Was kann und darf Kunst?

Ein ethischer Grundriss

(Autor)

Buch | Softcover
286 Seiten
2013
Campus (Verlag)
978-3-593-39871-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Was kann und darf Kunst? - Dagmar Fenner
29,00 inkl. MwSt
Braucht Kunst eine Ethik?
Immer wieder gibt es Skandale um Kunst, wenn sie ästhetische und moralische Grenzen überschreitet. Schnell stellen sich dann die Fragen: Wozu Kunst? Was darf Kunst? Eine Ethik der Kunst als Teilbereich der Philosophie oder der Angewandten Ethik gibt es bislang jedoch noch nicht. Dagmar Fenner fragt nach der ethischen Dimension von Kunstproduktion und -rezeption: Welche Rolle spielt Kunst in unserer Gesellschaft und welchen Beitrag kann sie zu einem guten Leben und gerechten Zusammenleben leisten? Müssen der Freiheit der Kunst in manchen Fällen Grenzen gesetzt werden?
Dagmar Fenner diskutiert anhand von Themen wie der Verletzung von Persönlichkeitsrechten, dem Einsatz von Tieren, der Darstellung von Gewalt und Sexualität oder Blasphemie, wie weit die Verantwortung des Künstlers für die Wirkung seiner Werke reicht. Der systematische Grundriss richtet sich an Künstler, Kunstvermittler, Dozenten und Studierende im Kunstbereich an Hochschulen und Gymnasien sowie an alle Kunstinteressierten.

Prof. Dr. Dagmar Fenner, Philosophin und Germanistin sowie diplomierte Kontrabassistin, unterrichtet Ethik an den Universitäten Tübingen und Basel und ist Autorin zahlreicher philosophischer Bücher.

Inhalt

Vorwort 7

1 Einleitung 11
1.1 Schwierigkeiten mit der Gegenwartskunst 12
1.2 Die Rede vom »Ende der Kunst« 16
1.3 Was ist Kunst? 19
1.4 Was ist Ethik? 28
1.5 Braucht die Kunst eine Ethik? 33

2 Verhältnis von Ästhetik und Ethik 39
2.1 Ästhetik/ästhetisch: Begriffsbestimmung 42
2.2 Philosophische Positionen zum Verhältnis von Ethik und Ästhetik 47
2.3 Autonomie der ethischen und ästhetischen Perspektive 64

3 Funktionen von Kunst 71
3.1 Entlastung und Entspannung 75
3.2 Positive Gefühle und Gefühlskultur 77
3.3 Unterhaltung 79
3.4 Wahrnehmen und Erkennen 80
3.5 Symbolisieren der Transzendenz 87
3.6 Förderung der Phantasie 88
3.7 Kreativitätsförderung 92
3.8 Psychohygiene und Katharsis 94
3.9 Freiheit und Erweiterung des Handlungsspielraums 100
3.10 Identitätsbildung, Handlungs- und Lebensmodelle 102
3.11 Perspektivenübernahme, Empathie und Solidarität 107
3.12 Veranschaulichen moralischer Entscheidungssituationen und Konflikte 110
3.13 Gesellschaftliches und politisches Engagement 137

4 Konflikte in der Kunst 149
4.1 Gefährdung von Gesundheit oder Leben der Darsteller und Rezipienten 157
4.2 Nutzung von Tieren 160
4.3 Lügen 164
4.4 Verletzung von Persönlichkeitsrechten 178
4.5 Darstellung von Gewalt 188
4.6 Darstellung von Sexualität 210
4.7 Politische Themen 224
4.8 Blasphemie 233

