Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert (eBook)

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2021 | 5. Auflage
128 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-77505-5 (ISBN)

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Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert -  Andreas Wirsching
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Diese kleine Geschichte des 20. Jahrhunderts beschreibt den Weg der Deutschen von der obrigkeitsstaatlich geprägten Monarchie hin zur fest im Westen verankerten demokratischen und sozialen Republik. Dazwischen liegen jene Erfahrungen, die für die deutsche und europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts prägend geworden sind: Weltkrieg und Demokratieverlust, Diktatur und Verbrechen, Teilung und Wiedervereinigung. Die Darstellung legt ein besonderes Augenmerk auf die Frage nach einem 'deutschen Sonderweg' und widmet dabei den langfristigen und häufig widersprüchlichen gesellschaftlichen Entwicklungen besondere Beachtung.

Andreas Wirsching ist Direktor des Instituts für Zeitgeschichte und Professor für Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

I. Ein deutscher «Sonderweg» in das 20. Jahrhundert? Strukturprobleme des wilhelminischen Deutschland


Gab es einen deutschen «Sonderweg» in die Moderne? In der Geschichtswissenschaft der siebziger und frühen achtziger Jahre war dies eine stark umstrittene Frage. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts aber hätte sie die Mehrzahl der gebildeten Deutschen wohl bejaht. Nur eine Minderheit hielt die Methoden der westlichen Demokratie für geeignet, um die Probleme der modernen Gesellschaft in Deutschland politisch, sozial und kulturell zu bewältigen. Die Mehrheit erblickte dagegen in der westlichen Zivilisation Züge der Dekadenz und der materialistischen Maßlosigkeit. Der preußisch-deutsche «Beruf» schien es demgegenüber zu sein, eine neue Synthese aus Kultur und Macht, aus Autorität und Freiheit, aus Tradition und Moderne zu schmieden, der die Zukunft gehören würde. Die ideologische Klammer dieser Synthese bildete die Nation: Ihre Einheit galt es in einem starken Staat zu sichern, um kommende Herausforderungen zu meistern und den Deutschen ihren wohlverdienten «Platz an der Sonne» zu sichern.

Seine geistesgeschichtlichen Wurzeln besaß das Konstrukt eines solchen deutschen Eigenweges u.a. im Historismus, der das Besondere, das Individuelle gegenüber dem Allgemeinen betonte. Darüber hinaus aber lässt es sich als Reflex eines tiefen Misstrauens begreifen, das große Teile der deutschen Eliten ganz grundsätzlich gegen den Interessenpluralismus der modernen industriellen Massengesellschaft hegten. Allzu leicht schienen Demokratie und Parlamentarismus zur Plutokratie und zum Parteienegoismus zu degenerieren; allzu offenkundig schienen die Organisation konkurrierender Einzelinteressen und deren kollektiver Austrag den materialistischen Ungeist der Zeit widerzuspiegeln. Auch hiergegen half die Vorstellung eines starken Staates: Repräsentiert in der Monarchie, fungierte er als der «überparteiliche» Sachwalter des Allgemeinwohls, das er gegen jede Form des gesellschaftlichen Partikularismus zu schützen hatte. Schließlich verriet ein solches Verständnis von Nation und Geschichte auch die tiefsitzende Angst vor der politischen Zerreißung von Volk und Staat durch innere Konflikte, seien sie sozialer oder weltanschaulicher, landsmannschaftlicher oder konfessioneller Art. Zu jung war dieser deutsche Nationalstaat noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als dass man ihn als unverrückbar gegebene historische Größe hätte ansehen können. Lauerte nicht hinter dem Pomp der äußeren Machtentfaltung jederzeit die Möglichkeit geschichtlicher Revision? Übertünchte nicht der Glanz des wilhelminischen Deutschland die tiefen Risse seiner sozialen, kulturellen und politischen Architektur?

