nachdem er zwischenzeitlich weitere essayistische Publikationen vorgelegt hatte, unter anderem ein lesenswertes Buch über Walter Benjamin, sein erster Roman.

Teil I Die Welt passt in kein Schäferspiel 7
Max d‘Or
Zu viel der angemaßten Nähe
Kunst rettet Leben
Das Bier, die Maid, das Bett aus Kohlen
Nach dem Sieg
Sind Zufälle grundlos?

Kapitel II Eine Leidenschaft, die von der Tarnung lebt
Und noch ein Brief
Über das Vertrauen
Was die Welt zusammen hält
Was zählt, bist Du nicht selbst
Krieg ist auch ein Handwerk
Der Seher vom Dorfe, Oper
Das Netz wird dichter
Im Wingert
Familiensegen

Kapitel III Michel verliert, aber gibt nicht auf
Er oder ich und noch etwas
Wer schreibt, bleibt – leider 
L’Homme Machine?
Über Dach zu fliehen?
Dem Anschein nach
Michel schreibt sich die Welt zu Recht

Kapitel IV Der Krieg spaltet, doch das Kapital vereint
Politik buchstabiert sich C-l-u-b
Bei Peter
Trudel, Tannhauser und Wetzel
Der kleine Krieg im großen
Familienschmelze
Die Welt im Liegen
Theater­pläne 
Handel aller Orten, auch das Schicksal handelt mit

Kapitel V Michel gewinnt, aber gibt auf
Wer Opfer, wer Täter?
Linksrheinisches Unheil
Rechts-rheinisches Warten
Gottesurteil
Ein Sprengel namens Engelthal
Melissa

Kapitel VI Le Monde comme il va
Anders denken
Der Arzt und sein Patient
Die Falaise Lohr­berg
Cornelis Kuypers
Die Verlobung
Der Himmel so weit

Harry Oberländer, langjähriger Leiter des Literaturforums Hessen, sagt: „Die ironische Distanz des Autors ist in einzelnen Kapiteln zu großer Satire gesteigert, die sich beispielsweise an der Hinterzimmer-Politik von Mitgliedern des Rats der Stadt Frankfurt entzündet. Ich gehe davon aus, dass hier Erfahrungen des Autors eingegangen sind, die Jahrhunderte spielend überschritten haben. – Ein großes und anspruchsvolles Lesevergnügen.“

Max d’Or Der Reichswald beginnt im Süden dort, wo Frankfurt endet. Laub­­fall schon im Juli? Die Hitze des Sommers 1759 kriecht unter jeden Schatten. Doch das beflügelt Jakob Kreuzers Schritte eher des nahen Zieles wegen: Bronzeguss und Eisenschmelze Adam Kreuzer im Osten der Stadt. Jakob kennt die Schmiedehitze, gegen die das Me­tall sich wehrt. Mit ihr ist er aufgewachsen. Sie ist es jetzt, die das vertraute Bild des Maintales ins Unwirkliche verzerrt, als er aus dem Schutz des Waldes tritt. Im Spiegelzauber schiebt ein flimmerndes Dunstpolster sich unter das Taunusgebirge und scheint es emporzutragen. Wie auf der Flucht erstarrt, duckt sich die Häuserherde im Alt­stadtgeschachtel um den Dom. Der Stundenschlag verheißt noch Leben dort. Aus schwülen Turbulenzen quellen junge Wolken auf, wild und richtungslos, nicht stark genug, die Sonne vollends zu ver­schleiern. Sie schießt Strahlenbündel durch das löchrige Gewebe, erzeugt plötzlichen Glitzer auf dem Fluss. Eine Rauchsäule steht im Osten, steil und starr, will nicht fortwehen. Die Windbälge bla­sen eine neue Schmelze an. Jakob tritt zögernd auf die schattenlose Chaussee. Von der Wetterau her, wo die Franzosen liegen, trübt ein dunk­les Grau mit schwarzem Schild den Himmel, warnt mit fernem Grummel. Jakobs düstere Gedanken tauchen darin ein: Das zielt aufs Tal, auf Frankfurt. Eine Mulde für das Unwetter, sich darin zu suhlen. Bei Laune folgt ein tobsüchtiger Tanz der Elemente. Blitze, aufgespleißt