5 Schluss 243
5.1 Zusammenfassung 244
5.2 Wie lässt sich staatliche Kunstförderung rechtfertigen? 246

6 Literatur 259

Sachregister 279
Personenregister 283

1 Einleitung Philosophische Schriften über Kunst gelten, gleich wie alle anderen philosophischen Abhandlungen, als schwer verständlich, abstrakt und kunst- bzw. weltfremd. Die meisten fördern die weit verbreitete Meinung, dass »aus diesen trockenen und inhaltsleeren Analysen nichts Wissenswertes über die Kunst zu erfahren sei« (Danto 1991: 93). Oft geht es weniger um das reale Phänomen der Kunst als um die Entfaltung des eigenen philosophischen Systems. Die Kunst dient der Philosophie dann lediglich als Medium der Selbstvergewisserung (vgl. Bubner 1989: 11). Infolge der rasanten Entwicklungen der Kunst im 20. Jahrhundert munkelt man, dass sich »Kunst der Moderne und Philosophie der Gegenwart ohnehin nicht mehr viel zu sagen« haben (Koppe 1991: 7). Die Verformung der gegenständlichen Welt zur abstrakten Kunst und schließlich das Ausstellen realer oder nachgebildeter Flaschentrockner oder Suppendosen in Museen schienen alle traditionellen Kunsttheorien Lüge zu strafen. Diese verblüffenden Veränderungen ließen allerdings nicht nur viele Philosophen und Kunsttheoretiker ratlos zurück, sondern auch die übrigen Kunstinteressierten. Vor einem signierten Pissoir von Duchamp oder einem mit groben Strichen gemalten Ölbild eines missgestalteten Gnoms mit überdimensionalem Penis von Georg Baselitz fragt sich manch ein Betrachter: »Was soll das?«, »Ist das (noch) Kunst?« oder »Wozu Kunst?«. Wenn man Kunst einfach nicht mehr »versteht«, liegt akademisch gesprochen eine »kognitive Überforderung durch Kunst« vor (Tegtmeyer 2008: 135). In Anbetracht zeitgenössischer Bilder werden bisweilen Erinnerungen an Kinderzeichnungen und Klecksereien geweckt, so dass man denkt: »Das kann ich auch!« (Saehrendt/Kittl 2007). Von einem großen Teil der Bevölkerung wird zeitgenössische Musik als »Katzenmusik« beschimpft (vgl. Bertram 2007: 112). Auch mir schmerzen manchmal regelrecht die Ohren. Als Bassistin kann ich bei Aufführungen Neuer Musik nicht das während meines Studiums erworbene Können auf der Grundlage traditioneller Notenschrift unter Beweis stellen, sondern muss nach komplizierten, auf mehreren Seiten erklärten symbolischen Zeichen an verschiedenen Stellen auf dem Kontrabass mit Bogen oder Hand schlagen und ihm bestimmte Geräusche entlocken. Wo das Phänomen »Kunst« derart zu Irritationen führt, ist die Rede vom »Ende der Kunst« oft nicht weit. 1.1 Schwierigkeiten mit der Gegenwartskunst Die Schwierigkeiten mit der Gegenwartskunst sind teilweise dieselben, die wir mit »moderner Kunst« haben: Moderne Kunst meint in der Regel die Avantgardekunst ab 1880 mit Impressionismus, Expressionismus, Kubismus, Dadaismus, Surrealismus etc. In dem von mir bevorzugten weiten Sinn umfasst die »Moderne« auch die Gegenwart und ist somit noch nicht abgeschlossen. In einem engen Sinn wird sie ungefähr in den 1970er-Jahren durch die »Postmoderne« abgelöst. Auf verschiedene Weisen könnte man versuchen, die Dramatik der Lage hinsichtlich der Schwierigkeiten mit der Gegenwartskunst zu entschärfen: Zum Beispiel lässt sich verweisen auf einen boomenden Kunstmarkt, auf dem Rekordpreise erzielt werden, oder darauf, dass noch nie so viele Steuergelder für Kunstinstitutionen ausgegeben wurden, oder dass es noch nie so viele