Der Anspruch der Dinge

Upcycling als Kunst

(Autor)

Buch | Hardcover
192 Seiten
2021
edition.SABA (Verlag)
978-3-940909-08-4 (ISBN)
19,90 inkl. MwSt
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Benötigen wir demnächst ein „Parlament der Dinge“? Haben die Menschen gemachten Dinge, deren physische Masse die der natürlichen Biomasse schon bei weitem übersteigt, einen Anspruch mitzureden? „Der Anspruch der Dinge“ nimmt uns mit auf eine inspirierende Reise durch Theorie und Praxis, in Ateliers, zu Kultur-Geschichten, Fetisch, Memes und Musen. Julia Theek wirft als Pionierin des Upcycling und als Künstlerin Licht und Schatten auf die unterschiedlichsten Dimensionen des Dings an sich und regt damit nicht nur zum Nachdenken sondern auch zum Umdenken an.

Julia Theek wurde 1966 in Potsdam geboren und schon im Vorschulalter von ihrem Großvater, dem Maler und Kunstpädagogen Paul August in klassischen Kunsttechniken ausgebildet. 1988 bis 1995 studierte sie Ästhetik, Kunst und Medienwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. 1988 stellte sie Computergraphiken aus, 1990 Assemblagen und 1992 eine Multimedia-Installation in der berühmten "37 Räume"- Ausstellung in der Berliner Auguststraße. 1993 nahm sie an einem Seminar über Filmproduktion an der „University of Southern California“ teil, dann folgten Musikvideos und Kunstdokumentationen. 1995 erhielt sie den Titel "Magistra Artium" für ihre Arbeit über "Semiotische Interpretationsverfahren für Fernsehdesign". In den späten 90ern rückte sie mit den Dokumentarfilmen "The unseen Warhol" und "New York Meat-District" den Fokus ihrer Arbeit wieder auf die Bildende Kunst zurück, 2002 folgte ein Zyklus von Acrylgemälden mit Palästen und Ruinen für "European - Visual Storm II", eine Videoinstallation. Mit Streetart-Graffiti kehrte sie zur Malerei zurück und entwickelte unter der handwerklichen Anleitung von Motorraddesignern ihre eigene Airbrush-Technik. 1999 – 2009 entwickelte sie als Projektleiterin die „Potsdamer Schlössernacht“. Davon inspiriert wurde der Zyklus „Preußische Paläste“, 2010 – 2017 entstand der Zyklus „Gated communities“, seit 2000 arbeitet sie an einer „Menagerie“ mit Upcycling-Kunst. 2012 gründete sie mit einem Künstler-Team die Sommerakademie „Lübzer Kunstspeicher“, die sich inzwischen auf Upcycling, Kunst und Design mit Nachhaltigkeit spezialisiert hat, und 2021 das "Zentrum für Zirkuläre Kunst“. Julia Theek hat in Italien und Spanien ausgestellt, v.a. aber in Berlin und ihrer Heimatstadt Potsdam, ihre Bilder finden sich in namhaften Sammlungen.

Inhalt
Vorwort Christiane Goetz Weimer
I. Aufriss
I.1 Der Stand der Dinge
I.2 Dingens – Ästhetik
I.3 Seit Anfang der Dinge – Abfall
I.4 Nach Lage der Dinge – Verantwortung
I.5 Über den Dingen stehen – Imitation vs. Reform
I.6 Die Macht der Dinge – Fetisch
I.7 Bedingungen – Mode und Risiko
I.8 Nicht mein Ding!
I.9 Maß aller Dinge – Meme und Muse
I.10 Das Ding an sich – Heidegger
I.11 Das System der Dinge – Baudrillard
I.12 Dingen semiotisch auf den Grund gehen

II. Ableitung
II.1 Aller guten Dinge sind 4 E – Eine Upcyclingmethode.
II.2 Dinggedicht – Spitze und Tiefe
II.3 Dolles Ding – Kunst
II.4 Unding – Hitlers Pullover
II.5 Verlorene Dinge – Boom, Bang, Bildersturm
II.6 Die Schönheit der Dinge – NEO- Eklektizismus und Klassik
II.7 Verbindende Dinge – Einstein und ein Mantel
II.8 Gut Ding will Weile haben – Patina vs. Obsoleszenz
II.9 Antike Dinge und Vintage
II.10 Schläft ein Lied in allen Dingen – Revolution und Poesie
II.11 Die allernotwendigsten Dinge

III. Ausblick
III.1 Ding dong – Buddha ist da.