zu Wurzeln, werden Nahrung finden in dem Altstadt-Zunder, für Jakob nicht das erste Mal. Die Feuerlohe drückt dann die regenschweren Wolken tausende Fuß nach oben, dem steten Glast der Sonne näher. Es platzt die Blase irgendwann und schüttet Wassermassen auf die Stadt – just als die ersten Eimerketten pen­deln. Ein Hohn für die Helfer, Segen aber für alles, das bleiben darf, wie es ist. Doch die Sturzbäche von den Bergen sammeln sich schon zur Nachhut der Zerstörung. Jakobs Gepäck wiegt leicht beim Gang zu Tal. Es war mal schwerer – bis heute Morgen. Den Grund muss er dem Vater offenbaren. Auch wenn der Vater ihm verzeiht, die Schuld an dem Geschehen hängt ihm weiter an. Das, was Jakob so beschwert, verkocht sich mit der Tageshitze zu einem Sud. Seine Sinne beginnen ihn zu täuschen. Das Summen einer Libelle lärmt, wird zum Kettenrasseln. Das Tier steht in der Luft. Mit seinen blinden Augen starrt es auf dich, drohend, vogelgroß. Woher nimmt es nur die Kraft? Mit jedem fernen Donner scheint das Taunusgebirge, schon auf dem Luftmeer schwimmend, ins Schaukeln zu geraten. Die Post, von Heidelberg her, hatte vortags am Relais in Sprend­lingen pausiert. Die klare Nacht sog die Hitze ab. Als schmale Kost für den Tag ließ sie auf den Pflanzen Tau zurück. Der Feind dieser Tage, die Sonne, löst in der Frühe noch Entzücken aus, wenn sie im roten Morgen badet. Und schneller nach Frankfurt war es allemal zu Fuß. Sprendlingen schließt sich dem Reichswald im Süden an. Die Isenburgs nutzen ihn im Osten, der Westen gehört der Stadt. Vogellaut, die Andacht in der Waldeskühle, eine Würze in der Luft, von der seine Lungen Vorrat wollen, die gelungene Mission für die väterliche Schmelze, das verstopft Jakob den Hals vor Glück, er singt es laut heraus. Jakob schnitzt sich einen Stecken aus Fundholz. Das darf man aufnehmen, kein Waldfrevel also. Mit seinem ‚tock‘ zum Schritt entsteht der Fußtakt zum Lied. Jakob jauchzt dazwischen ohne Grund. Im Hospiz und im anatomischen Theater der Heidelberger Me­di­zin lernte er schon als Famulus, dass der Tod der Meister bleibt. Hier, im Born des Waldes, in erhoffter Unbeschwertheit des Familien­bundes, will Jakob das für kurze Zeit vergessen. Auch ist er stolz, er bringt mit, wozu der Vater ihm den Auftrag gab. Der Schwa­ger Ludwig, in Heidelberg zu Geld gekommen, war erbenlos verstorben. Vergeblich hatte Jakob seine werdende Kunst an ihm er­probt. Dem bischöflichen Stuhl war nichts nachgelassen, und so fiel alles an die Familie Kreuzer: Bürgerliche Häuser am Ufer des Neckar kamen zum Verkauf durch Jakob, umfängliche Feldflur in Waldhilsbach. Mit hinterlassenem Barem beim Bankhaus Stern ein Schatz von 15000 Max d’Or insgesamt, auf Wunsch des Vaters ge­teilt in 30 Schuldnoten vom Bankhaus Stern. Nach Laufzeit von drei Jahren mit Zins einzulösen in Heidelberg oder Gontard in Frank­furt. Indossament dazwischen bliebe möglich, auch Einlösung in Grenzen, doch mit Abschlag. In einer kurzen Pause des Verschnaufens merkt Jakob, er ist nicht allein im Wald. Auf ein geflüsteres ‚Los!