Warum sinkt mein Chor? -  Thomas Schuster

Warum sinkt mein Chor? (eBook)

Über das Detonieren von Laienchören
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
112 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7543-6235-8 (ISBN)
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Chorleiter, insbesondere von Laienchören, sind häufig mit der Frage befasst, warum der Chor in der Stimmung absinkt, und wie dem Sinken entgegengewirkt werden kann. In der Literatur sind oft nur kurze und unzureichende Antworten zu finden. Dieses Buch präsentiert eine detaillierte Betrachtung verschiedener Mechanismen und zeigt Lösungsstrategien auf. Entscheidend ist, dass nie nur eine Ursache allein im Fokus stehen darf. Wesentliche Ansatzpunkte sind Effekte, die auf den Stimmungssystemen basieren - sogenannte Kommarückungen - sowie gesangstechnische Probleme. Der Chorleiter muss also ein Stück weit Musiktheoretiker und Stimmbildner zugleich sein.

Thomas Schuster ist promovierter Physiker und leidenschaftlicher Amateurmusiker. Hauptberuflich ist er als Ingenieur in der Radarentwicklung tätig. Seit seinem 13. Lebensjahr ist er regelmäßig als Organist aktiv. Er hat hat verschiedene Kirchenchöre geleitet und betätigt sich auch als Chorsänger in ambitionierten Ensembles. Er bildet sich regelmäßig in Seminaren weiter und hat seit jeher ein besonderes Interesse für die physikalisch-akustischen Grundlagen musikalischer Fragestellungen.

1. Von Diagnosen und Verordnungen


Wenn ich zum Arzt gehe und über Bauchschmerzen klage, welche Reaktionen des Arztes sind dann denkbar:

  • “Ja, da geht gerade ein Virus um, ich schreibe Sie drei Tage krank. Ausreichend trinken und Bettruhe.”
  • “Sie waren doch schon öfter bei mir, ich habe Ihnen bereits empfohlen weniger Fett zu essen. Da kann ich jetzt leider nichts für Sie tun. Einfach die Zähne zusammenbeißen und in Zukunft mehr auf meine Ratschläge hören.”
  • “Ich weiß, viele meiner Kollegen haben so allgemeine Tipps auf Lager: gesunde Ernährung, Stress vermeiden, seinen Körper kennenlernen, abends weniger essen oder bestimmte Lebensmittel weglassen, die im Verdacht stehen, die Beschwerden zu verursachen. Das ist alles ganz nett und auch nicht falsch, aber entscheidend ist, dass Sie komplett auf die Steinzeit-Diät umstellen. Ich habe es selber probiert, und es hat Wunder gewirkt.”
  • “Haben Sie erbrochen oder haben Sie Fieber? Nein, ok, wo tut es weh? Aha, eher rechts oben. Haben Sie fett gegessen? Ok, ja, hört sich nach Leber an. Da würde ich Artischockensaft probieren.”
  • “Haben Sie möglicherweise etwas Verdorbenes gegessen? Wie lang haben Sie schon die Beschwerden? Haben Sie erbrochen, wenn ja, wie oft? Haben Angehörige oder Kollegen ähnliche Beschwerden, geht vielleicht ein Virus um? Leiden Sie zusätzlich an Fieber oder Abgeschlagenheit? Tut es an einer bestimmten Stelle weh? Ich taste mal Ihren Bauch ab. Eventuell machen wir später noch einen Ultraschall von Ihrer Gallenblase. Wenn es länger anhält, und wir keine Ursache finden, dann machen wir ein Blutbild und schauen, ob es Hinweise auf Erkrankungen der inneren Organe gibt.”