III.2 Ringen mit Dingen
III.3 Parlament der Dinge
III.4 Allerdings – Das goldene Kalb ist eine Ziege
III.5 Dingen ihren Lauf lassen?
III.6 Das Internet der Dinge

Die Circular Art Society
Die Autorin S.192

Vorwort von Christiane Goetz-Weimer Nachhaltigkeit ist der Mega-Trend unserer Zeit. Crossover sein kleiner Bruder. Dieses Buch verschmilzt in einer interdisziplinären Synthese Kulturgeschichte mit Philosophie, lenkt den Blick auf den Anspruch der Dinge, auf ihr Vergehen und Werden – weist schließlich die Künstlerperspektive hin zum Upcycling. Julia Theek war längst arrivierte Künstlerin, als sie – seit 2014 auch in ihrer Sommerakademie – in Deutschland zu einer der Vorreiterinnen jener Künstlerbewegung wurde, die klassische Kunsttechniken mit gebrauchten Materialien zu einem neuen Ganzen kreieren. Selbst schon seit frühester Kindheit, angeleitet vom Künstlergroßvater Paul August mit Rötel, Aquarellfarben und Tuschen gearbeitet, hat sie die Diskussionen des Dozenten mit seinen Studenten über die Abrissarbeiten zur Umgestaltung Potsdams zur „sozialistischen Stadt“ miterlebt – und entschied sich, Kunsttheorie, Ästhetik, Kunstwissenschaft zu studieren, um besser argumentieren zu können. Mehr an gesellschaftlichen Themen als am Kunstmarkt interessiert, gibt sie Seminare für interessierte Laien, Künstlerkollegen und Studenten. Die Kunsttechnik für ihre Themen ist aus der Streetart abgleitet, gesprüht wird vorzugsweise auf Möbelteilen. Vor Ideen sprüht Julia Theek nicht zuletzt immer dann, wenn sie kuratiert: so den Upcyclingkunstpreis, der eine bemerkenswerte Plattform für die „Szene“ geschaffen hat. Das ironische Zitat, das verfremdete Augenzwinkern, die Verblüffung einer neuen dekonstruierten Re-Konstruktion prägt die Upcycling-Kunst ebenso wie das Unbehagen am Wegwerfkult. Upcycling-Kunst sensibilisiert daher sinnlich für unsere Verantwortung und geht dabei über das reine Recycling hinaus. Sie formt die Idee der Nachhaltigkeit zu einer qualitativen Dimension, wenn etwa für die Künstler des Zentrums für Zirkuläre Kunst die Lust am Fundstück /Artefakt prägendes Motiv wird. Der kreative und intelligente Umgang mit bereits vorhandenem Material ist vordergründig eine breiter werdende Grundströmung der Gegenwartskunst, weil sie die Wegwerfgesellschaft rückspiegelt und das Ressourcenbewusstsein einer neuen Generation thematisiert. Hintergründig geht es um mehr als einen „Green deal der modernen Kunst“. Es geht um die Suche nach Identität. Der Künstler akzeptiert Identität als eine zentrale Bezugsgröße von Ich und Du und Wir Für den Künstler gibt es seit jeher keine Zukunft ohne Herkunft, wie der Philosoph Odo Marquardt treffend erkannte. Der suchende Künstler schätzt seit jeher die Vergangenheit als Quelle seiner Identität. Dort wird der Sucher fündig. Er akzeptiert überhaupt Identität als eine zentrale Bezugsgröße von Ich und Du und Wir. Er weiß um die formative Kraft von Vorgängern für die bewusste und unterbewusste Kultur, die nicht immer neu gefunden oder definiert werden muss, sondern die ihn von vornherein prägt. Er folgt instinktiv dem Diktum Marcel Prousts: “Erst im Gedächtnis formt sich die Wirklichkeit.“ Allerdings wäre der Künstler kein Künstler, wenn er nicht eine neue Wirklichkeit aus dem Inventar der Alten formte. In den Ready-Mades von Marcel Duchamps und den Dadaisten steckt der Keim des heutigen Upcyclings. Duchamps “Bicycle Wheel” gehört zu den Ikonen dieser Kunst ebenso wie Pablo Picassos “Stierkopf”, sein am einfachsten nachzuempfindendes Werk, wie die Fassung auf dem Buchdeckel hinten zeigt. Oft ist es das ironische Zitat, das verfremdete Augenzwinkern, die Verblüffung einer neuen dekonstruierten Re-Konstruktion, die Upcycling-Kunst prägt. Zuweilen ist es die schiere Herkunft und Fremdheit des Materials, die das leise Zitat von Identität eröffnet. Upcycling-Kunst spannt den Bogen vom Woher zum Wohin. Der Philosoph Hermann Lübbe hat den modernen Menschen als „Orientierungswaisen“ bezeichnet. Das umfassende Lebensgefühl, dass alles, was heute gilt, morgen Makulatur sein kann, befähigt uns zwar, den Modernisierungsprozess zu bewältigen und sich einem totalen Falsifizierungsvorbehalt zu unterwerfen. Im Popperschen Sinne sind unsere Gesellschaften damit liberal, offen und selbstkritisch geworden. Das ist einerseits gut so. Andererseits aber zahlen wir dafür einen Preis der Bewusstlosigkeit. Ethisch, philosophisch, kulturell, historisch finden wir keinen Anfang und kein Ende mehr, die westlichen Gesellschaften sind Treibhölzer einer modernen, technischen Raserei, die sie selbst losgetreten hat. Wir wissen nicht, wohin das führt, wir wissen nicht einmal mehr, wohin das führen soll. Die Modernisierung hat sich gewissermaßen emanzipiert von ihrem Zweck. Was sich Nietzsche von der Moral dachte und wünschte, dass sie eine zeitgebundene, manipulierbare Kategorie sei, das ist mit dem Sinn geschehen. Und das wird in den Dingen sichtbar, mehr noch in ihrer massenhaften Vermüllung. Upcycling-Kunst spannt den Bogen vom Woher zum Wohin Das Unbehagen am Wegwerfkult hat eine ökologische Dimension. Upcycling-Kunst sensibilisiert daher sinnlich für unsere Verantwortung und geht dabei über das reine Recycling hinaus. Sie formt die Idee der Nachhaltigkeit zu einer qualitativen Dimension, wenn die Lust am Fundstück /Artefakt prägendes Motiv wird. Die Haltung hinter dieser Kunst ist eine zutiefst respektvolle, es werden verworfene Dinge mit traditionellen Verweisen, handwerklicher Qualität oder einfach ästhetischem Reiz durch Upcycling gerettet. Von Umnutzung kann dabei nicht immer die Rede sein, wenn wir davon ausgehen, dass Kunst keinem direkten Nutzen dienen soll, aber es geht prinzipiell um eine verlängerte Nutzungsdauer der Dinge. Im Lockdown der Pandemie bekam Upcycling eine weitere Facette. Die Gesellschaft wurde wie nie auf ihr “Materielles Selbst” zurückgeworfen. Die Lockdown-Menschen hatten Zeit, sich mit bereits vorhandenen Dingen ganz neu intensiv auseinander zu setzen und sie neu zu bewerten. Die weltweite Upcycling-Bewegung macht genau dies seit Jahren zum gesellschaftlichen Thema. Dieser „Green Deal“ zieht pandemisch beschleunigt immer weitere Kreise und wir möchten ihn fördern, weil Upcycling-Künstler eine doppelte Avantgarde verkörpern – die der Behutsamkeitsidee für Ressourcen und die des Neo-Eklektizismus unserer Identitäten. Friedrich Schlegel formulierte das 1809 so: Unsere Ahnen alte Kunde Ist es, was mir Hoffnung gibt; Wann, belehrt in treuem Bunde, Man das Alte wieder liebt. Der Schweizer Literat Adolf Muschg fragte einmal: „Gehen die Deutschen mit ihrer Identität so großzügig um, oder so wegwerfend? Es ist eins, glaube ich, die Quittung der Geschichte zu unterschreiben als ehrlicher Schuldner. Es ist ein anderes, zugleich aus der eigenen Geschichte auszutreten.“ Die Upcycling-Kunst tritt nicht aus der Geschichte aus, sie tritt vielmehr in sie ein. Ihr ist die Notwendigkeit zum Fortschritt völlig klar, aber ebenso klar ist ihr die Notwendigkeit der Tradition. Der polnische Philosoph Kolakowski formulierte diese doppelte Einsicht im Aphorismus „Erstens: Hätten nicht neue Generationen unaufhörlich gegen die ererbte Tradition aufbegehrt, würden wir heute noch in Höhlen leben. Und zweitens: Würde das Aufbegehren gegen die ererbte Tradition einmal universell, würden wir uns bald wieder in den Höhlen befinden.“ Der deutsche Begriff der „Überlieferung“ ist ein ziemlich passender Begriff für diese Kunstrichtung, denn die alten Objekte sind immer das Herübergelieferte aus der Geschichte. Gerade weil Gewissheiten schwinden, die Geschwindigkeit, mit der sich die Welt um uns herum verändert, so steil ansteigt, weil Heimaten aller Arten verschwinden (Peter Berger beklagt zurecht, dass der moderne Mensch an einem sich dauernd vertiefenden Zustand der Heimatlosigkeit leidet) braucht es ein besonderes Sensorium für und zugleich eine Antwort auf die Raserei der Moderne – die der tradierten Identität.

