Legende vom Glück des Menschen (eBook)

Roman
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2011 | 1. Auflage
224 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30333-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Legende vom Glück des Menschen -  Peggy Mädler
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Woraus aber besteht das Glück? Ziemlich viel, scheint es, hat sich Peggy Mädler mit ihrem Debütroman vorgenommen - denn in ihrem von Geschichten prallen Buch geht es darum, wie Glück entsteht, wie Gesellschaft funktioniert und wie private Erinnerung und die große Geschichte zueinander stehen. Die bescheidene, gewitzte und elegante Art, mit der sie die Anmaßung der Fragestellungen erzählerisch unterläuft, macht ihren Erstling zu einem Kabinettstück der deutschen Literatur. Knapp fünfzehn Jahre nach der Wende findet die junge Erzählerin im Nachlass der Großeltern ein Buch, das ihr Großvater zu einem Betriebsjubiläum geschenkt bekommen hat. Ein Fotoband von 1968, der »Vom Glück des Menschen« heißt, komponiert und betextet von Rita Maahs und Karl Eduard von Schnitzler. Die Anmaßung eines politisch verordneten Glücks irritiert die Enkelin. Wie kann ein Staat auf die Idee kommen, seinen Bürgern vorzuschreiben, wie sie glücklich werden? Anhand weiterer Fundstücke aus dem Nachlass beginnt sie zu rekonstruieren, wie sich ihre Großeltern kurz vor dem Zweiten Weltkrieg kennenlernten, heirateten und sich nach dessen Ende fast wie Fremde wieder gegenüberstanden, wie ihr Vater und ihre Mutter sich in der DDR kennenlernten und durchschlugen und wie sie, die Erzählerin selbst, und ihr älterer Bruder die Wende und die Zeit danach erlebten. Dabei überschreibt Peggy Mädler je ein Kapitel aus dem Propagandaband mit »Legenden« aus der Familiengeschichte ihrer Erzählerin. So entstehen die »Legende vom Glück der Arbeit«, die »Legende vom Glück des Miteinanders« usw., und plötzlich wird klar: Ob und wie Menschen das Glück finden, hat oft weniger mit den großen Rahmenbedingungen zu tun, als mit privaten Begegnungen, kleinen Gesten und unspektakulären Zufällen. Und: Die besten Geschichten schreibt nicht die Geschichte, sondern das Leben selbst.Peggy Mädler ist dabei ein enorm warmherziger, reicher und sprachlich immens variabler Romanerstling gelungen.Ein Buch, das irgendwie glücklich macht.

Peggy Mädler, 1976 in Dresden geboren, hat in Berlin Theater-, Erziehungs- und Kulturwissenschaft studiert und 2008 in den Kulturwissenschaften auch promoviert. Sie arbeitet als freie Dramaturgin und Autorin und ist Mitbegründerin der Künstlerformation Labor für kontrafaktisches Denken. Von 2007 bis 2009 gehörte sie dem Gründungsvorstand des LAFT Berlin an, und sie wirkte beim Theaterkollektiv She She Pop mit. 2011 erschien ihr erster Roman: Legende vom Glück des Menschen. Für Wohin wir gehen (2019) erhielt sie den Fontane-Literaturpreis.

Peggy Mädler, 1976 in Dresden geboren, hat in Berlin Theater-, Erziehungs- und Kulturwissenschaft studiert und 2008 in den Kulturwissenschaften auch promoviert. Sie arbeitet als freie Dramaturgin und Autorin und ist Mitbegründerin der Künstlerformation Labor für kontrafaktisches Denken. Von 2007 bis 2009 gehörte sie dem Gründungsvorstand des LAFT Berlin an, und sie wirkte beim Theaterkollektiv She She Pop mit. 2011 erschien ihr erster Roman: Legende vom Glück des Menschen. Für Wohin wir gehen (2019) erhielt sie den Fontane-Literaturpreis.

1

1968 wurde mein Großvater von der Staatlichen Handelsorganisation der DDR mit einem schwarz-weißen Fotoband und einem Bund roter Nelken ausgezeichnet. Das Buch mit dem Titel VOM GLÜCK DES MENSCHEN hat er wohl unbesehen ins Regal gestellt. Eine Widmung auf der ersten Seite dankt ihm für seine langjährige Mitarbeit im volkseigenen Einzelhandel. Ein eingelegtes Foto bezeugt die Nelken und eine gewisse Zufriedenheit im Kreise der Kollegen. Aber das ist schon eine Vorstellung meinerseits, die sich über das grob gekörnte Gesicht schiebt, wie mir auch die dunklen Nelken auf dem schwarz-weißen Bild als rot erscheinen.

