Peter Szondi - Hans-Christian Riechers

Peter Szondi

Eine intellektuelle Biographie
Buch | Softcover
281 Seiten
2020
Campus (Verlag)
978-3-593-51222-8 (ISBN)
39,95 inkl. MwSt
Peter Szondi genießt in der Intellektuellengeschichte der Nachkriegszeit den Status einer Legende. Er ist einer der einflussreichsten Literaturwissenschaftler dieser Jahrzehnte und hat weit darüber hinaus gewirkt. Nicht nur seine bahnbrechenden Studien, sondern auch seine Freundschaft zu Theodor W. Adorno, Gershom Scholem, Paul Celan, Jacques Derrida und anderen, seine Geschichte als Shoah-Überlebender, sein Engagement im West-Berlin der Sechzigerjahre, seine intellektuelle Verve, sein dezentes und doch charismatisches Auftreten haben dazu beigetragen. Dieses Buch unternimmt den Versuch, Leben, Werk und intellektuelle Wirkung Szondis zusammenzuführen.Ausgewählt für die Shortlist des Opus Primum - Förderpreis der VolkswagenStiftung für die beste Nachwuchspublikation des Jahres 2020

Hans-Christian Riechers ist Germanist an der Universität Freiburg.

Inhalt
1. Einleitung 9
Wissenschaftsgeschichte 9
Persönlichkeitsgeschichte 15
2. Dialektik und Interpretation 19
Ein schmales Buch und eine lange Geschichte 19
Zur »Theorie des modernen Dramas« 29
Adorno und zwei junge Kritiker 33
Der Streit der Väter 38
Prästrukturalismus? Kanonisierung und Subsumtion 47
3. In Zürich und im Nach-Exil 54
Zürich, jene 50er Jahre 54
Sils und das Nach-Exil 56
4. Theorie des Tragischen 65
Kontinuität und Diskontinuität 65
Das Schicksal und das Tragische 71
Erste Wirkung und Kritik 78
»Deutsch-jüdischer Tragödiendiskurs« 85
5. Die Hoffnung und der Pfeil 90
Die (Re-)Etablierung Walter Benjamins 90
Hoffnung im Vergangenen 93
Der andere Pfeil 97
6. Parallelstellen 100
»Denn die Texte geben sich als Individuen, nicht als Exemplare« 100
Kritik der Parallelstellenmethode 108
Parallelstellen im Kontext: Rilke – Hölderlin – Celan 110
Engagement gegen die »Infamie« 116
Celans »Parallelstellen«: Der Meridian 121
Ein philologischer »Meridian« 125
7. »Mühlen des Todes« 128
Die Kontroverse mit Hans Egon Holthusen 128
Zur Geschichte und Gegenwart der Metapher 136
Interpretation und Selbstinterpretation 143
Konsequenzen in Frankfurt 145
40 Jahre danach 152
8. Professor in Berlin 155
Das Seminar am Kiebitzweg 155
Kollegen 165
Debatten um die Germanistik 175
Die »Unruhe der Studenten« 186
9. Jude in Deutschland und in Israel 200
Das »deutsch-jüdische Gespräch« 200
Jerusalem 204
10. Über Celan schreiben: Hermeneutik an den Grenzen 213
Celans Vermächtnis 213
Eine »noch ausstehende Interpretationslehre« 215
Intention auf die Sprache 220
Lecture, Supplement, Verwerfung 224
Anti-Lecture 234
11. Ende 244
Dank 250
Siglen 251
Literatur 253
Register 276