Tatsächlich ist es leicht, das wilhelminische Reich aufgrund seiner inneren Widersprüche einer schonungslosen Ideologiekritik zu unterwerfen. Schon nicht wenige Zeitgenossen taten dies und betrachteten die «Großmacht ohne Staatsidee» (H. Plessner) mit kritischer Distanz. Wenn es für viele den Anschein haben mochte, im Kaiserreich sei die Synthese von Macht und Geist zur Vollkommenheit gebracht – man denke nur an den unerhörten Aufschwung der deutschen Universität und Wissenschaft –, so blieb dem aufmerksamen Beobachter doch nicht verborgen, dass sich die Gewichte zunehmend von der Kultur auf den Machtgedanken verlagerten. Friedrich Meinecke hat rückblickend geradezu von der «Entartung» des deutschen Bürgertums gesprochen, das seine eigene sittliche und geistige Herkunft verleugnet habe. Und gewiss bildeten ein übersteigerter Machtstaatsgedanke und ein aggressiver Nationalismus feste Bestandteile der politischen Kultur des Wilhelminismus. Daraus erklärt sich auch das Leiden an ihr. Ein Mann wie Theodor Mommsen z.B. ist daran fast zerbrochen: Einst beteiligt an der Revolution von 1848, eine der größten Gestalten der deutschen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts, Nobelpreisträger für Literatur, wollte er im Grunde doch etwas anderes sein. «Animal politicum» in seinem Innersten, blieb er den bürgerlich-liberalen Idealen seiner Jugend treu und litt folglich bis zur Depression unter der politischen Wirklichkeit. In seinem politischen Testament von 1899 bekannte Mommsen: «Ich [...] wünschte ein Bürger zu sein. Das ist nicht möglich in unserer Nation, bei der der Einzelne, auch der Beste, über den Dienst im Gliede und den politischen Fetischismus nicht hinauskommt.» Mit dem Volk, dem er angehörte, fühlte sich Mommsen innerlich entzweit. Er verfügte die Verschließung seines Nachlasses, damit seine Persönlichkeit nicht vor ein Publikum trete, «vor dem mir die Achtung fehlt».

Mommsen ist sicher kein repräsentatives, aber doch ein bezeichnendes Beispiel. Die erstrebte Synthese aus Macht und Kultur zerbrach, musste zerbrechen in einer Zeit, die von so rapiden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technischen Veränderungen gekennzeichnet war. Denn auch dies gehört zur historischen Bilanz des Kaiserreiches: Man darf den riesigen Veränderungs- und Anpassungsdruck nicht vergessen, dem die wilhelminische Generation ausgesetzt war. Von allen großen europäischen Nationen erfuhr Deutschland den raschesten Wandel und die tiefsten Gegensätze. Innerhalb weniger Jahrzehnte erfolgte der Übergang vom Agrarstaat zum Industriestaat; innerhalb eines Menschenalters veränderten sich Landschaft, Arbeitswelt, soziale Beziehungen, moralische Bindungen, politische Konstellationen. «Es geht», so konstatierte Friedrich Naumann im Jahre 1904, «bis in jeden Kopf hinein der Zwang zur Umgestaltung alter Gedanken, der Drang, aus den alten Verhältnissen herauszukommen.» Vielleicht darf es daher nicht überraschen, dass ein Teil der deutschen «Übergangsmenschen», wie man die wilhelminische Generation genannt hat (Martin Doerry), von dieser Anpassungsarbeit überfordert war. Machtstaat und Volk konnten deshalb leicht zu einer Art Ersatzreligion werden in einer Welt, in der immer mehr überkommene Werte fragwürdig wurden und immer weniger feste Orientierungsmaßstäbe galten.

