Gefangen -  H. E. Gabriel

Gefangen (eBook)

Oder: Risiken und Nachwirkungen eines "zeitgemäßen" Glaubens
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2019 | 2. Auflage
480 Seiten
TWENTYSIX (Verlag)
978-3-7407-9579-5 (ISBN)
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Der Halbwaise Robert Wegner wächst im Hause seiner Großeltern in einem Dorf am Südrand der Lüneburger Heide auf. Als er 1957 als Zwölfjähriger der Neuapostolischen Kirche (NAK) beitreten darf, glaubt er sich als von einem Apostel Jesu "versiegeltes Gotteskind" auf dem Weg zur unmittelbar bevorstehden Wiederkunft Christi. Die hatte 1951 das in Frankfurt a. M. residierende 80-jährige Kirchenoberhaupt, der Stammapostel J. G. Bischoff, noch für seine Lebenszeit verkündet. Als er 1960 stirbt, bricht nicht nur für den Jungen eine Welt zusammen! So richten sich weltweit Hundertausende mit der Erklärung ein: Gott habe seinen Willen geändert. Für den Heranwachsenden der Beginn einer permanenten Auseinandersetzung mit Mächten und Strukturen, die seinem Leben Ziel und Lauf geben werden.

1945 in einem niedersächsischen Dorf geboren, tritt H. E. Gabriel nach der Volksschulzeit eine kaumännische Lehre an, verplfichtet sich anschließend für 12 Jahre bei der Bundesmarine, heiratet und wird Vater dreier Kinder. Seine Eltern und Geschwister wie auch seine eigene Familie gehören der Neuapostolischen Kirche an. Nach der Marine folgt die Ausbildung zum Sozialpädagogen, dann sechs Semester Pädagogik-Studium mit den Schwerpunkten Religionswissenschaft und Geschichte und schließlich der Entscheidung, die Richtung zugunsten einer Direktoren-Ausbildung bei einer Bausparkasse zu wechseln. Später, schon an der Nordseeküste, als Abteilungsleiter bei einer Bank, um dann die eigene Immobilienfirma zu gründen. Seit 2003 Rentner mit Lust auf Reisen, Literatur - und immer wieder auch kleine lyrische Stücke als Deutungsmuster eigener Welt-Wahrnehmung.

I.
Kinder- und Jugendzeit


1945 – 1963

Frühe Prägungen


Seit Robert und Monika Wegner Anfang 2008 zur Kur gewesen waren, drehen sie drei- bis viermal wöchentlich ihre Walking-Runden im Stadtpark. Auch an einem nieseligen Novembertag wie diesem, im Herbst 2009. Zügiges Gehen in frischer Luft, konzentriert auf die Körpersignale: Puls, Atmung, Rhythmus, Muskelreflexe … Und auch die Gedanken traben; jeder in seiner Welt; meist wortlos, etwa 35 Minuten inmitten des längst braun und licht gewordenen Blattgolds, das nur noch vereinzelt von den mächtigen Baumkronen zu Boden segelt. Für den 64-jährigen Robert ideal als Retro-Trip zu den Knotenpunkten seines Lebens, zu Fragen und Antworten, die ihn immer freier und sicherer gehen lassen:

Du bis auf einer guten Bahn! ... Wenn du fällst, stehst du auf. Und wenn du nicht kannst, wird jemand da sein, der dir aufhelfen wird ...

„Gehen wir morgen wieder?“

Beide haben ihr Leben lang nicht richtig Sport betrieben. Für die Marine hatte Roberts Kondition zwar gereicht, aber ein Sportler in dem Sinne war er nie gewesen. Und Moni hatte nach ihrer Volksschulzeit überhaupt alles vermieden, was irgendwie nach Sport aussah. Abgesehen von Federball. Aber das war für sie auch nicht Sport, sondern Spiel, und dazwischen lagen Welten.

„Nein – soo doch nicht! – Das Ganze noch mal von voorn! ... Bis auch Fräulein Monika die Rolle schafft! – Mein Gott, Mädchen – steh´ doch nicht so steif da wie eine Ziege! …“

Den Tränen nahe, der vierte Anlauf: Sie schafft es nicht. 32 betroffene Blicke auf die kleinen weißen Schultern; der Puls puchert am Hals, die dunklen Haare wirr im gesenkten Blick: Wie verurteilt und vorgeführt fühlt sie sich – fröstelnd in der großen, zugigen Halle.