Kunstschulen, Kunstsammler und Künstler gegeben habe wie heute (vgl. Ullrich 2005: 233). Auch mangelt es nicht an international berühmten und äußerst gefragten Gegenwartskünstlern, in der bildenden Kunst etwa Gerhard Richter, Bruce Nauman oder Franz West. Diese stehen ganz oben auf der Liste der Top 30 der zeitgenössischen Künstler, zusammengestellt nach verschiedenen Kriterien wie Aufmerksamkeit, Ausstellungspräsenz und Netzwerken (vgl. www.art-report.com/de). Doch ist die Tatsache, dass Werke zeitgenössischer Künstler im MoMA (Museum of Modern Art) in New York ausgestellt werden und auf dem Kunstmarkt horrende Summen erzielen, wohl noch kein Beweis dafür, dass sie auch von einer breiteren Bevölkerung »verstanden« werden. Vermutlich kaufen sich viele Kunstwerke nur aus Prestige, weil sie gerade in »Mode« sind oder schlicht als Geldanlage. Am Ende sind es doch nur die Fachleute, im Fall der bildenden Kunst also die Galeristen, Kuratoren und Sammler, die den Wert zeitgenössischer Kunst überhaupt erkennen können. In Konzertaufführungen mit ausschließlich Neuer Musik im Programm sitzt bekanntlich nur ein handverlesenes Publikum aus Kennern, dem einzig diese Musik sich erschließt. Es entbehrt also nicht der phänomenalen Triftigkeit, wenn von einem »Faktum der Kommunikationsstörung« in der Kunst der Gegenwart gesprochen wird (Kausch 2005: 27). Vielleicht legt sich aber die Aufregung über dieses Faktum der Kommunikationsstörung, wenn man sich folgenden Umstand vergegenwärtigt: Meistens vergeht ein halbes Jahrhundert, bis die Kunstwerke einer Zeit von den Spätergeborenen verstanden werden. Es ist also kein neues Phänomen, dass die Werke zeitgenössischer Künstler auf Unverständnis oder gar Empörung und Widerstand stoßen. So beurteilen die meisten von uns beispielsweise die Gemälde des Impressionismus und Expressionismus als technisch brillant, qualitativ hochstehend oder einfach als »schön«. Beide Stilrichtungen lösten aber zu ihrer Zeit regelrechte Skandale aus: Die heute weltberühmten atmosphärischen Sonnenaufgänge und Seelandschaften Monets wurden bei der ersten gemeinsamen impressionistischen Ausstellung 1874 als unfertige, widerliche Schmierereien und das Resultat einer »bedauerlichen Geistesgestörtheit« gegeißelt (vgl. Schüler/Täuber 2008, 61ff.). Ähnlich herablassend wurden 1892 die Bilder von Edward Munch kommentiert, und angesichts der heftigen Proteste wurde damals die Berliner Ausstellung nach einer Woche wieder geschlossen. Man bezeichnete das Werk »als einen Hohn für die Kunst, als Schweinerei und Gemeinheit« und zog den heute zu Rekordpreis gehandelten Schrei ins Lächerliche wegen seines Himmels in »wirren Streifen, in dem Eigelb und Tomatensauce durcheinanderfluten« (ebd., 80)! Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sorgte Pablo Picasso mit seinen kubistischen Bildern für große Verwirrung, weil bei den in viele Flächen zerlegten Frauengestalten Vorder- und Rückseite merkwürdig ineinander griffen. Auch die heute viel gespielte Ballettmusik Le sacre du printemps von Igor Strawinsky löste bei der Uraufführung in Paris im Jahre 1913 aufgrund des neuartigen Übereinanderschichtens verschiedener Tonarten und Rhythmen heftige Tumulte aus. Man könnte aus dieser exemplarischen Zusammenstellung schließen: kein Grund zur Aufregung, die nachfolgenden Generationen werden unsere Gegenwartskunst verstehen und sogar genießen können!

