Mit den Toten leben (eBook)
192 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27361-0 (ISBN)
Dass zum Leben der Tod gehört, ist die älteste und am konsequentesten verdrängte Wahrheit der Welt. Umso größer ist das Bedürfnis nach Ritualen und spiritueller Begleitung, wenn wir damit konfrontiert sind ? unabhängig von jedem Glauben. In ihrem sehr persönlichen Essay gewährt Delphine Horvilleur Einblicke in ihre Aufgabe als Rabbinerin, Tag für Tag Menschen in dieser Situation beizustehen. Dabei erweist sie sich als Geschichtenerzählerin, der es gelingt, die Sphären des Lebens und des Todes mit der Kraft des Wortes zu überbrücken. Horvilleur schöpft aus dem Schatz der jüdischen Kultur, aber auch aus ihren eigenen Erfahrungen als Frau, als Mutter, als Tochter. Mit den Toten leben ist ein Buch, das vom Tod erzählt und das Leben feiert.
Delphine Horvilleur, geboren 1974 in Nancy, ist Rabbinerin, dreifache Mutter und die Leitfigur der Liberalen Jüdischen Bewegung Frankreichs (MJLF). Sie ist Herausgeberin der Zeitschrift Tenou’a - Atelier de pensée(s) juive(s) und Autorin mehrerer Bücher zum Thema Weiblichkeit und Judentum. Zuletzt erschien von ihr Überlegungen zur Frage des Antisemitismus (2020).
AZRAEL
»Leben und Tod Hand in Hand«
Unmittelbar vor einer Zeremonie auf dem Friedhof klingelt mein Handy.
»Ich kann gerade unmöglich sprechen. Ich rufe dich sofort nach der Beerdigung zurück …«
Diese Szene hat sich so häufig wiederholt, dass meine Freunde sich inzwischen darüber lustig machen. Wenn sie mich anrufen, erkundigen sie sich oft zum Spaß, wer denn heute gestorben sei und wie es mit meinem Leben auf dem Friedhof stehe. Meine regelmäßige Anwesenheit an einem Ort, den viele Menschen nie oder fast nie aufsuchen, trägt mir immer wieder ein Verhör ein: »Macht es dir denn gar nichts aus, ständig mit dem Tod umzugehen? Ist das nicht zu hart, so vielen Hinterbliebenen beizustehen?«
Ich habe mir über die Jahre zahllose ausweichende Antworten zurechtgelegt: »Nein, nein, alles in Ordnung, man gewöhnt sich daran.« — »Doch, doch, es ist furchtbar, und es wird mit der Zeit auch nicht besser.« — »Es kommt sehr auf den Tag und die jeweilige Situation an.« — »Gute Frage, danke, dass ihr sie mir gestellt habt.«
In Wirklichkeit habe ich keine Ahnung. Ich weiß nicht, wie der Tod auf die Lebenden wirkt, die mit ihm konfrontiert sind oder ihn begleiten. Ich bin außerstande zu sagen, welchen Einfluss er auf mich hat, da ich nicht weiß, wer ich heute wäre, wenn ich mich bewusst von ihm ferngehalten hätte.
Ich weiß hingegen, dass ich mir im Laufe der Zeit bestimmte Rituale und Gewohnheiten — für manche sind es Beschwörungsgesten oder Zwangsstörungen — zugelegt habe, die mir gewissermaßen helfen, seinen Platz in meinem Leben zu begrenzen.
So habe ich es mir zum Beispiel angewöhnt, vom Friedhof aus nie sofort nach Hause zu fahren. Nach einer Beisetzung verordne ich mir immer einen Abstecher über ein Café oder ein Geschäft. Ich errichte eine symbolische Sicherheitsschleuse zwischen dem Tod und meinem Zuhause. Es kommt nicht in Frage, ihn mit heimzunehmen. Ich muss ihn um jeden Preis abschütteln, woanders lassen, neben einer Kaffeetasse, in einem Museum oder einer Umkleidekabine, muss mich vergewissern, dass er meine Spur verliert und meine Adresse nicht ausfindig machen kann.