»Riechers kann schreiben und hat vor allem ein Gespür für die historische Person und ihre Umgebungen. Dem Autor gelingt es vortrefflich, zu verdeutlichen, warum Szondi ein Phänomen war und eine Schlüsselfigur, um Kultur und Gesellschaft der Fünfziger- und Sechzigerjahre in der Bundesrepublik zu erhellen.« Jörg Später, Süddeutsche Zeitung, 04.06.2020»Riechers' überzeugende Lesart, Szondis Werk als Engführung von Kritischer Theorie, Hermeneutik und Strukturalismus zu verstehen, verdeutlicht gerade vor dem Hintergrund der methodenpluralistisch zerfallenden Literaturwissenschaft der siebziger Jahre dessen Bedeutung für ein erkenntniskritisches Wissenschaftsverständnis weit über die Philologie hinaus.« Annette Wolf, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.06.2020»In der 'intellektuellen Biographie' versucht Hans-Christian Riechers nun eine erklärende Verbindung herzustellen zwischen dem Menschen Peter Szondi und dessen literaturtheoretischen Texten. Das funktioniert und betont die tragische Engführung zwischen Leben und Werk.« Katrin Diehl, Jüdische Allgemeine, 26.07.2020»Riechers Szondi-Biografie [...] sei zu lesen anempfohlen, weil sie in einer eleganten Wissenschaftsprosa ungelöste Probleme des vergangenen Jahrhunderts vergegenwärtigt und so ein wertvoller Beitrag auch zu aktuellen Debatten sein kann.« Jan Kuhlbrodt, Signaturen, 31.07.2020»Riechers gut lesbare, nicht selten urteilsstarke Darstellung lohnt sich schließlich gerade für solche Leser, die sich für Entstehung und Potentiale literaturwissenschaftlicher Werke interessieren.« Mike Rottmann, Geschichte der Philologien, 57/58 2020

»Riechers kann schreiben und hat vor allem ein Gespür für die historische Person und ihre Umgebungen. Dem Autor gelingt es vortrefflich, zu verdeutlichen, warum Szondi ein Phänomen war und eine Schlüsselfigur, um Kultur und Gesellschaft der Fünfziger- und Sechzigerjahre in der Bundesrepublik zu erhellen.« Jörg Später, Süddeutsche Zeitung, 04.06.2020

»Riechers' überzeugende Lesart, Szondis Werk als Engführung von Kritischer Theorie, Hermeneutik und Strukturalismus zu verstehen, verdeutlicht gerade vor dem Hintergrund der methodenpluralistisch zerfallenden Literaturwissenschaft der siebziger Jahre dessen Bedeutung für ein erkenntniskritisches Wissenschaftsverständnis weit über die Philologie hinaus.« Annette Wolf, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.06.2020

»In der ›intellektuellen Biographie‹ versucht Hans-Christian Riechers nun eine erklärende Verbindung herzustellen zwischen dem Menschen Peter Szondi und dessen literaturtheoretischen Texten. Das funktioniert und betont die tragische Engführung zwischen Leben und Werk.« Katrin Diehl, Jüdische Allgemeine, 26.07.2020

»Riechers Szondi-Biografie […] sei zu lesen anempfohlen, weil sie in einer eleganten Wissenschaftsprosa ungelöste Probleme des vergangenen Jahrhunderts vergegenwärtigt und so ein wertvoller Beitrag auch zu aktuellen Debatten sein kann.« Jan Kuhlbrodt, Signaturen, 31.07.2020

»Riechers gut lesbare, nicht selten urteilsstarke Darstellung lohnt sich schließlich gerade für solche Leser, die sich für Entstehung und Potentiale literaturwissenschaftlicher Werke interessieren.« Mike Rottmann, Geschichte der Philologien, 57/58 2020