Ich glaube, jeder kann sich vorstellen, welche Antwort ich bevorzugen würde. Wenn ich diese Antworten auf den Patienten des sinkenden Chors übertrage: ähnliche Antworten sinnvolle oder weniger sinnvolle, umfassende oder weniger umfassende haben bestimmt viele Chorleiter auf Lager, oder man findet sie in Büchern:

  • “Manche Sänger sinken halt immer, da bringen alle Bemühungen nichts. Entweder man lebt damit, oder man sucht sich die besten Sänger aus.” (Ich stimme zu, dass man mit gewissen Beschränkungen einzelner Sänger leben muss, aber pauschal anzunehmen, dass es keine Verbesserung geben kann, halte ich für falsch.)
  • “Schuld ist das Klavier mit seiner gleichschwebenden Stimmung.”
  • “Schuld sind vor allem dunkle Vokale.”
  • “Überwiegend liegt das Detonieren in Kommarückungen begründet.”

Vermutlich werden sich die meisten meiner Meinung anschließen, dass es die eine Ursache nicht gibt. Mein Gefühl ist trotzdem, dass in der Literatur und auch in der Chorleitungspraxis . . .

  • . . . Ursachen angeführt werden, die keine sind, und die unreflektiert “überliefert” werden.
  • . . . einzelne Punkte entweder komplett ignoriert oder stark überbetont werden. Bestes Beispiel für beides ist das Thema der Kommarückungen, siehe Kapitel 5.1.2. Manchen ist das Thema vielleicht zu theoretisch, und es wird lieber an der Vokalfarbe herumgedoktert, anstatt eindeutig identifizierbare problematische Sprünge / Fortschreitungen ins Visier zu nehmen. Andere wiederum haben das Thema endlich verstanden und halten dann alle anderen Ursachen für nettes Beiwerk und fokussieren sich zu stark auf das eine Problem. Und es soll auch Chorleiter geben, die davon noch nie gehört haben. Bei meiner Chorleiterausbildung war es nicht Bestandteil des Lehrplans, was für mich völlig unverständlich ist.
  • . . . oft erst kurz vor dem Auftritt die Erkenntnis kommt, dass “überraschenderweise” ohne Klavier die Intonation nicht ganz so stabil ist wie mit Begleitung. Dann wird verzweifelt versucht, punktuell bei einzelnen Noten an gesangstechnischen Themen anzusetzen, die man sonst bei der Probearbeit vernachlässigt hat.

Alles in allem muss sich der Chorleiter verschiedener möglicher Ursachen bewusst sein, in der Praxis identifizieren, welche Ursache an welcher Stelle dominierend ist, und dann am richtigen Punkt ansetzen. Klingt einfach, ist es aber offenbar nicht, warum sonst würden die Laienchöre dieser Welt mehrheitlich in ihrer Stimmung absinken?

Die Tätigkeit eines Hausarztes ist sicher auch nicht einfach. Vielleicht kann man für Bauchschmerzen ein Ablaufdiagramm entwerfen, was in welcher Reihenfolge abzuklären ist, und welche Behandlung daraus folgt, aber wird es immer funktionieren? Wird so ein einfaches Schema nicht an den konkreten Umständen und Rahmenbedingungen jedes bearbeiteten Falls scheitern müssen?

Ist die Anamnese genau genug? Lässt sich der Arzt die Diagnose vom Patienten anhand seines Berichts suggerieren? Ist der Patient ehrlich? Kann es sein, dass der Patient die Therapie bewusst oder unbewusst sabotiert oder Fehler bei der Einnahme von Medikamenten macht? Werden möglicherweise psychische Probleme gar nicht als solche gesehen und daher bei der Anamnese nicht ausreichend berücksichtigt? Oder schießt der Arzt sich zu schnell auf Stress als Ursache ein und untersucht organische Ursachen nicht mit ausreichendem Eifer? Gibt es unbekannte Vorerkrankungen, die eine Rolle spielen? Werden unwahrscheinlichere Ursachen wie Wohngifte ausreichend in Betracht gezogen? Welchen Einfluss hat die Einstellung des Patienten zur vorgeschlagenen Therapie?