‘ stürmen drei Gesellen auf den Weg und sperren ihn. Forstknechte der Isenburgs oder Räuber? Lied weg, Glück weg. Jakob wartet. Die müssen sich erklären. Aber warten schwächt bei so etwas. Sich als Herr sofort empören, fluchen gegen die Knechtsgesichter, ein Ausfall nach vorn, Hiebe mit dem Stecken, Drohung mit dem Strick, dann duckt sich Lumpenvolk. Der Anführer ist ein Hund. Schläge kennt er zu genüge. Aber wenn keine, dann schnappt er selber zu. Als Jakob stumm verharrt, wagt sich der Bulldog vor. Eine Beute merkt er, sie wehrt sich nicht, leicht zu packen, seinem Isenburger Herrn vor die Füße! – ‚Was er hier das Wild verlärme mit seinem Singsang und was das für ein Stecken sei an seiner Seite, geschnitten von frischem Holz, Waldfrevler! Er sei hiermit festgesetzt!‘ Jakob sieht in den Lauf der Flinte, doch das Schloss hat keinen Stein, sein Moment. Jakob schiebt den Lauf zur Seite. „Schluss jetzt!“ Seine Stimme bleibt aber hohl. In seinem Schritt nach vorn liegt nicht die geübte Kraft der Herrschaft über Leben und auch den Tod von Niederen. Die Drei ringen ihn zu Boden, entreißen ihm die Tasche, schleppen ihn gebunden fort. ‚Die Tasche‘, fiebert’s ihm im Kopf. Jakob lässt den Blick nicht von ihr. Doch der Bulldog fürchtet sei­nen Blick, so drückt er ihn im Lauf nach unten. Äste knacken un­ter Jakobs Sohlen, schlurfend, stolpernd sein Gang, die Sicht ist ein­ge­­engt auf diesen Teppich, wie ständig weggezogen unter ihm. Die Beine haben Mühe mitzuhalten. Das Trio spornt sich jetzt zur Eile, hetzt schweigend vorwärts, will seine Beute schnellstens an die Herr­­schaft geben. Ein Lob soll sein und auch Belohnung. Brannt­wein gibt es nicht für Heller. Im Zwangsgeschirr der Drei, im Einerlei des Vorwärtstappens ordnet Jakob seinen Kopf. Die Richtung geht zum Mustergut der Isenburgs hin im Süden. Dort kann er sich dem Vogt erklären, vor allem, wer er ist in Frankfurt. Dieser wird der Gewalt ein Ende setzen und ihn mit Buckeln günstig stimmen. Den Sohn des Rates Kreuzer in Frankfurt festzunehmen, aus nichtigem Anlass, das Ge­­­päck zu konfiszieren … Der Streit um Holzlieferungen an die Reichs­­stadt war doch jüngst beigelegt! Besser also ist’s, sich den drei Scher­gen noch zu fügen. Die werden ihren Eifer büßen müssen. Doch ande­rerseits …Viel zu sehr ist er Menschenfreund ge­worden in der Heidelberger Zeit. Keine Form des menschlichen Zer­falls ist ihm mehr fremd. Wenn ein Sterbender Gott verflucht, zum Teufel betet, er möge die Doktoren-Brut so quälen wie sie ihn, seiner Familie droht, die ihn aufgegeben hat … Jakob säubert dem Mori­bunden noch die Mundhöhle, dass er nicht ersticke. Leidliebe nennt er das, ein selbst erfundenes Wort. Aber wie kann einer noch sich selbst behaupten, wenn er sich nicht zu wehren weiß? Doch als die Drei im Überschwang des nahen Zieles sich be­lustigen, und der Bulldog ihn am Haarschopf hinter sich zieht wie ein Stück Vieh, springt etwas um in ihm. Aus lau wird heiß und kalt zugleich. Wut steigt in Wellen auf, bäumt sich zur Springflut. Hängen sollen die Galgenstricke in Frankfurt. Die Isenburger müs­sen sie ausliefern. Sein Professor Schollbart in Heidelberg will in Gehirnen von Gehängten suchen, wie sich dort die schwarzen Säfte der Milz ablagern und so den Sitz des Bösen bilden. Die drei Hirne soll er haben. Mühsam nur gelingt es Jakob, sich zu fassen. Ein Moment muss ihm genügen, der ihm günstig ist, so verwegen es auch sei. Dem Frankfurter Linienbataillon hatte er nicht nur als Feldscher gedient. Töten mussten sie üben mit Schweinsfedern und Spuntbajonetten im städtischen Schlachthaus, die überraschten Tie­re erschießen obendrein, ein ganzes Jahr zur Übung für Kaiser, Reich und Vaterstadt. Der Waldboden endet, Jakobs holzbesohlte Schuhe klappern über Feldsteinkloben, dem Echo nach ein großer Hof. Pferdeschnauben, Stallgeräusche bäuerlicher Wirtschaft, scharf riecht die Luft da­nach. Stimmen verstummen, „Halt!