Einen Eindruck vom Wandel, von der politischen Vielgestaltigkeit und den Gegensätzen der deutschen Verhältnisse vermittelt ein Blick auf den letzten Vorkriegsreichstag, der im Jahre 1912 gewählt wurde. Fast 84,9 % der Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab, mehr als je zuvor in der Geschichte des Kaiserreiches. Diese hohe Wahlbeteiligung weist auf den Grad politischer Mobilisierung und Partizipation hin, den das demokratische Element der Reichsverfassung, das allgemeine gleiche (Männer-)Wahlrecht, förderte. Sensationell aber war das Wahlergebnis der Sozialdemokratie. Die einstmals geächtete Partei, deren Mitglieder als «Reichsfeinde» angeprangert worden waren, avancierte zur stärksten Fraktion des Reichstags. 34,8 % der Stimmen und 110 der insgesamt 397 Mandate fielen den Sozialdemokraten zu. Ihre Wähler rekrutierten sich ganz überwiegend aus der Industriearbeiterschaft der großen Städte und Industriezentren. So gab es sozialdemokratische Hochburgen in Hamburg, Berlin und Teilen Sachsens, in denen mehr als 60 % der Wähler der Sozialdemokratie ihre Stimme gaben; und es gab Wahlkreise, auf dem Land, in Kleinstädten, in katholischen Gebieten, in denen die SPD deutlich unter 10 % blieb. Die Sozialdemokratie war unangefochten die politische Organisation der Arbeiterbewegung, und ihr Anstieg von ca. 350.000 Wählern im Jahre 1874 auf 4,25 Millionen Wähler im Jahre 1912 signalisiert zugleich den rasanten Strukturwandel der deutschen Wirtschaft im Zeichen von Industrialisierung und Urbanisierung.

Erstmals kam es bei den Reichstagswahlen von 1912 auch zu Wahlabsprachen zwischen Sozialdemokraten und Linksliberalen. Zwar stießen diese Absprachen auf beiden Seiten nicht immer auf Gegenliebe; aber sie weisen doch auf eine Verbindung hin, die künftig ein wichtiges, wenn auch in seiner Durchschlagskraft begrenztes politisches Potential bilden sollte: Zwischen 1912 und 1930 stellte die Zusammenarbeit zwischen demokratischem Bürgertum und reformorientierter Arbeiterbewegung immer wieder einen parlamentarisch-politischen Kristallisationspunkt dar, mit dem sich die Hoffnung auf organische Fortentwicklung des Bestehenden, auf Parlamentarisierung und Demokratisierung, verband.

Die Partei der Linksliberalen war die 1910 aus mehreren Vorgängerorganisationen neugegründete Fortschrittliche Volkspartei. Bei den Reichstagswahlen 1912 kam sie auf 12,3 % der gültigen Stimmen und auf 42 Mandate. Ihre Anhänger rekrutierte sie überwiegend aus dem akademisch gebildeten Bürgertum; Professoren, Beamte, Rechtsanwälte und andere Freiberufler waren überproportional vertreten. Von der liberalen Schwesterpartei, den Nationalliberalen, unterschied sich die Fortschrittspartei weniger in ihrer sozialen Struktur als durch ihre konsequente Betonung des wirtschaftlichen...

Erscheint lt. Verlag 26.8.2021
Reihe/Serie Beck'sche Reihe
Beck'sche Reihe
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Historische Romane
Sachbuch/Ratgeber Beruf / Finanzen / Recht / Wirtschaft Geld / Bank / Börse
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Allgemeines / Lexika
Reisen Reiseführer Europa
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Staat / Verwaltung
Schlagworte 20. Jahrhundert • BRD • Bundesrepublik • DDR • Deutschland • Diktatur • Einführung • Geschichte • Gesellschaft • Kalter Krieg • Kultur • Mauerfall • Monarchie • Nationalsozialismus • Politik • Sachbuch • Sonderweg • Staat • Weltkrieg • Widervereinigung • Wiedervereinigung • Wirtschaft
ISBN-10 3-406-77505-5 / 3406775055
ISBN-13 978-3-406-77505-5 / 9783406775055
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