I.1 Stand der Dinge Von nun an sind wir in der Minderheit. Die Masse der von uns hergestellten Dinge ist größer als die Gesamtmasse aller Lebensformen auf der Erde, die auf rund 1,1 Billionen Tonnen berechnet wurde. Da derzeit doppelt so viele Menschen geboren werden, wie gleichzeitig versterben und sich unsere Produktion alle 20 Jahre verdoppelt, müssen wir wohl etwas ändern. Dabei ist nicht die Verbesserung der Lebensbedingungen in den ärmsten Gegenden gemeint, die zum Überfluss der Dinge nicht beitragen und aus Not Upcycling betreiben. Es gibt globale Bewegungen, die versuchen, die Lawine von Massenproduktion, die mit jeder Saison auf uns zurollt, abzubremsen. Upcycling ist Anspruch, Konzept und kann auch als Technik verstanden werden. Als Begriff klingt es so unbestimmt wie Urlaub, jeder hat dazu andere Bilder im Kopf. Leider sind es oft nur Teelichthalter oder Möbel aus Palletten. Dabei steckt Upcycling zu Unrecht noch in der Bastelecke. Dieses Buch möchte nach kulturellen Wurzeln, praktischen Methoden und einem übergreifenden ästhetischen Ansatz gucken, statt verbieten inspirieren und Dingkonzepte diskutieren. Und mit Kunst kommentieren, damit es zum Vergnügen wird. Zerschlissene Jeans, die aussehen, als hätten sie mindestens eine Weltumsegelung mitgemacht, sind schon eine ganze Weile en vogue. Ganze Heerscharen von Billigarbeitskräften werden damit beschäftigt, neue Stoffe auszubleichen und einzuritzen. Ein langer Gebrauch wird verabredet simuliert, auf dem Laufsteg oder der Straße soll ja keiner denken, dass dies wirklich alte Klamotten wären. Hier wird das angeblich "Echte" verkauft, das, was uns Kunden verführt: bewährte Qualität, gemeinsame Abenteuer, Patina, Authentizität und Tradition. Moden kommen wieder, doch trägt man Mutters Kleid aus den 70ern? Ein Vintage-Fahrrad wird gekauft, obwohl man ein ähnliches vor Jahren verschrottete. Und dieses könnte sogar weniger lange funktionieren, denn nach dem Retrotrend der 70er Jahre will der Hersteller auch das Revival der Achtziger verkaufen. Neben Fastfood gibt es fast fashion und sogar fast furniture, beispielsweise im shabby chic. Massenproduzierte Dinge, die antik aussehen sollen. Sie lassen sich nicht einmal recyceln, wenn sie zerfallen, denn die Plastikschnörkel sind aufgesetzt und die Schubladen aus Faserplatten klemmen und zerbröseln. Warum werden Gebrauchsspuren eher akzeptiert, wenn sie industriell produziert wurden? Ungeachtet der Chemikalien, denen wir uns hautnah aussetzen? Die Nachahmung altert auch nicht gut. Selten haben Großserien- Möbel aus Kompositstoffen eine so gute Qualität, dass sie schön altern. Das Ding wird nicht für mich produziert, sondern um es mir zu verkaufen. Als Ware soll es verführen, zu einer möglichst raschen Affäre, damit wir auch bald wieder frei sind für andere neuere Reize. Reflektierte Strategien – wie sehe ich das in zwei Jahren oder in 20, sollen hier nicht greifen. Was erzählen unsere auserwählten Dinge – trage ich das, was mir als die neueste Mode vorgeben wird? Bewährte eigene Klassiker oder Second Hand? Ist die Rolex fake oder von Großmutter? Sammle ich Bronzen oder Baseballkarten? Turnschuhe oder Taschen? Der Epoche prägende Couturier Jean-Paul Gaultier hat sich mit einer Upcycling-Kollektion vom Laufsteg verabschiedet - mit dem Hinweis, dass es schon genug Kleidung gibt. Die Umsatzsteigerung ständig neuer Waren hat eine Kehrseite. Was wir gewissensschonend in vier Tonnen getrennt