Das sind alles Fragen, die mit laienhaften Augen betrachtet die Aufgaben eines Hausarztes schwierig machen dürften. Trotz allem hat der Hausarzt einen Baukasten von wissenschaftlich nachgewiesenen Diagnosemöglichkeiten und Behandlungsmethoden zur Verfügung. Wenn er die Diagnose richtig stellt, dabei nichts übersieht, nicht Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Erkrankungen oder Medikamenten außer Acht lässt, dann hat er gute Chancen, die richtige Behandlungsmethode zu finden und seinen Patienten erfolgreich zu heilen.

Der Leiter eines sinkenden Chors hat es nicht ganz so leicht. Er muss, genau wie der Hausarzt, verschiedene Ursachen in Erwägung ziehen, muss sein Ensemble “ganzheitlich” betrachten, muss sich überlegen, wann welche Ursache des Detonierens maßgeblich ist, und wie er gegensteuern kann. Allerdings ist meiner Meinung nach der Baukasten an Diagnosen und Behandlungsmöglichkeiten des Chorleiters, im Gegensatz zu dem des Arztes, nicht wissenschaftlich fundiert.

Die “Chorleitungskunst” ist keine Wissenschaft und wird nicht von Wissenschaftlern gelehrt. Wenn man Biographien von Professoren der Chorleitung liest, dann findet man meistens Angaben über beeindruckende Erfolge in der Praxis: Gewonnene Wettbewerbe, CD-Einspielungen, Jurorentätigkeit, kompositorisches Schaffen usw. usf. Ich denke, es ist auch angemessen, dass genau diejenigen Chorleitung an Hochschulen unterrichten, die ihre Kompetenz in der Praxis unter Beweis gestellt haben, und die zudem ein pädagogisches Talent haben und ihre Fähigkeiten an den Nachwuchs weitergeben können. Allerdings lassen die entsprechenden Lehrbücher für mich wissenschaftliche Aspekte zu stark vermissen.

Wie ich in Kapitel 2 zeige, findet man eine Vielzahl von unbegründeten und in meinen Augen auch unlogischen Aussagen in der Literatur, beispielsweise:

  • Das Klavier verdirbt das “natürliche” Bestreben nach reiner Intonation, was die Tendenz zum Detonieren erhöht.
  • Unpräziser Rhythmus führt zum Detonieren.
  • Dunkle Vokale führen zum Detonieren. Das halte ich nicht für gänzlich falsch, aber auch nicht für richtig, Detaildiskussion folgt.

Diese Aussagen sind hier nur exemplarisch angefügt, eine genauere Diskussion folgt im weiteren Verlauf des Buches. Genauso wie Lehrbücher über Chorleitung keine wissenschaftlichen Abhandlungen sind, ist es unmöglich, dass mein kleines Büchlein, das nur meine eigenen Gedanken zum Thema wiedergibt, diesen Anspruch erhebt. Wissenschaft ist ein Prozess, der nur durch den wechselseitigen Austausch verschiedener Forschergruppen, Veröffentlichungen, Tagungen und Kongresse, Verifikation und Falsifikation funktioniert. Ich möchte mit diesem Büchlein einen kleinen Schritt in Richtung einer wissenschaftlichen Untersuchung von Intonationsthemen gehen, indem ich nicht oder unzureichend begründete Aussagen kritisch hinterfrage und schlüssig dagegen argumentiere.

Außerdem denke ich, dass Fragen rund um die Intonation von Chören, speziell die Frage nach Ursachen des Detonierens, heutzutage sehr gut empirisch untersucht werden könnten. Wenn ich schon mangels Zeit und entsprechender finanzieller Mittel nicht in der Lage bin, das zu tun, dann möchte ich es wenigstens anregen. Es gibt eine Vielzahl von Fragen, die sich für empirische Untersuchungen eignen würden:

  • Gibt es, wie oft behauptet wird, eine Tendenz zur Intonation in einem bestimmten Stimmungssystem, abhängig davon, ob man einstimmig oder mehrstimmig, begleitet oder unbegleitet singt?
  • Wie ist der Einfluss der Vokalfarbe auf die...

Erscheint lt. Verlag 13.8.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Musik
ISBN-10 3-7543-6235-6 / 3754362356
ISBN-13 978-3-7543-6235-8 / 9783754362358
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