Er hat mir das Buch nie gezeigt, womöglich hat er über die Zeit sogar vergessen, dass er es besaß. Gezeigt hat er mir seine Koch- und Backbücher und die schmalen, farbigen Pilzführer, die auf seinem Schreibtisch lagen, ein kleiner Stapel abgegriffener Hefte neben dem Aschenbecher und der marmornen Löschwiege. In dünner Tintenschrift vermerkte er Notizen unter den gezeichneten Abbildungen – Niederfichte, Holzschober oder Rote Grube, Parkplatz und das Datum dazu –, ein inzwischen leicht verblasstes Koordinatensystem zahlreicher Fundstellen und Tagebuch seiner Wanderungen zugleich, die er früher an den Wochenenden manchmal mit mir, in der Regel aber allein unternahm. Großvater unterschied und benannte Pilze wie andere Leute Bäume oder Vögel, und so sammelte er sie nicht im eigentlichen Sinn (eine Ausnahme machte er nur bei Pfifferlingen), sondern begutachtete und verzeichnete sie, ob essbar oder nicht, lediglich wie etwas sehr Sonderbares, und ebenso sonderbar musste er mir wiederum vorkommen, wenn er sich unvermittelt vom Sandweg aus in die Büsche schlug, als liefe er einem bestimmten Geruch oder einer Erinnerung nach, den grün und braun karierten Rucksack mit den Pilzführern und den belegten Broten auf dem Rücken, wenn er gezielt Farn und Zittergras beiseiteschob oder vorsichtig in dichte Blaubeersträucher griff, ja wenn er noch Pilze an Stellen fand, die ich bereits mehrmals abgesucht hatte. Einmal entdeckte ich eine Ansammlung von Espen-Rotkappen auf einem verwilderten Friedhof in Südfrankreich. Das war Mitte der Neunzigerjahre, der Sommer nach dem Abitur – ich war gerade erst nach Berlin gezogen. Ich hatte eine günstige Wohnung gefunden, im Hinterhof, 3. Stock, nur ein paar Straßen von meinem Bruder entfernt, Thomas, der drei Jahre zuvor ebenfalls nach Berlin gezogen war. Wir hatten es beide eilig gehabt, von zu Hause wegzukommen. Weg von dem Kinderzimmer, das mit den Jahren eng wurde. Weg auch von der hellen Schrankwand vor einer gestreiften Tapete, die wir mit zahlreichen Postern zu überkleben versuchten, nicht immer einvernehmlich. Das Zuhause hatte nun eine eigene Anschrift, ein Klingelschild, eine Tür, die man hinter sich abschließen konnte. Ich eröffnete mein erstes Bankkonto, ein Gefühl von Stolz, ich erinnere mich gut daran, nicht an den Tag, aber an das Gefühl, und irgendwann kam auch die Zusage für das Studium mit der Post. Ein nahtloser Übergang, könnte man sagen. Die Stadt, das Studium – eine im Rückblick fast zufällige Wahl: eine Entscheidung ohne größere Überlegungen, als gäbe es nicht verschiedenste Optionen. Wahrscheinlich ist mir jede Entscheidung danach um einiges schwerer gefallen. Auch die Reise hatte ich nicht sonderlich geplant, der Sommer schien endlos, also packte ich meinen Rucksack und fuhr einfach los. Zunächst mit dem Zug, dann per Anhalter, ohne ein bestimmtes Ziel. Es war meine erste längere Reise, die ersten zwei Wochen verbrachte ich noch mit einer Freundin, dann fuhr ich allein weiter. Ab und an verschickte ich Postkarten, bekannte Aufnahmen, tausendfach reproduziert. Der Mont Saint-Michel mit dem Benediktinerkloster, die schwarzen Madonnen der Auvergne, der Blick vom Sacromonte auf die rote Burg von Granada. Morgens sangen die Nonnen im Tal. Ich fotografierte das Tal, ich fotografierte einmal mehr die Kirchen- und Klostermotive der Postkarten, und wenn es mir nicht zu aufdringlich erschien, auch Menschen, die mir vor die Linse kamen. Aufgeregt gestikulierende Männer in einer Bar, ein Fischer beim Entladen seines Bootes, er hält mir eine Kiste voller Austern hin, die Austern selbst, ich hatte noch nie eine gegessen. Eine junge Frau mit Kaugummiblase vorm Mund, die eine Hand umfasst das Lenkrad, mit der anderen fährt sie sich gerade durchs Haar. Sie hatte mich an einer Raststätte aufgelesen. Wir hörten französischen Punk, auf der Rückbank schlief ihr sommersprossiger Sohn. In Avignon fand ich die Espen-Rotkappen im Gras, gleich mehrere nebeneinander, wunderschön mit ihren orangeroten Köpfchen, ich schrieb sofort an Großvater. Benannte die Stelle und den Tag, versprach, die Fotos beim nächsten Besuch mitzubringen. Die Abzüge von den Rotkappen hat er nie gesehen. Als ich heimfuhr und von einer der ersten deutschen Telefonzellen aus meine Eltern anrief, waren bereits drei Wochen seit der Beerdigung vergangen. Und ich hatte das Gefühl, dieser kurze Zeitraum, in dem man sich von einem Toten noch wie von einem Lebenden verabschieden kann, war längst vorüber.