entsorgen, kann uns in den Nachrichtenbildern als Treibplastik im Ozean oder als gigantischer Müllberg in Ghana wieder begegnen. Mikroplastik ist in der Luft und im Essen. Ein Geheimtipp vom Gärtner ist, auf Spaziergängen aufgeworfene Erde aus Maulwurfhügeln mitzunehmen, weil dieser tiefe Aushub noch unbelastet sei. Dabei wird hierzulande stark reguliert, eine neue Deponie zu erschließen dauert um die zehn Jahre, in Afrika ist das nicht so kompliziert. Wir verbessern unseren Müll, auch wenn das Duale System noch vorwiegend die Verbrennung befeuert. Die Technologien werden ständig verbessert, die Qualität der Recyclate wird weiter entwickelt. Während die Kreativeren abgelegte Kleidung zu Teppichen klöppeln, kommt der Löwenanteil unseres Abfalls aus der Bauindustrie. Warum ist dort die Handarbeit unbezahlbar, die erforderlich wäre, Baustoffe materialgerecht zu recyceln? Privat wird mit den Dingen mehr als Material entsorgt, wenn etwas beim Ausmisten, in Umzügen und Nachlässen stört: Wir verlieren auch die darin enthaltene Arbeit und Energie, den Trend von gestern und gelebte Kultur. Mit der Verdichtung der Metropolen müssen wir uns reduzieren. Dabei verlieren wir auch Stücke, die später vermisst werden. Das Ding war Teil unseres Lebens, darauf wurde gespart oder es war ein Geschenk von jemandem, mit dem wir es verbinden. Die Entscheidung, etwas in die Tonnen zu treten, ist irreversibel und kann bei der Masse der angehäuften Dinge schwer fallen. Die Aufräumkönigin Marie Kondo wurde wohl deshalb unter die 100 einflussreichsten Leute der Welt gewählt. In diesem Buch soll auch das Ding an sich befragt werden: Heidegger hilft uns weiter wie die Theorie der Meme, die nun auch unsere virtuelle Erweiterung ins Metaversum prägen. Dass uns die Moderne nicht vom Fetisch befreit hat, zeigen sinnlos überteuerte Turnschuhe oder Glücksbringer fürs Turnier. Die Massenproduktion hat auch Reformbewegungen erzeugt, ein Rückblick lohnt sich für das Upcyclingthema. Eine Art internationaler Stil hat die Privathäuser von Kühlungsborn bis Kapstadt erobert. Möglicherweise weichen wir auf skandinavisches Design oder exotische Masken aus, weil uns unser Erbe peinlich ist. Mitunter sind es die Großeltern selbst, die die Erbstücke zu Geld machen, weil sie befürchten, dass sie nicht wertgeschätzt würden. Dafür gibt es eine Fernsehsendung im Nachmittagsprogramm. Oder geht es dabei um die kompetente Bewertung der eigenen Sammlung, die dann digitalisiert allen Nachkommen und Bekannten vermittelt werden kann? Schade, wenn dann ein kostbares Porzellan gesprungen ist oder das Holzfurnier im Tischchen von Tante Grete beim Blumengießen ruiniert. Da übersteigen die Restaurierungskosten schnell den Materialwert, und der wirtschaftliche Totalschaden wird als Belastung empfunden. „Möbelmörd!“ heißt es manchmal im Netz, wenn das Upcycling eines alten Stücks nicht den jeweiligen Geschmack trifft. Aber da kann man entspannter sein, denn, wie der Berliner Star-Upcycler Thomas Klotz antwortet: Im Original war dieser Schrank ein Baum . Lassen wir uns doch ein bisschen altmodisch an den Dingen hängen, ein bisschen besonders sein, und von mir aus darf das dann auch Retro oder Vintage heißen. Auch für Upcycling gibt es ja keine gute Übersetzung. „Herrichten“, „Aufmöbeln“ oder „ auf Vordermann bringen“ lassen jeden Influencer erschauern. Upcycling ein spannender, geradezu alchemistischer Akt der Transformation. Im Beginn des