“, tönt es. Stiefelschritte nähern sich. Der Bulldog reißt ihn hoch und Jakob schaut in ein junges Offi­ziersgesicht, schon zu kantig, hart und fordernd. Er ist ihm unbe­kannt, doch aus hiesigem Adel mag der sein. Ein Adjunkt steht bei ihm. Man taxiert sich wortlos. Dahinein stolpert der Bulldog mit dem Hergang des Geschehens. Obwohl er gewaltig aufbauscht, hört sein Herr den nichtigen Anlass sofort heraus. Maliziöses Lächeln. Es bleibt ihm nur noch abzuschätzen: Wird der Fremde Ärger machen oder wächst aus ihm auch Vorteil? Wer steht in Frankfurt hinter ihm? Jakobs leinene Kleidung bis zum Kniebund, einfach, aber sauber, ist lax dem Sommer angepasst. Die Seidenweste, alter­tümlich lang im Schnitt, wohl geerbt, zeugt von Herkunft. Aber offe­ne Haartracht, das spricht dagegen! Apostel oder Insurgent? Der Forstknecht sprach von einer Tasche? Noch redet von den beiden keiner. Der Junker zeigt unerwartet wenig Contenance, kostet Demütigung aus. Mustere dein Opfer nur wie Schlachtvieh. Das bricht seinen Willen. Jakob bringt kein Wort heraus. Wut schnürt ihm die Kehle zu. Wie um zu überlegen, geht der Andere ein paar Schritte gesenkten Kopfes hin und her. Blauer Gehrock, bestes Tuch, mit hochgestelltem Kragen, gelbe Weste, schwarze Stiefel aus Kalb mit brauner Stulpe, teure englische Mode vom letzten Stand. Der Andere deutet Jakobs Tränen falsch. Hat er ihn so schnell schon weich? Jetzt eine Geste wie aus Nächstenliebe, und das Opfer wird dem Täter danken. „Bindet ihn los.“ Doch er lässt ein Raubtier von der Kette. Aus der Wucht einer Drehung drückt die Faust dem Bulldog die Kiefer ein. Den Kumpan trifft Jakobs Fuß am Bauch, sodass er jaulend abgeht. Fassungslos macht wehrlos. Das reicht beim Adjunkt des jungen Stutzers, sei­nen Degen an Jakob zu verlieren. Die Spitze steht ihm danach an der Kehle. Triumph für Sekunden. Jakob will jetzt reden, sagen, was er zu fordern hat, will wieder der Kaufmanns-Jakob sein, der verhandeln will und kein Blut vergießen. Sein Gegner aber sieht es anders. Da erhebt sich etwas Dunkles gegen seinen Adelsstand. Das ist mehr als Händel, das ist ums Prinzip. Der Fremde muss sterben und zwar sofort und vor den Augen aller hier, die wohlmöglich … Der eitle Adjunkt heult um sein Gesicht, das Jakob ihm gekerbt hat, bricht in die Knie. Der junge Herr ist zu beeindruckt von der Körperschläue seines Feindes, als dass er einen ersten Ausfall wagen würde. Beob­ach­ten, Ruhe gewinnen. Der hat auch seine schwachen Seiten! Die Degen­spitzen zittern beiden. Abgekämpft ist der Fremde, man muss ihn reizen, wie einen Bullen, der sich vor dem Messer flüchtet, blind soll er werden vor Wut und Angst. Auch Jakob erkennt jetzt: Mein Leben gegen seins. Die Bürgerehre ist es wert. Aus dem Gutshaus stolpern zwei Soldaten in hanauischer Uni­form, wie das? Unschlüssig warten sie auf ein Signal zum Eingriff. Jakob gegen