Die Tätigkeit des Erkennens besteht darin, sich selbst zu entwirren, so wie ein Mensch, der immerfort erwachte und immerfort versuchte, sich aus der Verklammerung seiner Glieder und aus dem Befangensein in frühere Wahrnehmungen zu befreien. Aber manche scheinen sich lieber noch mehr zu verwirren. Ein Mensch ist unendlich viel komplexer als sein Denken. Paul Valéry, Windstriche Einleitung Wissenschaftsgeschichte Die Faszinationsgeschichte, die sich mit Peter Szondi verbindet, mag so viele verschiedene Gründe haben wie seine Schriften Leserinnen und Leser. Aber im Zentrum dieser Faszinationsgeschichte stehen Person und Text. Die Szondi-Forschung entspringt daher sowohl aus dem wissenschaftlichen Interesse als auch aus dem persönlichen Gedenken. Möglich ist sie von vornherein vor allem durch die in wenigen Jahren nach Szondis Tod erstellte Werkausgabe, den beiden Bänden der Schriften und der Studienausgabe der Vorlesungen in fünf Bänden. Diese von Szondis Freund Jean Bollack in Verbindung mit einigen von Szondis Studierenden hergestellte Ausgabe hat Szondis Werke kanonisiert und für den wissenschaftlichen Zugang erschlossen. Ebenso wie diese Edition trägt auch die erste Tagung, die sich Peter Szondi widmet, das Doppelmotiv, seiner zu gedenken und wissenschaftlich an ihn anzuknüpfen. Sie findet im Juni 1979 in Paris unter dem Titel L’acte critique statt. Damit zeitgleich tritt aber auch eine vom unmittelbaren persönlichen Umkreis unabhängige Forschung zutage, die sich der Frage nach einer »materialen Hermeneutik« widmet. Die an Szondi explizit oder implizit anschließenden Arbeiten, wie diejenigen aus dem Studierendenkreis um Szondi, aber auch die vielen sich auf Szondi beziehenden Arbeiten in der Hölderlin-, Benjamin- und Celan-Forschung, in der Forschungsliteratur zur modernen Hermeneutik und zum modernen Drama, bedürfen hier keiner eingehenden Aufzählung. Anderes gilt für die Forschung, die sich Szondi als Gegenstand widmet. Schon 1987 veröffentlicht Thomas Sparr einen biographischen Essay zu Szondi und formuliert dabei die Leitlinie, dass angesichts der spärlichen persönlichen Zeugnisse »die Sedimente eines Lebens, über das wir kaum etwas wissen, in seinen Schriften [zu] suchen« seien. Erst mit der Veröffentlichung der Briefe Szondis 1993 nimmt eine dezidiert an der Persönlichkeitsgeschichte Szondis interessierte Forschung Fahrt auf. Dazu tragen auch weitere Veröffentlichungen wie der ebenfalls von Christoph König edierte Briefwechsel Szondis mit Paul Celan sowie der weniger umfangreiche mit Hilde Domin, herausgegeben von Andreas Isenschmid, bei. 2004/5 sorgt dann die Marbacher (und im Anschluss Berliner) Ausstellung über Peter Szondi nicht nur für ein großes Medienecho, sondern stößt auch eine neue Reihe von Tagungen an, die sich bis heute Peter Szondi widmen (in Marbach, Berlin, Princeton, Osnabrück, Jerusalem, Veszprém). Der Marbacher Band Engführungen stellt einen ersten Schritt hin auf eine intellektuelle Biographie Szondis dar. Die Zahl der Einzelbeiträge zu Szondi ist seither rasch angewachsen; kleinere Publikationen aus dem Nachlass sind hinzugetreten. In der neueren Einführungsliteratur der Literaturwissenschaft tritt Szondi als kanonischer Autor auf. Das Institutsjubiläum des inzwischen als Peter-Szondi-Institut firmierenden Seminars für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (2015) stellt sich programmatisch unter den Titel Nach Szondi. Die Leitlinie, dass die Sedimente von Szondis Leben in seinen Schriften zu suchen seien, verliert durch die inzwischen zugänglichen persönlichen Dokumente nicht an Gültigkeit. Denn wenn auch die biographische Person so in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt, ist Szondi doch auch ein Autor, dessen Selbstreflexion in seinen Schriften stattfindet. Kurzschlüsse zwischen Autor und Text, die einen unmittelbaren Zusammenhang konstruieren, sind zwar zu vermeiden. Ebenso wenig kann aber davon ausgegangen werden, dass der Text unabhängig von seinem Autor zu lesen sei. Daher stellt sich die Frage, wie der konkrete Vermittlungszusammenhang aussieht zwischen den interpretatorischen und interpretationstheoretischen (bzw. hermeneutischen) Texten Szondis und den historischen Erfahrungen, die der Autor Szondi sehr bewusst mit sich und bis hinein in die Texte trägt. Szondi selbst stellt diesen Zusammenhang in der für ihn typischen sentenziösen Prägnanz so dar: »Wahre Objektivität ist an Subjektivität gebunden.