Der Assistent der Sterne (eBook)
384 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30072-7 (ISBN)
Linus Reichlin, geboren 1957, lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Für sein Debüt Die Sehnsucht der Atome erhielt er 2009 den Deutschen Krimipreis. Der Roman Der Assistent der Sterne wurde zum 'Wissenschaftsbuch des Jahres 2010 (Sparte Unterhaltung)' gewählt. Es folgten die Romane Das Leuchten in der Ferne (2012), In einem anderen Leben (2014), Keiths Probleme im Jenseits (2019) und zuletzt Señor Herreras blühende Intuition (2021).
Linus Reichlin, geboren 1957, lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Für sein Debüt Die Sehnsucht der Atome erhielt er 2009 den Deutschen Krimipreis. Der Roman Der Assistent der Sterne wurde zum "Wissenschaftsbuch des Jahres 2010 (Sparte Unterhaltung)" gewählt. Es folgten die Romane Das Leuchten in der Ferne (2012), In einem anderen Leben (2014), Keiths Probleme im Jenseits (2019) und zuletzt Señor Herreras blühende Intuition (2021).
1
Van der Elst machte sich Sorgen wegen eines Afrikaners, der schon seit Stunden draußen vor dem Hotel stand. Jensen hingegen machte sich Sorgen um Van der Elst. Er verstand nicht, weshalb die Hotelleitung einem so jungen Burschen, dem noch die Muttermilch die Wangen rötete, die Verantwortung für das ganze Haus aufbürdete. Van der Elst musste das De Tuilerieën allein durch den Winter bringen, dreißig leere Zimmer waren zu überwachen, in jedem konnten sich heimlich Männer einnisten, die zuvor draußen den Eingang beobachtet hatten.
»Es kommt mir vor, als würde er den Eingang beobachten«, sagte Van der Elst. Er war blond, schmächtig und zu groß für das alte Hotel, dessen Türbögen für die kleinwüchsigen Menschen vergangener Jahrhunderte gebaut worden waren, die kleinen wallonischen Grafen, die kurzgewachsenen Barone und für Napoleon Bonaparte, der möglicherweise einmal hier übernachtet hatte; zumindest hätte ihm die Einrichtung gefallen. Gebückt stand Van der Elst hinter dem Tresen der Rezeption.
»Was meinen Sie? Soll ich die Polizei anrufen? Im letzten Sommer wurde direkt vor dem Hoteleingang ein Gast überfallen.«
Ein Italiener, dachte Jensen. Er legte seinen Zimmerschlüssel auf den Tresen. Er konnte sich nur noch an den Vornamen erinnern, Benedetto, ein Tourist aus Mailand. Jemand hatte ihn mit einem abgesägten Besenstiel niedergeschlagen und ihm Brieftasche und Pass gestohlen.
»Ich bin ja für die Sicherheit der Gäste verantwortlich«, sagte Van der Elst, und seine langen, dichten Wimpern taten einen Flügelschlag.
Der Täter war nie gefasst worden.
Kein Wunder, dachte Jensen. Denn er selbst hatte den Fall bearbeitet, zu einer Zeit, in der er das Interesse an seinem Beruf bereits vollständig verloren und nur noch die Tage bis zu seinem Ausscheiden aus dem Dienst gezählt hatte, von hundert rückwärts auf null.
Jensen warf einen Blick in die Richtung, in die Van der Elst beständig deutete. Nur zwei verglaste Doppeltüren trennten das Hotel von jenem Mann, der draußen in höflichem Abstand vor dem Eingang stand, bei acht Minusgraden, im kältesten Brügger Winter seit vierundfünfzig Jahren. Der Mann stapfte von einem Fuß auf den anderen, um warmes Blut in die Zehen zu pumpen. Trug er Turnschuhe? Es sah so aus. Turnschuhe und einen Regenmantel, wenig Schutz bei einem Kälterekord.
»Er ist wohl eher für sich selbst eine Gefahr«, sagte Jensen und wandte sich wieder Van der Elst zu. Wie lange bin ich schon hier?, dachte Jensen. Vier Tage? Und die Uhr über dem Schlüsselbrett funktionierte immer noch nicht. Der Minutenzeiger rastete auf der halben Stunde ein, sprang dann aber wieder eine Minute zurück. Seit vier Tagen war das so. Die Uhr war eine Zumutung für Gäste, die das Gefühl hatten, nicht vorwärtszukommen.
»Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte Van der Elst, er wurde rot. »Ich habe nichts gegen Schwarze, nicht, dass Sie das denken. Meine Schwester ist mit einem …«
»Wir haben alle nichts gegen Schwarze«, sagte Jensen. »Und falls doch, gibt es dagegen Gesetze. Aber ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie lassen diese Uhr da reparieren.«
»Das habe ich schon veranlasst«, sagte Van der Elst hastig.
»Und ich gehe in die Buchhandlung, drüben bei der Nepomucenus-Brücke. Danach werde ich eine heiße Schokolade trinken, im Den Comptoir.« Denn obwohl die defekte Uhr halb sieben anzeigte, war es erst vier Uhr, zwei Stunden zu früh für ein Bier. »Sollte der Mann dann immer noch vor dem Hotel stehen, werden wir etwas unternehmen. In seinem eigenen Interesse.«
>Als Jensen das De Tuilerieën verließ, blickte er beiläufig zu dem Mann hinüber. Es gab vorläufig keinen Grund, ihn anzusprechen. Natürlich war es merkwürdig, dass er bei dieser Kälte, bei der einem beim Einatmen lockere Zahnplomben und kariöse Stellen schmerzhaft bewusst wurden, stundenlang auf demselben Fleck stand. Aber sich selbst zu quälen war nicht verboten. Jensen meinte zu erkennen, dass die Haltung des Mannes sich, als ihre Blicke sich trafen, veränderte; das Bild eines Rehs, das die Ohren spitzt, stand ihm vor Augen.
Er wartet auf jemanden, der ihn wahrnimmt, dachte Jensen. Ein armer Kerl, Einwanderer, Alkohol, Sehnsucht, irgendetwas in der Art.
Jensen schlug den Weg zur Buchhandlung ein; es war nicht weit, nur hundert Schritte über vereiste Pflastersteine unter tief hängenden Wolken, denen es zum Schneien zu kalt war. Jensen war für diesen Jahrhundertwinter nicht ausgerüstet, er fror an den Beinen, seine Jeans ließen die Kälte ungehindert passieren. Vorgestern hatte er im Kaufhaus vergeblich nach langen Unterhosen gesucht: Es waren keine mehr vorrätig gewesen. Die Brügger Winter waren üblicherweise maritim mild, die Einkäufer waren von der Nachfrage nach Winterwäsche völlig überrascht worden. Gefütterte Handschuhe, Pelzmützen mit Ohrenklappen, dafür hätte man jetzt auch einen überteuerten Preis bezahlt. Aber solche Güter waren knapp, und so behalfen sich die meisten Brügger mit zwei übereinander getragenen Wollpullovern und fingerlosen Skihandschuhen. Auch Jensen hatte im Schrank noch eine alte, kaum gebrauchte orangefarbene Skijacke gefunden, die immerhin den Wind ein wenig dämpfte. Die Ohren wärmte er sich ab und zu mit den kalten Händen, das musste reichen.
Kurz vor der Nepomucenus-Brücke drehte er sich um, so als habe er einen Handschuh verloren. Wenn ich nur einen hätte!, dachte Jensen. Es fiel ihm leicht, so zu tun, als würde er einen Handschuh vermissen. Der Mann stand noch immer auf seinem angestammten Platz vor dem Hotel, eine dünne, in einen Regenmantel gewickelte Gestalt. Aus der Distanz konnte Jensen nicht erkennen, ob der Mann ihn beobachtete. Dennoch ging er im Gefühl weiter, verfolgt zu werden. Es war, als würde ihm jemand in den Nacken atmen. Er dachte, dass es vielleicht an der Brise lag, er schlug den Kragen der Skijacke hoch. Aber sein Nacken ließ sich dadurch nicht beruhigen. Er erreichte die Nepomucenus-Brücke, die sich noch an den Klang der Pestglocke erinnerte und die erbaut worden war, um das Jüngste Gericht zu überdauern. Gedrungen wölbte sie sich über den Dijverkanal, auf dem man zurzeit einen Teil der Altstadt zu Fuß hätte umrunden können, das Eis wäre dick genug gewesen. Zwei Frauen trippelten über die Brücke, sie hatten sich einen japanischen Gang angewöhnt, um auf den Pflastersteinen, puren Eiswürfeln, nicht auszurutschen. Rechts der Brücke befand sich die kleine Buchhandlung, deren Sortiment bescheiden war. Aber einen oder zwei Begleitromane hoffte Jensen dort zu finden. Die Romane würden ihn nach Island begleiten, auf die große Reise, und nach drei Wochen würde er sie ungelesen wieder nach Brügge zurückbringen. Das war der Plan.