drei, das wird nicht langen. Aber noch will der Junker sie nicht an seiner Seite, noch ist Stolz in ihm. Jakob treibt ihn zum Gutshaus hin. Über den Schöpfeimer dort neben dem Brunnenrohr soll er stolpern. Attacke dann und fliehen. Aber die Tasche mit den Wertpapieren, soll er ohne sie? … Aus dem Haustor tönt erneut Geräusch: Zwei Diener im Livree, die einen Sitzstuhl tragen. Vor ihn hin fällt just der Junker durch den Eimer. Sekunden zählen für Jakob. Doch in den Ausfall gegen seinen Feind am Boden ertönt das zweite „Halt“ an diesem Morgen, ein stumpfes „Halt“, hohl und rostig. Und das Gesicht des Rufers, sein Habit dazu, das kennt in Frankfurt jeder aus dem Rat: Friedrich Carl von Bentwig, Fiskaldirektor für den Fürsten Isenburg. Ärmlich hat er angefangen, Gnadenstudium als Jurist, in Diensten fast immer schon der Isenburgs. Die Debit-Kommission und die Domänenkammer des Fürsten liegen in seiner geschickten Hand. Er weiß die Gier der fürstlichen Verwandtschaft zu zügeln, die Kreditoren in Schach zu halten und im Geheimen auswärts auszuhandeln, was dem Fürsten peinlich wäre. Dafür hat der alte Isenburg ihm das ‚von‘ geschenkt. Und doch raunt man, der neue Fürst Wolfgang Ernst II. habe ihm die reputable Wohnstatt Neuhof nur zugewiesen, ihn aus den Geschäften allmählich zu ver­drängen. Ein kranker Bentwig ist ein schlechter Bentwig und der neue Günstling Christoph Brauer, wirklicher geheimer Rat schon jetzt, drängt in des Fürsten Nähe. An Bentwig ist das Jahrhundert äußerlich erstarrt. Spitzenjabeaus, die reichbestickte Weste bis weit über den Schoß hinaus. Seidene Beinkleider, Goldtress oben, die Allonge, die ihm im frischen Zug der Außenluft das Gesicht verweht, zahnlos spitz das Kinn. Jakob sah ihn schon im Weidenbusch in Frankfurt, wie er seinen Braten, vom Diener vorgekaut, verschlang. Die Beine atrophisch dünn, der Bauch darüber aufgebläht, schwarzer Schnee von Schnupftabak, ver­weht auf weißer Hemdbrust. Als Zeichen seiner Wehr ein schwar­zer Stock mit schwerem Silberknauf, quer gelegt über die Knie, beide Hände klammern sich darum. Doch deren Macht ist schwach geworden. Aber was ihn wirklich prägt, sind seine klaren, eigentümlich jugend­frischen grünen Augen, in einen Faltenbalg gefasst. An den Tragestuhl gefesselt, machen sie ihn geisterhaft lebendig. Durch­schaut, ertappt, schon abgestraft fühlt sich ein jeder, der bei ihm nur Vorteil sucht und lässt es lieber bleiben. Noch schlimmer er­geht es Arglosen, die einen ehrlichen Handel mit ihm suchen, und Opfer seiner Listen werden. Einzig die Hartgesottenen respektiert er, die so sind wie er, die ihm wirklich drohen können und im Ad­vokatenstreit den längeren Atem halten. Der alte Adam Kreuzer ist so einer, zuständig im Rat der Stadt für die Holzzufuhr nach Frankfurt … „Schluss mit dem Geraufe, nach oben beide, zu mir.“ Gelallt klingt das aus dem leeren Mund, aber ohne Pardon. Er schlägt auf die Arm­lehne mit dem Knauf, dass es kracht. Jakob tut gut, dem Alten zu ge­horchen, hält die Klinge aber offen. Der junge Bentwig rappelt sich, auch bei ihm ist nichts entschieden. Der Alte bemerkt die Krise seines Sohnes, zieht beide Waffen ein. In Linie geht es die breite Treppe hoch: Soldat, der ramponierte Sohn, Soldat, Jakob, und der Adjunkt, noch schluchzend, hinterdrein. Der trägt die Tasche unterm Arm. Man nimmt Aufstellung vor dem Alten. Der Stock zeigt auf den Jungen: „Du schweigst, bis ich dich frage!