Sport in den 1950er Jahren, das ist in bundesdeutschen Dorfschulen Leibesertüchtigung im Stil der alten Zeiten, oft von Lehrern exerziert, die außerstande sind, das Ende des Zweiten Weltkriegs als das Ende eben auch ihrer alten Zeit zu begreifen. Nein, sie sind nicht vorbei: Gehorsam, Zucht und Leistungsbereitschaft: Merkmale einer auf altbewährten Fundamenten sich wieder aufrichtenden Gesellschaft. Die aber gründen tiefer als im eben zertrümmerten Nazi-Staat. Wie schon zu Kaisers Zeiten staatstragende Tugenden, sollen sie auch im jungen Nachkriegsdeutschland in die Köpfe und Seelen der Kinder eingetrichtert werden. Züchtigungen mit Stock und Riemen als probate Mittel pädagogischer Grundausstattung! Und es gibt genügend Lehrer, wie der junge Robert mehrfach zu spüren bekommt, die von der formenden Wirkung dieser Pädagogik überzeugt sind. Schließlich war es diese Methode, die viele von ihnen dahin gebracht hatte, wo sie heute vor den Kindern standen.

„Ich wusste es doch, du Rüpel – stehst du wohl auf! …“

Mit feuerrotem Kopf fixiert er ihn, der massige alte Harms, hoch aufgereckt, die Hände zu Fäusten verkrampft; die Wut in seinem Gesicht lässt den Jungen erschauern.

1954. Szene in einer Dorf-Grundschulklasse im Aller-Leine-Dreieck. Als geschähe es in diesem Augenblick, spürt Robert auch heute noch, wie dem knapp Neunjährigen, der er damals war, Angstschauer über den Rücken jagen, wie ihm hundsübel ist, Tränen in die Augen schießen …

Ein Anflug von Trotz. – Einen Atemzug lang wähnte er eine behutsame, tröstende Hand über seinem Kopf - doch ein sanfter Luftzug nur, der durch die Wirbel seiner leichten, strohblonden Haare gefahren war …

Draußen ein strahlend blauer Kinder-Sommertag. Durch die übergehakten Fensterflügel hatte er seinen milden Atem in die Sinne der Kinder gehaucht. Doch der Junge spürte davon nichts; ihm war dunkel-stickig, dröhnte es in Brust und Schläfen, und bis in die Haarspitzen angespannt stand er da, auf die graue, hohe Gestalt starrend, die sich drohend vor ihm aufgebaut hatte. Er wusste, was jetzt kam – wie die 30 Jungen und Mädchen auch, die, mit stockendem Atem in den Bänken kauernd, die angsterfüllte Enge des Raums mit ihm teilten.

Lügst’ auch noch, Bengel“, hatte der Rektor gebrüllt. „Warte, dir werd´ ich´s zeigen!“ Im Nu den Stock in der Hand, zerrte er, die andere im Nacken des Jungen, den schreiend Zappelnden aus der Bank, um seinen Oberkörper mit roher Gewalt auf den Tisch zu drücken, während der Rohrstock in seiner Rechten zehn klatschende Hiebe auf den sich windenden Allerwertesten und die nackten Oberschenkel landete. Als er schließlich, schwer atmend, den Wimmernden in Richtung Sitzplatz zurückstößt, löst im selben Augenblick das Bimmeln der Pausenglocke die Spannung, und die Kinder stürmen hinaus auf den kleinen Schulhof, der direkt vor der mächtigen alten Dorfkirche liegt.

Die einklassige Kirchenschule – zwei Jahre zuvor noch ein fensterloser, aus roten Ziegeln gemauerter Schuppenanbau am Wohnhaus des Kirchendieners – war notwendig geworden, nachdem die alte Dorfschule wegen der vielen Flüchtlingskinder aus allen Nähten platzte. So pendelten ein, zwei Grundschuljahrgänge regelmäßig einen Kilometer quer durchs Dorf – für die Kinder voller Späße und Kabbeleien, die, wenn sie den Lehrern zu Ohren kommen, nicht selten auch spürbar geahndet wurden.