1 Einleitung Philosophische Schriften über Kunst gelten, gleich wie alle anderen philosophischen Abhandlungen, als schwer verständlich, abstrakt und kunst- bzw. weltfremd. Die meisten fördern die weit verbreitete Meinung, dass »aus diesen trockenen und inhaltsleeren Analysen nichts Wissenswertes über die Kunst zu erfahren sei« (Danto 1991: 93). Oft geht es weniger um das reale Phänomen der Kunst als um die Entfaltung des eigenen philosophischen Systems. Die Kunst dient der Philosophie dann lediglich als Medium der Selbstvergewisserung (vgl. Bubner 1989: 11). Infolge der rasanten Entwicklungen der Kunst im 20. Jahrhundert munkelt man, dass sich »Kunst der Moderne und Philosophie der Gegenwart ohnehin nicht mehr viel zu sagen« haben (Koppe 1991: 7). Die Verformung der gegenständlichen Welt zur abstrakten Kunst und schließlich das Ausstellen realer oder nachgebildeter Flaschentrockner oder Suppendosen in Museen schienen alle traditionellen Kunsttheorien Lüge zu strafen. Diese verblüffenden Veränderungen ließen allerdings nicht nur viele Philosophen und Kunsttheoretiker ratlos zurück, sondern auch die übrigen Kunstinteressierten. Vor einem signierten Pissoir von Duchamp oder einem mit groben Strichen gemalten Ölbild eines missgestalteten Gnoms mit überdimensionalem Penis von Georg Baselitz fragt sich manch ein Betrachter: »Was soll das?«, »Ist das (noch) Kunst?« oder »Wozu Kunst?«. Wenn man Kunst einfach nicht mehr »versteht«, liegt akademisch gesprochen eine »kognitive Überforderung durch Kunst« vor (Tegtmeyer 2008: 135). In Anbetracht zeitgenössischer Bilder werden bisweilen Erinnerungen an Kinderzeichnungen und Klecksereien geweckt, so dass man denkt: »Das kann ich auch!« (Saehrendt/Kittl 2007). Von einem großen Teil der Bevölkerung wird zeitgenössische Musik als »Katzenmusik« beschimpft (vgl. Bertram 2007: 112). Auch mir schmerzen manchmal regelrecht die Ohren. Als Bassistin kann ich bei Aufführungen Neuer Musik nicht das während meines Studiums erworbene Können auf der Grundlage traditioneller Notenschrift unter Beweis stellen, sondern muss nach komplizierten, auf mehreren Seiten erklärten symbolischen Zeichen an verschiedenen Stellen auf dem Kontrabass mit Bogen oder Hand schlagen und ihm bestimmte Geräusche entlocken. Wo das Phänomen »Kunst« derart zu Irritationen führt, ist die Rede vom »Ende der Kunst« oft nicht weit. 1.1 Schwierigkeiten mit der Gegenwartskunst Die Schwierigkeiten mit der Gegenwartskunst sind teilweise dieselben, die wir mit »moderner Kunst« haben: Moderne Kunst meint in der Regel die Avantgardekunst ab 1880 mit Impressionismus, Expressionismus, Kubismus, Dadaismus, Surrealismus etc. In dem von mir bevorzugten weiten Sinn umfasst die »Moderne« auch die Gegenwart und ist somit noch nicht abgeschlossen. In einem engen Sinn wird sie ungefähr in den 1970er-Jahren durch die »Postmoderne« abgelöst. Auf verschiedene Weisen könnte man versuchen, die Dramatik der Lage hinsichtlich der Schwierigkeiten mit der Gegenwartskunst zu entschärfen: Zum Beispiel lässt sich verweisen auf einen boomenden Kunstmarkt, auf dem Rekordpreise erzielt werden, oder darauf, dass noch nie so viele Steuergelder für Kunstinstitutionen ausgegeben wurden, oder dass es noch nie so viele Kunstschulen, Kunstsammler und Künstler gegeben habe wie heute (vgl. Ullrich 2005: 