In der jüdischen Tradition gibt es Tausende von Erzählungen, in denen der Tod als Verfolger auftritt, sich aber fortjagen und abhängen lässt. Zahlreiche Legenden stellen ihn als Engel dar, der unsere Häuser aufsucht und unsere Städte durchstreift.
Diese Gestalt hat sogar einen Namen: Azrael, der Todesengel. Es heißt, dass er mit einem Schwert in der Hand um die Menschen herumschleicht, auf die er es abgesehen hat. Abergläubische Berichte, die zu originellen Bräuchen geführt haben. In vielen jüdischen Familien gibt man zum Beispiel jemandem, der krank wird, einen anderen Vornamen. Mit seiner veränderten Identität soll er das überirdische Wesen, das ihn zu holen droht, in die Irre führen. Stellen Sie sich vor, dass der Todesengel bei Ihnen klingelt und nach einem gewissen Mosche fragt. Sie brauchen nur zu antworten: »Tut mir leid, hier wohnt kein Mosche. Sie sind bei Salomon.« Und der Engel wird sich kleinlaut für die Störung entschuldigen und von dannen ziehen.
Auch wenn wir über diese Taktik möglicherweise lächeln, spiegelt sie doch eine tiefere Wahrheit wider. Es gehört zum Wesen des Menschen zu glauben, er könne sich den Tod vom Leib schaffen, Schutzwälle und Erzählungen um ihn herum konstruieren, ihn listig fernhalten; sich einzureden, dass ihm bestimmte Rituale oder Worte diese Macht verleihen.
Die moderne, technisch hoch perfektionierte Medizin hat ihre eigenen Methoden entwickelt. Heutzutage hält sich der Todesengel tatsächlich von unseren Häusern fern, er wird, bevorzugt außerhalb der Besuchszeiten, in Krankenhäuser, Kliniken, Seniorenheime oder Palliativstationen gebeten. Man meint, er habe nichts mehr bei uns zu suchen. Immer weniger Menschen sterben zu Hause als müssten die Lebenden vor einer lästigen Krankheit geschützt werden.
Ich denke oft an diese räumliche Aufteilung, vor allem, wenn ich durch Paris laufe und die Gedenktafeln an den alten Häusern sehe. Hier ist ein Herr Soundso gestorben, dort irgendeine Berühmtheit. Heutzutage wissen wir nur selten, wenn jemand von unseren Hausmitbewohnern im Sterben liegt, und wir vermeiden es tunlichst, daran zu denken, wer wohl eines Tages in unserem Schlafzimmer gestorben sein mag. Der Tod gehört in einen gesonderten Bereich, und man glaubt, ihn zum Rückzug zu zwingen, indem man sein Gebiet umgrenzt.
Manchmal aber erinnert uns die Geschichte mit ihren Überraschungsszenarien daran, wie beschränkt unsere Macht trotz unserer Erzählungen und Taschenspielertricks ist.
2020 hat der Todesengel überall auf der Welt beschlossen, uns heimzusuchen, an die Tür aller Kontinente zu pochen. Während ich diese Zeilen schreibe, lässt er sich noch immer nicht abwimmeln. Zwar erreicht der Tod auch die Corona-Patienten vor allem im Krankenhaus und auf der Intensivstation, weit weg von zu Hause doch er gibt uns unmissverständlich zu verstehen, dass er jederzeit in unser Leben einbrechen kann. Die Angst, er möge einen Angehörigen treffen, in unser Territorium vordringen, ist plötzlich greifbar. Der Engel, den wir fernhalten wollten, erhebt Anspruch auf einen Platz in unserem Leben und unserer Gesellschaft. Er kennt unseren Namen und unsere Adresse, er lässt sich nicht hinters Licht führen.