>In der Buchhandlung glühten die Radiatoren, es roch nach verbrannter Luft. Jensen begann augenblicklich zu dampfen; er zog den Reißverschluss der Skijacke hinunter, es half nichts, er brach unter seinen zwei Pullovern in Schweiß aus.
Er war der einzige Kunde. Die Verkäuferin hockte mit einem Buch in der Hand hinter der Kasse. Sie blickte über den Rand ihrer Brille und schenkte Jensen ein kaltes Lächeln, er störte sie beim Lesen. Jensen fand es auf eine Weise unanständig, dass die Buchhändlerin während der Arbeitszeit selber Bücher las. Es war, als würde ein Arzt auf die Klage eines Patienten über starke Kopfschmerzen antworten: »Das ist noch gar nichts gegen meine Kopfschmerzen!«
Jensen suchte nach dem Regal mit den Klassikern, denn als Begleitromane waren Klassiker sehr viel besser geeignet als Neuerscheinungen, bei denen man nicht wusste, woran man war. Er wollte in Island nicht herausfinden müssen, dass das Buch eines zeitgenössischen Autors ihm völlig fremd war: und dann drei Wochen allein mit einem Buch, mit dem man sich nicht verstand. Jensen hatte Lust auf etwas klassisch Russisches, Tolstoi, Dostojewski, Gogol; diese drei Russen hatten sie, und von jedem ein einziges Buch. »Die toten Seelen« von Gogol, das hatte Jensen schon lange einmal lesen oder wenigstens ungelesen von einer Reise zurückbringen wollen. Er nahm das Buch aus dem Regal, und da das Regal nach hinten offen war, entstand eine schmale Lücke, durch die Jensen zwischen Dostojewski und Tolstoi den Mann sehen konnte. Er stand draußen vor der Buchhandlung und wischte sich etwas vom Regenmantel, bevor er die Tür aufstieß. Über dem Rahmen der Tür hingen drei dünne Klangröhrchen, die nun ein sphärisches Bimmeln erzeugten.
Jensen trat hinter dem Regal hervor, er zeigte sich dem Mann, sagte aber noch nichts; er wollte abwarten, wie die Dinge sich entwickelten. Alkohol, Sehnsucht, das war es wohl doch nicht, denn von Nahem betrachtet wirkte der Mann keineswegs wie ein Verwirrter. Es war ein junger Mann aus Afrika, der eine billige Hornbrille mit wuchtigem Gestell trug, hinter der seine klugen, freundlichen Augen wie gefangen wirkten. Ein Student, dachte Jensen, der Leihbibliotheken durchwühlt, keine Mülleimer, der aber stets falsch eingeschätzt wird, von Leuten wie dir.
Der Mann strich mit der Hand über einige der Bücher auf dem Verkaufstisch. Eines klappte er auf, aber es war offensichtlich, dass er in Gedanken bei Jensen war.
»Kennen Sie das?«, fragte Jensen. Er zeigte dem Mann Gogols Buch. Ein Gespräch war ja unvermeidlich, der Mann war ihm gefolgt, das musste besprochen werden. Warum also das Gespräch nicht mit Gogol beginnen?
»Die toten Seelen«, sagte der Mann. Er nickte. Seine Brille hatte sich beschlagen, er nahm sie ab und rieb sie mit einem Taschentuch trocken. »Ich kenne aber nur den Titel. Ich lese wenig Romane. Ich habe keine Zeit dafür.« Er sprach ein weiches, melodiöses Flämisch; manchmal betonte er die...
Erscheint lt. Verlag | 21.9.2009 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Belletristik • Betrug • Ex Polizist • Ex-Polizist • Ex Polizist Hannes Jensen • Geheimnis • Hannes Jensen • Kiepenheuer & Witsch • Liebe • Linus Reichlin • Physik • Prophezeiung • Reihe • Schicksal • Spannung |
ISBN-10 | 3-462-30072-5 / 3462300725 |
ISBN-13 | 978-3-462-30072-7 / 9783462300727 |
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