« (S II: 290) Vermittlungen können als Strukturanalogien in Erscheinung treten oder als methodische Reflexionen, sie sind in jedem Fall Folgen eines Verdikts, dem nämlich der unmittelbaren Selbstaussage im Text. Dieses Axiom des Schreibens ist für Szondi so grundlegend, dass es mit der wissenschaftlichen Konvention nicht allein erklärt werden kann. Manfred Frank, einer derjenigen, die Szondis wissenschaftlichen Ansatz in eigener Weise fortgeführt haben, erblickt in dieser Eigenschaft von Szondis Schriften einen Abschein der »Aphasie« der Nachkriegszeit. Das mag ungewöhnlich klingen angesichts der vielen öffentlichen Stellungnahmen in Zeitungen und Rundfunk, für die Szondi bekannt ist und in denen er als präsentes politisches Subjekt die Stimme erhebt. Was hätte er zu tun mit jenen, denen er in aller Öffentlichkeit ein Bekenntnis zur »schrecklichen Vergangenheit« abverlangt? Aber Frank trifft doch etwas an der Subtilität von Szondis Essaystil, der sich weder bei der Selbstaussprache noch bei der einfachen Identifikation mit dem Gegenstand ertappen ließe, zugleich jedoch die Hand, die da schreibt, und die, deren Schrift gelesen wird, in einer auffälligen, schwer greifbaren Nähe hält. Das Subjekt ist in diesen Texten »gleichzeitig abwesend und anwesend«. Dass der Texttypus der wissenschaftlichen Abhandlung nicht zu subjektiver Rede einlädt, steht außer Frage. Aber Szondi, wiewohl wissenschaftlicher Autor, entspricht diesem Texttypus auch kaum je in seiner Standardform. Stattdessen sucht er nach Schreibweisen, die von der den Texten zu Grunde liegenden Subjektivität nicht routiniert absehen, und entwickelt auf diese Weise einen ihm eigenen Essaystil. Nur einmal steht in den veröffentlichten wissenschaftlichen Schriften Szondis das Wort Ich, in Szondis letztem Text, der aufgrund einer Aporie unabgeschlossen bleibt, die auch mit diesem Wort zu tun hat. Was Szondi in seinen Reflexionen auf die Subjektivität seiner Texte und die Historizität seiner Begriffe in jedem Fall klarstellt, ist, dass Wissenschaft nicht in der Zeit- und Ortlosigkeit stattfindet. Sie ist – zumal in Szondis Zeit keine Selbstverständlichkeit – gesellschaftlich und geschichtlich eingebunden. Das bezeichnet auch eine Grundvoraussetzung von Wissenschaftsgeschichte. Sie fordert die Wissenschaft auf, von ihrem Anspruch auf anonyme Objektivierbarkeit der Ergebnisse abzusehen und die Kontexte zu bestimmen, ob diese nun eher in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, in den Institutionen oder in Persönlichkeiten und ihrer biographischen Erfahrung zu suchen seien. Das Individuelle ist nichts Akzidentelles, und das Subjektive ist nicht das Gegenteil des Objektiven. Deshalb geht es in dieser Darstellung darum, die wissenschaftliche Arbeit Peter Szondis in ihre historischen Zusammenhänge zu stellen, um sie aus diesem Zusammenhang heraus erst angemessen verstehen zu können. Dies allein schon ist eine Erkenntnis, die sich in Szondis Schriften mitteilt. Wollte man ein ›System‹ Szondis rekonstruieren, so sähe man sich bald der Unabgeschlossenheit eines Denkwegs konfrontiert, der durch Szondis frühen Tod eingetretenen »definitiven Vorläufigkeit« (SV 1: 8), von der Jean Bollack im Vorwort zu den Vorlesungsbänden spricht. Auch würde man bald bemerken, dass es interpretationstheoretische Überlegungen bei Szondi nicht losgelöst von der Praxis des Interpretierens gibt und diese nicht losgelöst von der Historie, die sich in den Instrumenten, den Begriffen, dem Horizont der Interpretation kundtut. Was aus der einen Perspektive so beschrieben werden kann, dass Szondis Texte, auch wo sie theoretisch sind, immer dicht am literatur- oder theoriegeschichtlichen Gegenstand