Zweiten Buchteils ist dafür eine Methode vorgeschlagen, 4E. Und hier ist die technische Entwicklung unser Freund – inzwischen gibt es bewährte Materialien gebrauchsfertig, keiner muss mehr Knochenleim kochen oder Schellack ansetzen. Zum Vergolden sind wir nicht auf 24 karätiges Blattgold angewiesen, hauchdünne Legierungen werden in allen erdenklichen Schattierungen angeboten. Immer besser können digital Fehlstücke rekonstruiert werden. Was bei der Sirene auf dem Titelbild aus Bronze gegossen wurde – als Verbindung zwischen einem längst nicht mehr benötigten Posthorn und einem halben Fenstergriff (Abbildung 1)– kann der 3-D Druck schneller, billiger und demnächst auch materialspezifischer. Upcycling geht mit dem um, was schon da ist. Es ist die Transformation von bereits Genutztem in etwas möglichst Höherwertiges - im Unterschied zu Recycling, wo das Material zurück im Produktions-Prozess Eigenschaften einbüßt. Mit Upcycling werden Dinge veränderten Lebensumständen angepasst, umgenutzt, länger gebraucht oder umgestaltet. Ein individueller Stil entsteht. Upcycling schafft Kunst, Unikate, Prototypen, kreative Problemlösungen oder interessante Rauminstallationen. Es kann identitätsstiftend, gesünder, Team bildend, Kosten sparend oder Image bildend wirken, - mindestens aber vermeidet es Abfall. Institutionen und Firmen hilft Upcycling bei der Einrichtung mit interessanten Unikaten, es schafft Content für die sozialen Plattformen oder schmückt Partys, Messen und Tagungen. Es befördert das Gespräch und auch nonverbal lässt sich die eigene Botschaft umweltbewusst darstellen. Upcycling ist auch eine innovative Methode, die eigene Geschichte zu erzählen. Mit von Künstlern inszenierten Archivalien entstehen anregende Environments. Diese Raumgestaltungen können Besucher und Mitarbeiter inspirieren. Und sie bilden einen signifikanten Hintergrund für Videokonferenzen, Instagram, Pressetermine,… Konventionelles Marketing ist in einer Glaubwürdigkeitskrise, die klassischen Medien spielen eine immer geringere Rolle. Mit den digitalen sozialen Netzwerken wird Beziehung zum Maß der Dinge. Wenn Kollegen, Kunden oder Kooperationspartner von sich aus Fotos meiner Upcycling-Installationen in den sozialen Netzwerken verbreiten, sind dies unbezahlbare Komplimente. Jede Region blickt auf eine unvergleichlich interessante und ausdifferenzierte Produktionsgeschichte zurück. In allen Familien wurden Dinge gepflegt und vererbt. Wie persönlich das ist, wird immer wieder an den biografischen Beispielen deutlich. Upcycling ist keine bloße Konservierung, sondern eine Weiterentwicklung des Erbes, ein update für Tradition. Das Internet bietet immer differenziertere Plattformen für bereits Gebrauchtes aus zweiter Hand und Sammlerstücke, bei denen nur prominente Vorbesitzer bedeutsam sind. Echte Patina und handwerkliche Qualität sind rar geworden und steigen in Wert und Ansehen. Steampunk und Industrial Design haben eine wachsende Fangemeinde. Upcycling erobert sich mehr und mehr Sendeplatz im Fernsehen. Innendesinger schwenken von cleanen Konzepten zur Inszenierung von Familienerbstücken. Oft kommen sie sogar vom Auftraggeber selbst. Man kombiniert Biedermeier und Spaceage. 