“ Helle Wut steht im Gesicht des Sohnes. Er ist vor allen hier blamiert, nach vorne sprin­gen möchte er, dem alten Grind das Messer in den Hals, dem Ge­fan­genen gleich dazu. Doch zitternd gibt er sich geschlagen. „Wer ist der Bursche?“, will der Alte wissen. Zum Fremden ist der Ad­junkt gefragt. Bücklinge machend, verhaspelt er sich schon in der Titelwolke des von Bentwig. Der Alte haut die Krücke auf den Tisch: „Jetzt kurz und knapp, wer ist der Mann hier, und was ist mit dieser Tasche?“ Der Adjunkt weiß, wie der Alte auch aus dem Trag­stuhl prügeln kann. Die Tasche legt er eilends auf den Tisch. Die Antwort: „Was in dieser ist und wer ihr Träger sei, es blieb die Zeit nicht, das zu prüfen. Edelhochwohlgeboren kamen ja sofort.“ – „Mein kluger Junge wollte also einen töten, ohne seinen Stand zu kennen, ohne Prüfung der Umstände, die ihn in unsere Hände brachten, ohne ihn zum Inhalt dieser geheimnisvollen Tasche zu be­fragen. So mach’ nur weiter, Sprössling. Du glaubst nicht, wie rasch die Gunst des Fürsten welkt. Der schickt dich dahin, wo du hingehörst: Ins Wirtshaus als Duellant und Säufer.“ – Die grünen Augen fangen nun den Blick von Jakob. Der Stock klopft die hohlen Dielen, will sagen: „Komm her!“ Der Silberknauf fällt schwer auf Jakobs Brust. „Rede!“ Knapp die Antwort Jakobs: Wer er sei, woher, wohin und mehr dazu, warum und wie man ihn schikanierte, und dass er unbedingte Genugtuung erwarte. Keine Antwort. Jakob beobachtet schon seit Minuten, dass Fliegen sich versammeln auf dem Kopf des alten Bentwig, mehr und mehr in der Mittagshitze. Unter der Allonge merkt der davon nichts. Was die Fliegen anzieht, ist eine Dünstung vom Kopf her, die Jakobs Nase empfindlich reizt. Der Alte nimmt sich jetzt die Tasche vor. Ein Etui mit ärztlichen Instrumenten, dies und jenes, das des Jakob Rede stützt … Dann die Papiere, das kunstvolle Signum ‚Stern‘, die Summen gesperrt darunter. Die Augen bohren sich förmlich in den Text. Die Blätter zittern in der welken Hand, ein kurzes Murmeln. „Zurück jetzt auf den Hof. Alle! – Der da bleibt“, wieder meint er Jakob. „Aber Vater, der ist …“ – „ … gefährlich. Ich sah es selbst vorhin. Für dich vielleicht, Arno, nicht für mich.“ Arno? Jetzt kann auch Jakob sich erinnern. Unrühmlich, wie der sich vor Fremden als ade­lig ausgibt, was nur sein Vater darf. Mit einem Franzosenoffizier schlug er sich vor kurzem wegen einer aufgeblasenen Nichtigkeit, im Rausch die beiden, der Franzose tot. Der alte Bentwig wollte es den Frankfurtern anlasten, log und bog sich nach Kräften, doch ohne dass sein fürstlicher Herr ihm beisprang. Der Zivilgouverneur der Franzosen in Frankfurt, Conte Thoranc, drohte mit lebenslangem Arrest. Freikaufen musste Bentwig den Sohn. Das raubte vieles weg, was der Vater in Jahren angespart hatte. „Geht, Jakob Kreuzer, Ihr werdet von mir hören.“ Immerhin, von der knechtischen Einzahl der Anrede ist er runter. „Dann mit der Tasche und den Papieren“, fordert Jakob. Der Bentwig schiebt die Dokumente hinter sich. „Die Tasche ja, der Rest verbleibt.