233). Auch mangelt es nicht an international berühmten und äußerst gefragten Gegenwartskünstlern, in der bildenden Kunst etwa Gerhard Richter, Bruce Nauman oder Franz West. Diese stehen ganz oben auf der Liste der Top 30 der zeitgenössischen Künstler, zusammengestellt nach verschiedenen Kriterien wie Aufmerksamkeit, Ausstellungspräsenz und Netzwerken (vgl. www.art-report.com/de). Doch ist die Tatsache, dass Werke zeitgenössischer Künstler im MoMA (Museum of Modern Art) in New York ausgestellt werden und auf dem Kunstmarkt horrende Summen erzielen, wohl noch kein Beweis dafür, dass sie auch von einer breiteren Bevölkerung »verstanden« werden. Vermutlich kaufen sich viele Kunstwerke nur aus Prestige, weil sie gerade in »Mode« sind oder schlicht als Geldanlage. Am Ende sind es doch nur die Fachleute, im Fall der bildenden Kunst also die Galeristen, Kuratoren und Sammler, die den Wert zeitgenössischer Kunst überhaupt erkennen können. In Konzertaufführungen mit ausschließlich Neuer Musik im Programm sitzt bekanntlich nur ein handverlesenes Publikum aus Kennern, dem einzig diese Musik sich erschließt. Es entbehrt also nicht der phänomenalen Triftigkeit, wenn von einem »Faktum der Kommunikationsstörung« in der Kunst der Gegenwart gesprochen wird (Kausch 2005: 27). Vielleicht legt sich aber die Aufregung über dieses Faktum der Kommunikationsstörung, wenn man sich folgenden Umstand vergegenwärtigt: Meistens vergeht ein halbes Jahrhundert, bis die Kunstwerke einer Zeit von den Spätergeborenen verstanden werden. Es ist also kein neues Phänomen, dass die Werke zeitgenössischer Künstler auf Unverständnis oder gar Empörung und Widerstand stoßen. So beurteilen die meisten von uns beispielsweise die Gemälde des Impressionismus und Expressionismus als technisch brillant, qualitativ hochstehend oder einfach als »schön«. Beide Stilrichtungen lösten aber zu ihrer Zeit regelrechte Skandale aus: Die heute weltberühmten atmosphärischen Sonnenaufgänge und Seelandschaften Monets wurden bei der ersten gemeinsamen impressionistischen Ausstellung 1874 als unfertige, widerliche Schmierereien und das Resultat einer »bedauerlichen Geistesgestörtheit« gegeißelt (vgl. Schüler/Täuber 2008, 61ff.). Ähnlich herablassend wurden 1892 die Bilder von Edward Munch kommentiert, und angesichts der heftigen Proteste wurde damals die Berliner Ausstellung nach einer Woche wieder geschlossen. Man bezeichnete das Werk »als einen Hohn für die Kunst, als Schweinerei und Gemeinheit« und zog den heute zu Rekordpreis gehandelten Schrei ins Lächerliche wegen seines Himmels in »wirren Streifen, in dem Eigelb und Tomatensauce durcheinanderfluten« (ebd., 80)! Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sorgte Pablo Picasso mit seinen kubistischen Bildern für große Verwirrung, weil bei den in viele Flächen zerlegten Frauengestalten Vorder- und Rückseite merkwürdig ineinander griffen. Auch die heute viel gespielte Ballettmusik Le sacre du printemps von Igor Strawinsky löste bei der Uraufführung in Paris im Jahre 1913 aufgrund des neuartigen Übereinanderschichtens verschiedener Tonarten und Rhythmen heftige Tumulte aus. Man könnte aus dieser exemplarischen Zusammenstellung schließen: kein Grund zur Aufregung, die nachfolgenden Generationen werden unsere Gegenwartskunst verstehen und sogar genießen können!