argumentieren, hat auch eine andere Seite, wenn man es aus der Perspektive der Interpretationspraxis betrachtet. Denn es ist nicht allein eine interpretations-theoretische Methode, sondern auch eine Praxis der Interpretation zu nennen: eine Subjektivierung des interpretierenden Textes. Die literarische Hermeneutik, die Szondi historisch untersucht und die er selbst in der Gegenwart zu formulieren versucht, ist für ihn durch eine leidenschaftliche Präzision gekennzeichnet. Aber diese Präzision vollzieht sich kaum im Modus der theoretischen Abhandlung, sondern hauptsächlich in der Interpretation. Die Interpretationsvollzüge zum Gegenstand einer beobachtenden und reflektierenden, nicht postulierenden Theorie zu machen, ist Szondis hermeneutisches Projekt. Es erscheint deshalb sinnvoll, diesen Denkweg nachzuzeichnen, ohne eine Summe präsentieren zu wollen, ein Ende, das es so nicht gibt, auch wenn doch von einer erstaunlichen inneren Kohärenz in dieser Entwicklung die Rede sein kann. Peter Szondi steht in der Geschichte der Geisteswissenschaften an der Schwelle zu dem, was man ihre »Szientifizierung« nennt; auf seine Weise hat er Anteil daran, ebenso wie an der Konjunktur der ›Theorien‹. Damit ist wenig gesagt und wenig gewonnen. Im Gegenteil: Ein näherer Blick wird zeigen, dass sein Verständnis von Wissenschaftlichkeit wie auch von Theorie kaum den in seiner Zeit und auch danach noch üblichen Auffassungen entspricht. Szondi, den man in seiner Zeit als Modernisierer auf eine ›theoretische‹ Neuausrichtung der Literaturwissenschaft hin ansieht, findet eigentümlicherweise ›nach den Theorien‹, im Zeichen einer ›Rephilologisierung‹ wieder zunehmend Beachtung. Dies ist andererseits auch nicht besonders überraschend, steht doch Szondi wie kaum jemand anders für eine gemeinhin als ›philologische‹ bezeichnete Genauigkeit der Arbeit am Text, die sich von »Methodiken eines entfremdeten Lesens« nicht beeindrucken lässt. Wie seine wissenschaftliche Arbeit auf die sich in der Literatur kundtuende Individualität und auf die der Interpretation innewohnende Subjektgebundenheit des Erkennens hinweist, so ist sie auch selbst nicht anders als in ihrer spezifischen Individualität zu erkennen. Gerade in ihrer reflektierten Verbindung zum Subjekt anstatt zu den wissenschaftlichen Objektivitätsverheißungen besteht die Wissenschaftlichkeit der Arbeiten Szondis, und gerade darin bleiben sie, in ihrer historischen Bedingtheit, aktuell. Zu den Kontexten, in denen Szondis Schriften entstehen, gehören die Erfahrungen, die Szondi als Jude gemacht hat und durch die er seine komplizierte jüdische Identität geformt hat. Die Bedeutung, die er dem eigenen Judentum gibt, wofür die Begegnungen mit Paul Celan, Gershom Scholem und die mit Benjamins Werk bestimmend sind, die ebenso lebensbestimmende Heimatlosigkeit des Exilanten ohne eine ihn selbstverständlich einbegreifende soziale Umgebung – all das kann nicht unberücksichtigt bleiben, wenn man sich der Person und dem Interpreten und Theoretiker Szondi annähert. Dazu gehören auch die politischen Kontexte, der Kalte Krieg, die Abwehr des öffentlichen Erinnerns an die Verbrechen der NS-Zeit in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, die Protestbewegung um 1968. Szondi sucht schon in den 50er Jahren die Öffentlichkeit, als intellektueller Akteur tritt er ab 1961 wahrnehmbar in Erscheinung. Die öffentlichen Stellungnahmen Szondis spielen hier eine besondere Rolle. In sie eingebettet sind für Szondis hermeneutische Arbeit virulente literatur- und interpretationstheoretische Fragen. Szondis Selbstverständnis als Jude ist von seiner politischen Positionierung in solchen Debatten nicht zu trennen, und beides ist nicht von seiner literaturwissenschaftlichen Arbeit zu trennen. Die politische Übercodierung philologischer Argumente, die Szondis wissenschaftliche Arbeiten von Anfang an begleitet, scheint oftmals die Fragen, die in den Debatten dieser Zeit aufgeworfen sind, sogleich wieder zu verstellen. In Zeiten der Polarisierung der Lager hat ein Dialektiker viel zu tun, wenn