Auch die Bestattungsriten und die Trauerbegleitung sind durch die Pandemie erschüttert worden. Wie alle, die Sterbenden zur Seite stehen, habe ich in den vergangenen Monaten Situationen erlebt, die mir bisher unvorstellbar erschienen waren.
Besuche am Krankenbett, bei denen Masken und Handschuhe die Sterbenden um ein Gesicht, ein Lächeln oder eine tröstende Hand bringen; die Einsamkeit, die unseren Senioren zugemutet wird, um sie vor einem Tod zu schützen, der sie trotz allem, dann jedoch mutterseelenallein, ereilen wird; Beerdigungen im engsten Familienkreis, mit streng reglementierter Teilnehmerzahl, bei denen man den Trauernden eine Umarmung oder einen Händedruck verweigert.
Eines Tages, ganz zu Anfang des Lockdowns, rief mich eine Familie an. Die Angehörigen standen ohne jede Begleitung vor dem Sarg des Vaters auf dem Friedhof. Sie hatten keine Freunde dazugebeten, weil sie niemanden gefährden wollten. Sie kannten allerdings kein einziges jüdisches Gebet und baten mich, ihnen aus der Ferne zu helfen. Also murmelte ich am Telefon die entsprechenden Sätze, die sie laut wiederholten. Zum ersten Mal in meinem Leben zelebrierte ich eine Beerdigung in meinem Wohnzimmer, für eine Familie, die ich noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Als das Gespräch vorbei war, wusste ich, dass es keine Sicherheitsschleusen mehr gab. Der Tod war einfach so, ohne Erlaubnis, in unsere Lebensräume eingedrungen.
Er hatte unsere Adressen gefunden und sich bei uns eingeschlichen, in unsere Familien und in unsere Köpfe. Er rief uns in Erinnerung, dass er schon immer da gewesen war, dass er uneingeschränkt mit dazugehörte und unsere Macht lediglich darin bestand, die Worte und Gesten zu wählen, die wir im entscheidenden Moment zu Hilfe nehmen würden.
Jene Worte zu finden und jene Gesten zu beherrschen ist das Herzstück meiner Arbeit.
Seit Jahren versuche ich Menschen, die mich danach fragen, zu beschreiben, was ich eigentlich tue.
Was bedeutet es, Rabbinerin zu sein? Ich muss natürlich Gottesdienste zelebrieren, Menschen begleiten und unterweisen, Texte übersetzen, damit andere sie lesen können, in jeder Generation den Stimmen einer Tradition Gehör verschaffen, die ihrerseits weitergegeben werden will. Doch im Laufe der Jahre habe ich den Eindruck gewonnen, dass der Beruf, der meinem am nächsten ist, der einer Geschichtenerzählerin ist.
Meine Aufgabe ist es, etwas erzählen zu können, was schon tausend Mal gesagt worden ist, aber eine dieser Geschichten dem, der sie zum ersten Mal hört, neu zu erschließen. Ich stehe Frauen und Männern bei, die in den entscheidenden Momenten ihres Lebens das Bedürfnis nach Erzählungen haben. Diese althergebrachten Geschichten sind nicht nur jüdisch, ich gebe sie auch in der Sprache dieser Tradition wieder. Sie schlagen Brücken zwischen den Epochen und Generationen, zwischen denen, die waren, und denen, die sein werden. Unsere heiligen Erzählungen knüpfen eine Verbindung zwischen den Lebenden...
Erscheint lt. Verlag | 14.2.2022 |
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Übersetzer | Nicola Denis |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Vivre avec nos morts |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie |
Schlagworte | Abschied • Anatomie • Anschläge • Antisemitismus • Beerdigung • Begleitung • Charlie • Frankreich • Geschichten • Hebdo • Hinterbliebene • Jitzchak • Judentum • Jüdisch • Leben! • Rabbinerin • Rabin • Religion • Spiritualität • Trauer • Trost • Zeremonie • Zionismus |
ISBN-10 | 3-446-27361-1 / 3446273611 |
ISBN-13 | 978-3-446-27361-0 / 9783446273610 |
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