1 Einleitung Philosophische Schriften über Kunst gelten, gleich wie alle anderen philosophischen Abhandlungen, als schwer verständlich, abstrakt und kunst- bzw. weltfremd. Die meisten fördern die weit verbreitete Meinung, dass »aus diesen trockenen und inhaltsleeren Analysen nichts Wissenswertes über die Kunst zu erfahren sei« (Danto 1991: 93). Oft geht es weniger um das reale Phänomen der Kunst als um die Entfaltung des eigenen philosophischen Systems. Die Kunst dient der Philosophie dann lediglich als Medium der Selbstvergewisserung (vgl. Bubner 1989: 11). Infolge der rasanten Entwicklungen der Kunst im 20. Jahrhundert munkelt man, dass sich »Kunst der Moderne und Philosophie der Gegenwart ohnehin nicht mehr viel zu sagen« haben (Koppe 1991: 7). Die Verformung der gegenständlichen Welt zur abstrakten Kunst und schließlich das Ausstellen realer oder nachgebildeter Flaschentrockner oder Suppendosen in Museen schienen alle traditionellen Kunsttheorien Lüge zu strafen. Diese verblüffenden Veränderungen ließen allerdings nicht nur viele Philosophen und Kunsttheoretiker ratlos zurück, sondern auch die übrigen Kunstinteressierten. Vor einem signierten Pissoir von Duchamp oder einem mit groben Strichen gemalten Ölbild eines missgestalteten Gnoms mit überdimensionalem Penis von Georg Baselitz fragt sich manch ein Betrachter: »Was soll das?«, »Ist das (noch) Kunst?« oder »Wozu Kunst?«. Wenn man Kunst einfach nicht mehr »versteht«, liegt akademisch gesprochen eine »kognitive Überforderung durch Kunst« vor (Tegtmeyer 2008: 135). In Anbetracht zeitgenössischer Bilder werden bisweilen Erinnerungen an Kinderzeichnungen und Klecksereien geweckt, so dass man denkt: »Das kann ich auch!« (Saehrendt/Kittl 2007). Von einem großen Teil der Bevölkerung wird zeitgenössische Musik als »Katzenmusik« beschimpft (vgl. Bertram 2007: 112). Auch mir schmerzen manchmal regelrecht die Ohren. Als Bassistin kann ich bei Aufführungen Neuer Musik nicht das während meines Studiums erworbene Können auf der Grundlage traditioneller Notenschrift unter Beweis stellen, sondern muss nach komplizierten, auf mehreren Seiten erklärten symbolischen Zeichen an verschiedenen Stellen auf dem Kontrabass mit Bogen oder Hand schlagen und ihm bestimmte Geräusche entlocken. Wo das Phänomen »Kunst« derart zu Irritationen führt, ist die Rede vom »Ende der Kunst« oft nicht weit. 1.1 Schwierigkeiten mit der Gegenwartskunst Die Schwierigkeiten mit der Gegenwartskunst sind teilweise dieselben, die wir mit »moderner Kunst« haben: Moderne Kunst meint in der Regel die Avantgardekunst ab 1880 mit Impressionismus, Expressionismus, Kubismus, Dadaismus, Surrealismus etc. In dem von mir bevorzugten weiten Sinn umfasst die »Moderne« auch die Gegenwart und ist somit noch nicht abgeschlossen. In einem engen Sinn wird sie ungefähr in den 1970er-Jahren durch die »Postmoderne« abgelöst. Auf verschiedene Weisen könnte man versuchen, die Dramatik der Lage hinsichtlich der Schwierigkeiten mit der Gegenwartskunst zu entschärfen: Zum Beispiel lässt sich verweisen auf einen boomenden Kunstmarkt, auf dem Rekordpreise erzielt werden, oder darauf, dass noch nie so viele Steuergelder für Kunstinstitutionen ausgegeben wurden, oder dass es noch nie so viele Kunstschulen, Kunstsammler und Künstler gegeben habe wie heute (vgl. Ullrich 2005: 233). Auch mangelt es nicht an international berühmten und äußerst gefragten Gegenwartskünstlern, in der bildenden Kunst etwa Gerhard Richter, Bruce Nauman oder Franz West. Diese stehen ganz oben auf der Liste der Top 30 der zeitgenössischen Künstler, zusammengestellt nach verschiedenen