auch wenig offene Ohren zu erwarten. Aber andererseits ist die politische Atmosphäre der Nachkriegszeit und des Kalten Kriegs auch Anlass für manche Auseinandersetzung, die sonst nicht geführt werden würde. Szondis Hermeneutik schärft sich in diesen Auseinandersetzungen, und nicht nur sie gewinnt Konturen, indem man die Debatten nachverfolgt, sondern auch der zeitgeschichtliche Kontext, der Szondis primärer Resonanzraum ist. Die Debatten, in die Szondi sich begibt, sind nicht Begleitmusik, sondern Bestandteil seiner philologischen Praxis. Deshalb werden hier neben universitären Protokollen gezielt Rezensionen, Leserbriefe und andere Dokumente einbezogen, die über die üblichen disziplinären Kommunikationsmedien (auf die Szondi von früh an nicht beschränkt ist) hinausweisen und Szondi als Intellektuellen zeigen. Kontextualisieren und explizieren: Das betrifft zum Beispiel die persönlich mit Szondis Vater und Doktorvater konnotierte Emanzipation Szondis vom an Geschichte und Gesellschaft desinteressierten wissenschaftlichen Humanismus; die genaue Art und Weise, wie Szondis berühmte Kritik der Parallelstellenmethode mit den zeitgleichen Plagiatsvorwürfen gegen Celan zusammenhängt; die komplexe Frage nach der Referentialität von Celans Gedichten und ›hermetischen‹ Gedichten überhaupt, die Szondi sowohl im öffentlichen Streit als auch in der wissenschaftlichen Darstellung erörtert; die relative Außenseiterrolle Szondis im akademischen Betrieb und seine Rolle als Akteur darin; die ausdrückliche Frage nach den Bedingungen von Szondis Existenz als Jude und auch als Sohn. Persönlichkeitsgeschichte Die Annäherung an die Person Peter Szondis, ihre geschichtliche Individualität und den Ursprung ihrer sich in den Texten ebenso konsequent wie vorsichtig beobachtenden Subjektivität ist die Herausforderung dieses Buchs: zum einen weil sie durch die persönliche Zurückhaltung Szondis nicht nur erschwert wird, sondern dieser Rechnung tragen muss, zum anderen, weil darin eine in Szondis Schriften selbst verhandelte Grunddisposition adressiert ist, die Kurzschlüsse verbietet. Es wird verschiedener Ansätze bedürfen, ein Bild davon zu gewinnen. Statt diese Ansätze methodologisch zu skizzieren, seien einige Charakteristika anhand von Zitaten hervorgehoben, die in dieses Feld hineinführen. Abbreviatur »Sein Denken war von grosser Dichte und unerbittlich in der oft übermässigen Kürze der Formulierung.« Was Scholem über Benjamin schreibt, kennzeichnet das Stilideal, dem auch Szondi verpflichtet ist. In die Abbreviatur ist das Denken wie in einen Kristall eingeschlossen. Anders gesagt, seine Texte leben nicht unwesentlich von dem, was sie implizieren. Spricht man mit Blick auf Szondi wie Jean Bollack von der »Kraft der konzisen Reduktion«, beobachtet man mit Werner Weber, man sei »nur zur Schlußphase des Erkenntnisprozesses zugelassen«, oder klagt man wie Max Wehrli lapidar über »konzentrierte Kost« – Szondis Stil fordert dazu auf, das, was darin verdichtet ist, auszulegen, indem man es auseinanderlegt. So schafft man der Sprache wieder Raum, so tritt man in ein Gespräch ein. Denn Szondis Essays, in denen er zumeist in Vorlesungen erprobte Texte mit stilistischer Prägnanz auf den Punkt bringt, deuten ihren Gedankenweg und ihre Bezüge oftmals nur noch an. Diese Essays konstituieren sich als Interpretationen, aber auch Gegenstände der Interpretation.

Erscheinungsdatum
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 140 x 213 mm
Gewicht 363 g
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
Schlagworte 1968 • 60er • Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft • Antisemitismus • Biografien • Bundesrepublik • Bundesrepublik Deutschland • Germanistik • Intellektuellengeschichte • Jüdische Studien • Kritische Theorie • Literaturkritiker • Literaturwissenschaft • Nachkriegszeit • Opus Primum • Paul Celan • Peter Szondi • Sechzigerjahre • Shoah • Theodor W. Adorno
ISBN-10 3-593-51222-X / 359351222X
ISBN-13 978-3-593-51222-8 / 9783593512228
Zustand Neuware
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