70er -Jahre -Artefakte und sogar die optisch herausfordernden 80er sind jetzt Sammelgebiet, inzwischen ist der meiste Schadstoff sogar ausgedünstet... Innendesigner empfehlen nicht mehr zuerst die neueste italienische Edition, sondern recherchieren die Persönlichkeit der Auftraggeber. In der Kunst hat die Verwendung interessanter Artefakte Tradition, und die Moderne hat sie noch angekurbelt. Nehmen wir Picassos Stierkopf, sein am leichtesten zu fälschendes Werk wie der Buchrücken zeigt: der Sattel allein wäre mit guten Willen oder unter Einfluss von Alkohol als Schädel erkennbar, der Lenker allein – mhh? ein … Fahrradlenker? Aber zusammen: Jawoll, ein gehörnter Stier! Hier wird die ästhetische Empfindung ausgelöst, jetzt ist es Kunst. Nur, weil es vom berühmtesten Künstler aller Zeiten erfunden wurde? Das eigene Upcyclingprojekt wird vielleicht nur bei Künstlerkollegen eine Kunstintention haben. Aber folgen wir doch entspannt Wittgensteins Ansatz, nachdem sich Kunst nicht definieren lässt, man sie aber erkennt, wenn man sie sieht. Upgecycelte Dinge erfüllen also überraschend viele Ansprüche – sie sind individuell und verbinden doch Generationen, Regionen und Ideen miteinander. Vor allem aber schonen sie unsere Welt. Natürlich kann man nicht die Müllberge upcyceln. Aber vieles, was wir entsorgen, ist nicht an sich unbrauchbar, wir hatten es einfach satt. Oder nicht den richtigen Platz dafür oder etwas Schöneres bekommen oder... Konsumverzicht ist eine ebenso abstrakte wie unpopuläre Forderung. Die gute Nachricht ist, dass ja schon sehr viel da ist. Und wenn wir immer neues, anderes wollen, ist Upcycling eine Methode für die verlängerte Nutzungsdauer der Dinge. Was nicht aus der Mode kommt ist das Unikat. Wenn wir bei den Dingen, die wir verwenden, ähnlich kritisch überlegen wie bei denen, die wir essen, ändert sich das Bild. Und dabei geht es nicht nur um Geschmack oder Schadstoffe. Sollte jeder zehnte von uns jedes zehnte seiner Dinge etwas länger nutzen, jeden zehnten Neukauf überdenken, bringt das global gigantische Ersparnisse. Ressourcen, Energie, Müll, schlechtes Gewissen,… Recycling ist notwendig, Upcycling bringt ein neues Niveau. Ist es ein ökologisch fundierter Neo-Eklektizismus, der sich von unten praktisch durchgesetzt hat? Eine Guerillataktik, die den werbefinanzierten Vorgaben trotzt? Es geht um Spaß und Selbstverwirklichung und gleichzeitig auch um innovative Strategien zu Ressourcen, Tradition und Wertstoffen mit Rücksicht auf Identität und Nutzungsdauer. Selbst wenn die vorgeschlagenen praktischen Methoden in Kapitel 11 nur Steh-rum-chen oder Staub-ein-chen hervorbringen, so verändert der Gestaltungsprozess doch das Materialempfinden. Ob es das Nachvollziehen von Qualität beim Dekonstruieren ist oder die Erfahrung von Materialmengen und Kosten. Wer selbst etwas modifiziert, bekommt einen anderen Blick auf die Potenz von Dingen, auf frühere Lösungen und Spuren von den Altvorderen. Kann man bei der Überlegung, wie eine bessere Welt zu gestalten ist, die Werkstatt oder das Atelier sogar als Modell nehmen, um die Entfremdung des Industriezeitalters zu überwinden? Für eine schönere Welt, in der wir den Anspruch der Dinge erkennen, bevor wir sie verwerfen.

Erscheinungsdatum
Zusatzinfo 40 Abbildungen auf 32 Farbseiten, einfarbige Abbildungen in den Kapiteln
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Maße 210 x 240 mm
Gewicht 790 g
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Kunstgeschichte / Kunststile
Schlagworte Design • Kunst • Philosophie • Upcycling
ISBN-10 3-940909-08-4 / 3940909084
ISBN-13 978-3-940909-08-4 / 9783940909084
Zustand Neuware
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