Kriterien wie Aufmerksamkeit, Ausstellungspräsenz und Netzwerken (vgl. www.art-report.com/de). Doch ist die Tatsache, dass Werke zeitgenössischer Künstler im MoMA (Museum of Modern Art) in New York ausgestellt werden und auf dem Kunstmarkt horrende Summen erzielen, wohl noch kein Beweis dafür, dass sie auch von einer breiteren Bevölkerung »verstanden« werden. Vermutlich kaufen sich viele Kunstwerke nur aus Prestige, weil sie gerade in »Mode« sind oder schlicht als Geldanlage. Am Ende sind es doch nur die Fachleute, im Fall der bildenden Kunst also die Galeristen, Kuratoren und Sammler, die den Wert zeitgenössischer Kunst überhaupt erkennen können. In Konzertaufführungen mit ausschließlich Neuer Musik im Programm sitzt bekanntlich nur ein handverlesenes Publikum aus Kennern, dem einzig diese Musik sich erschließt. Es entbehrt also nicht der phänomenalen Triftigkeit, wenn von einem »Faktum der Kommunikationsstörung« in der Kunst der Gegenwart gesprochen wird (Kausch 2005: 27). Vielleicht legt sich aber die Aufregung über dieses Faktum der Kommunikationsstörung, wenn man sich folgenden Umstand vergegenwärtigt: Meistens vergeht ein halbes Jahrhundert, bis die Kunstwerke einer Zeit von den Spätergeborenen verstanden werden. Es ist also kein neues Phänomen, dass die Werke zeitgenössischer Künstler auf Unverständnis oder gar Empörung und Widerstand stoßen. So beurteilen die meisten von uns beispielsweise die Gemälde des Impressionismus und Expressionismus als technisch brillant, qualitativ hochstehend oder einfach als »schön«. Beide Stilrichtungen lösten aber zu ihrer Zeit regelrechte Skandale aus: Die heute weltberühmten atmosphärischen Sonnenaufgänge und Seelandschaften Monets wurden bei der ersten gemeinsamen impressionistischen Ausstellung 1874 als unfertige, widerliche Schmierereien und das Resultat einer »bedauerlichen Geistesgestörtheit« gegeißelt (vgl. Schüler/Täuber 2008, 61ff.). Ähnlich herablassend wurden 1892 die Bilder von Edward Munch kommentiert, und angesichts der heftigen Proteste wurde damals die Berliner Ausstellung nach einer Woche wieder geschlossen. Man bezeichnete das Werk »als einen Hohn für die Kunst, als Schweinerei und Gemeinheit« und zog den heute zu Rekordpreis gehandelten Schrei ins Lächerliche wegen seines Himmels in »wirren Streifen, in dem Eigelb und Tomatensauce durcheinanderfluten« (ebd., 80)! Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sorgte Pablo Picasso mit seinen kubistischen Bildern für große Verwirrung, weil bei den in viele Flächen zerlegten Frauengestalten Vorder- und Rückseite merkwürdig ineinander griffen. Auch die heute viel gespielte Ballettmusik Le sacre du printemps von Igor Strawinsky löste bei der Uraufführung in Paris im Jahre 1913 aufgrund des neuartigen Übereinanderschichtens verschiedener Tonarten und Rhythmen heftige Tumulte aus. Man könnte aus dieser exemplarischen Zusammenstellung schließen: kein Grund zur Aufregung, die nachfolgenden Generationen werden unsere Gegenwartskunst verstehen und sogar genießen können!

Erscheint lt. Verlag 9.3.2013
Zusatzinfo -
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 140 x 213 mm
Gewicht 362 g
Einbandart kartoniert
Themenwelt Kunst / Musik / Theater
Geisteswissenschaften Philosophie Allgemeines / Lexika
Geisteswissenschaften Philosophie Ethik
Schlagworte Ästhetik • Ethik • Kunstauftrag • Kunstethik • Kunstförderung • Kunstform • künstlerische Praxis • Kunstphilosophie • Kunstproduktion • Kunstrezeption
ISBN-10 3-593-39871-0 / 3593398710
ISBN-13 978-3-593-39871-6 / 9783593398716
Zustand Neuware
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