“ Uner­wartet schiebt sich ein breiter Speichelfluss über Lippen und das Kinn des Alten. Will er das Sputum einhalten aus Scham und aus Entsetzen, so würgt es ihn wie Gift. Doch dem Bentwig fließt es aus. Er ächzt, besudelt sich. „Habt Ihr einen metallischen Geschmack im Mund?“, will Jakob wissen. Ein zwischen den krampfhaft geschlos­senen Lippen ausgestoßener Laut soll ‚ja‘ bedeuten. Mercurium, zu scharf dosiert, weiß Jakob aus Erfahrung. Ein Rinnsal kriecht honigdick aus der Matrix der Allonge dem Bentwig auf die Stirn. Vorsichtig hebt Jakob die Perücke an. Bestätigt findet er den Verdacht: Haarausfall in kleinen Ringen, Papeln an den kahlen Stellen, die Polster aus Charpie sind durchgenässt. Lues im III. Stadium, den Rest zu untersuchen, will sich Jakob jetzt er­sparen. Körperweit wird es das Gleiche sein. Der Alte hat sich ihm ergeben. Vielleicht weiß es der Heidelberger Bengel besser zu behandeln als der Offenbacher Hofarzt Uhl. – Jakob, du lernst es nicht! – Mit List könnte er dem Bentwig jetzt die Schuldnoten entwinden, apathisch, wie der hingesunken ist. Aber er denkt wieder nur als Arzt, das Andere ist wie abgetrennt. „Morbus mercurialis“ doziert er. „Lasst das Sputum laufen, Bentwig, drängt es nicht zurück, hier in den Napf. Trinkt so viel als möglich, bis der Geschmack im Munde weicht. Das Uhlsche Mercurial-Salz ist hiermit abgesetzt.“ Jakob verschreibt ihm für den Schädel Hoff­manns­tropfen mit eingelöstem Bienenharz, halbtäglich zu er­neuern, dünne Binden darüber gelegt, von einer luftigen Haube ge­­hal­ten. Alles Zeug solle man nach dem Wechseln kochen. Die Pil­len aus Brotteig mit eingewalktem Opium zunächst weiter wie er wolle. „Und merkt euch. Alle Säfte, die ihr sekretiert, sind hoch an­steckend. – Ich komme ohnehin zurück.“ Sagt’s, greift seine Tasche und nimmt dann nur zwei Sternsche Schuldnoten – „Das ist mein Lohn für heute.“ Der Alte wehrt es nicht. Die schwere Saaltür pflügt, als Jakob sie aufschlägt, zum Vorraum in die Meute. Gelauscht ist worden. Ängstlich weicht man vor ihm zurück. Jakob mit der Schnabelmaske eines Pestdoktors: Die Lau­scher wären überstürzt geflohen. Der Hof liegt abgestorben in der Mittagshitze, auch der Wald bleibt tonlos, als er Jakob schluckt.

Max d'Or
Der Reichswald beginnt im Süden dort, wo Frankfurt endet. Laubfall schon im Juli? Die Hitze des Sommers 1759 kriecht unter jeden Schatten. Doch das beflügelt Jakob Kreuzers Schritte eher des nahen Zieles wegen: Bronzeguss und Eisenschmelze Adam Kreuzer im Osten der Stadt. Jakob kennt die Schmiedehitze, gegen die das Metall sich wehrt. Mit ihr ist er aufgewachsen. Sie ist es jetzt, die das vertraute Bild des Maintales ins Unwirkliche verzerrt, als er aus dem Schutz des Waldes tritt. Im Spiegelzauber schiebt ein flimmerndes Dunstpolster sich unter das Taunusgebirge und scheint es emporzutragen.
Wie auf der Flucht erstarrt, duckt sich die Häuserherde im Altstadtgeschachtel um den Dom. Der Stundenschlag verheißt noch Leben dort. Aus schwülen Turbulenzen quellen junge Wolken auf, wild und richtungslos, nicht stark genug, die Sonne vollends zu verschleiern. Sie schießt Strahlenbündel durch das löchrige Gewebe, erzeugt plötzlichen Glitzer auf dem Fluss. Eine Rauchsäule steht im Osten, steil und starr, will nicht fortwehen. Die Windbälge blasen eine neue Schmelze an.
Jakob tritt zögernd auf die schattenlose Chaussee.