Er hatte sich, als alle rausgestürmt waren, auf seinen Platz setzen wollen, um sein verheultes Gesicht in die Armbeugen zu versenken. Aber er konnte nicht sitzen, zu sehr schmerzten ihn sein Hintern und die Oberschenkel. So hatte er sich hinter die aufgestellte Klassentür geschlichen, wo ihn niemand sah. Als er dann, schon gegen Ende der Pause, doch noch zu den andern nach draußen getreten war, hatte er sich äußerlich beruhigt.

„Na …, wenn das deine Oma erfährt …“

Freya wusste, wovon sie sprach. Schließlich wohnte Robert bei seinen Großeltern im Haus ihrer Familie bzw. der alten Knigge, sodass sie nicht nur einmal mitbekommen hatte, wenn er sich wieder irgendetwas eingehandelt hatte. Immer auch eine Gelegenheit, darüber anschließend mit einigen in der Klasse die Köpfe zusammenzustecken.

Natürlich schimpfte seine Oma mit ihm, wenn er etwas angestellt hatte: löffelweise Sirup aus dem 5-Liter-Eimer in der kleinen Speisekammer genascht, sich gegen Schularbeiten sträuben, Widerworte, freche Bemerkungen … Oder mit Pfeil und Bogen Brands Gänse jagen! Und im Schuppen – bis obenhin vollgepackt mit Strohballen – zündeln ... Dann gab´s schon mal was: mit Latschen, Stock oder Gürtel. Doch am Härtesten traf es ihn, wenn sie, manchmal zwei Tage lang, kein Wort mehr mit ihm sprach!

Als er vier oder fünf war, war ihm das unerträglich gewesen! Er weinte dann fürchterlich und suchte unentwegt ihre Nähe. Bis sie schließlich, nach einer Ewigkeit, seinen Kopf in die Hände nahm und ihm mit ihren blaugrauen Augen, die ihm so viel bedeuteten, wieder offen ins Gesicht sah:

„Versprichst du mir das …?“

Grundsätzlich herrschte zu Hause die Ansicht vor, dass Kinder sich im Beisein von Erwachsenen zurückzuhalten hätten. Kindlich-neugieriges Fragen oder unbefangenes Drauflosgeplapper wurde negativ beschieden. So bekam er häufig zu hören:

„Bengel frag nicht soviel!“ – „Schlabber nicht dauernd dazwischen!“ – „Wenn Erwachsene reden, hast du den Mund zu halten! …“ Oder auch: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold!“ Und: „Zuhören ist allemal besser als selber reden! …“

1900 geboren, war Oma Meta jetzt 54. Eine adrette Frau von durchschnittlicher Größe und Figur. Ihr langes graues Haar trug sie eingerollt oder als Knoten im Nacken. Trotz erster Falten empfand der Junge ihr Gesicht als glatt und weich. Alltags sah er sie kaum anders als in einem ihrer akkuraten Hauskittel. Dass sie eine immer noch ansehnliche Frau war, nahm er vor allem sonntags wahr, wenn sie ihr dunkelblaues Kleid mit dem leuchtend weißen Blütenmuster anhatte oder ein ähnlich gemustertes in Rotbraun. Eine ruhige, zurückhaltende Frau, die das gelernte Schneiderhandwerk in den Mangeljahren zwischen und während der beiden Weltkriege zu beachtlichem Können entwickelt hatte. So kam die Familie auch jetzt, in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, relativ gut zurecht.

Opa Fritz, Jahrgang 1897, schlank und einssiebzig groß, war die zentrale Instanz in der Welt des Jungen. Wache hellblaue Augen über der ausgeprägten Mund- und Nasenpartie deuteten einen ernsthaften, doch nicht humorlosen Wesenszug an. Sein welliges braunes Haar, immer noch voll und vital, zeigte erste graue Spitzen. Obwohl mitunter auch barsch, griff er doch selten zum Stock. Für den Jungen die Rechtschaffenheit in Person: Was er sagt, stimmt! – Und dabei fand er, dass die blaue Postuniform, die ihn so gut kleidete, genau das ausdrückte – sichtbar für alle Leute im Dorf!

Obwohl nur im Einfachen Technischen Postdienst, war Fritz Wegner eine angesehene...

Erscheint lt. Verlag 15.10.2019
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
ISBN-10 3-7407-9579-4 / 3740795794
ISBN-13 978-3-7407-9579-5 / 9783740795795
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