Von der Wetterau her, wo die Franzosen liegen, trübt ein dunkles Grau mit schwarzem Schild den Himmel, warnt mit fernem Grummel. Jakobs düstere Gedanken tauchen darin ein: Das zielt aufs Tal, auf Frankfurt. Eine Mulde für das Unwetter, sich darin zu suhlen. Bei Laune folgt ein tobsüchtiger Tanz der Elemente. Blitze, aufgespleißt zu Wurzeln, werden Nahrung finden in dem Altstadt-Zunder, für Jakob nicht das erste Mal. Die Feuerlohe drückt dann die regenschweren Wolken tausende Fuß nach oben, dem steten Glast der Sonne näher. Es platzt die Blase irgendwann und schüttet Wassermassen auf die Stadt - just als die ersten Eimerketten pendeln. Ein Hohn für die Helfer, Segen aber für alles, das bleiben darf, wie es ist. Doch die Sturzbäche von den Bergen sammeln sich schon zur Nachhut der Zerstörung.
Jakobs Gepäck wiegt leicht beim Gang zu Tal. Es war mal schwerer - bis heute Morgen. Den Grund muss er dem Vater offenbaren. Auch wenn der Vater ihm verzeiht, die Schuld an dem Geschehen hängt ihm weiter an. Das, was Jakob so beschwert, verkocht sich mit der Tageshitze zu einem Sud. Seine Sinne beginnen ihn zu täuschen. Das Summen einer Libelle lärmt, wird zum Kettenrasseln. Das Tier steht in der Luft. Mit seinen blinden Augen starrt es auf dich, drohend, vogelgroß. Woher nimmt es nur die Kraft? Mit jedem fernen Donner scheint das Taunusgebirge, schon auf dem Luftmeer schwimmend, ins Schaukeln zu geraten.
Die Post, von Heidelberg her, hatte vortags am Relais in Sprendlingen pausiert. Die klare Nacht sog die Hitze ab. Als schmale Kost für den Tag ließ sie auf den Pflanzen Tau zurück. Der Feind dieser Tage, die Sonne, löst in der Frühe noch Entzücken aus, wenn sie im roten Morgen badet. Und schneller nach Frankfurt war es allemal zu Fuß. Sprendlingen schließt sich dem Reichswald im Süden an. Die Isenburgs nutzen ihn im Osten, der Westen gehört der Stadt.
Vogellaut, die Andacht in der Waldeskühle, eine Würze in der Luft, von der seine Lungen Vorrat wollen, die gelungene Mission für die väterliche Schmelze, das verstopft Jakob den Hals vor Glück, er singt es laut heraus. Jakob schnitzt sich einen Stecken aus Fundholz. Das darf man aufnehmen, kein Waldfrevel also. Mit seinem 'tock' zum Schritt entsteht der Fußtakt zum Lied. Jakob jauchzt dazwischen ohne Grund.
Im Hospiz und im anatomischen Theater der Heidelberger Medizin lernte er schon als Famulus, dass der Tod der Meister bleibt. Hier, im Born des Waldes, in erhoffter Unbeschwertheit des Familienbundes, will Jakob das für kurze Zeit vergessen. Auch ist er stolz, er bringt mit, wozu der Vater ihm den Auftrag gab. Der Schwager Ludwig, in Heidelberg zu Geld gekommen, war erbenlos verstorben. Vergeblich hatte Jakob seine werdende Kunst an ihm erprobt. Dem bischöflichen Stuhl war nichts nachgelassen, und so fiel alles an die Fa

Erscheinungsdatum
Verlagsort Frankfurt am Main / Niederrad
Sprache deutsch
Maße 125 x 210 mm
Gewicht 500 g
Themenwelt Literatur Historische Romane
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
Schlagworte Adelsfamilie • Bankgründung • Bergen-Enkheim • Eisengießerei • Erbfolgekriege • Frankfurt am Main • Französische Besatzung • Hauslehrer • Industrialisierung • Liebesroman • Lohrberg • Neu-Isenburg • Schäferspiel • Siebenjähriger Krieg • Stadtbau-Dezernent • Thoranc • Wollgroßhandel • Wolltuchhandel
ISBN-10 3-86638-281-2 / 3866382812
ISBN-13 978-3-86638-281-7 / 9783866382817
Zustand Neuware
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