Anfangs schien mir Großmutter erleichtert. Vielleicht war sie auch erleichtert. In meinem Kopf nur noch Momentaufnahmen, die meisten lassen sich nicht mehr datieren: Auf der Leine im Bad hängt eine neue Bluse, weiß und am Kragen leicht gerüscht, Großvaters schweres Federbett wird verpackt und in die Kleidersammlung gegeben, einmal kommt Großmutter vom Friseur, hat sich Locken legen lassen, die im Licht ihrer Küchenlampe lilafarben schimmern. Vater tapeziert ihr das Wohnzimmer neu. Sie hat es nicht gern, umarmt zu werden. Ich umarme sie trotzdem und bringe Blumen mit, ich kaufte oft Blumen, wenn ich sie besuchte, gleich am Bahnhof, am Stand in der Eingangshalle. Ein paar Jahre lang besaß ich ein Auto, einen weißen VW Polo, da kaufte ich die Blumen nicht mehr am Bahnhof, sondern hielt an einem der alten Gehöfte auf dem Weg, vor denen auf einem Campingtisch die Wannen mit den Blumen und eine Geldbüchse mit Schlitz standen. In der Regel war weit und breit kein Mensch zu sehen, manchmal kläfften die Hunde hinter den Zäunen, wenn ich das Kleingeld einwarf. Das sollst du doch nicht, sagte Großmutter jedes Mal, wenn ich ihr die Blumen übergab. Dann zogen wir den Tisch aus der Küchenzeile, eine rechteckige Kunststoffplatte, die beim Ausziehen zuweilen klemmte, und aßen Eierschecke von der Bäckerei um die Ecke, eine sehr ungewöhnliche Eierschecke, so dünn wie meine Hausaufgabenhefte einst, mit einer sehr süßen orangegelben Eiercreme gefüllt. Großvaters Pilzführer waren vom Schreibtisch verschwunden, eines Tages muss es mir aufgefallen sein, sie standen inzwischen in der Küche auf dem Kühlschrank, in einer Reihe neben den Kochbüchern. Großmutter gab mir eines ihrer Einkaufsnetze mit, als ich sie um die Hefte bat. Irgendwann in dieser Zeit fertigte ich auch eine Porträtserie von ihr an, ein Geschenk für Vaters Geburtstag, für die sie sich vor ihrem Kleiderschrank zurechtmachte, wie ein junges Mädchen, welches sich das erste Mal fotografieren lässt. Die Ernsthaftigkeit, mit der sie von dem braunen Wohnzimmersofa aus in die Kamera schaut, erinnert an ein altes Tafelbild. Die Locken hat sie zurückgesteckt, der linke Arm ruht leicht auf einem ausgebeulten Kissen mit Rosenmuster. Es sei seltsam, jetzt noch fotografiert zu werden, meinte sie, und Thomas, der mitgekommen war, scherzte, dafür sei es nie zu spät. Wir beschlossen, erst am nächsten Morgen wieder nach Berlin zurückzufahren. Großmutter holte uns das Bettzeug aus dem Schrank, zwei bunt gemusterte Sommerdecken, die wir gemeinsam bezogen, es roch nach Schulferien, als Thomas und ich am Abend nebeneinander auf dem ausgezogenen Sofa lagen und noch lange miteinander flüsterten. Es war das letzte Mal, dass ich bei Großmutter übernachtete.

Ich hatte meine Mühe mit dem Wort Großmutter. Oder vielmehr mit dem, was es bezeichnen soll. Wir fahren zu Oma und Opa, hieß es früher. Selten sagte mein Vater Mutter. Er sagte: Ruf deine Oma an, oder: Oma geht es gut, sie lässt dich grüßen. Meine Mutter sagte einmal zu ihm: Deine Mutter mag mich nicht. Da stand ich barfuß neben dem Eingang zum Wohnzimmer, ein offener Rahmen in der Wand, in den Vater später eine beigefarbene Falttür einbaute. Ich schlich ins Bett zurück, schnell und mit angehaltenem Atem am brummenden Kühlschrank vorbei, der mir nachts Angst machte, unter der Decke wurde es besser, es durfte nur nichts rausgucken, kein Fuß und keine Handbreit, an der mich das Dunkel packen konnte. Da war etwas an Großmutter, das andere auf Distanz hielt, kühl und glatt, wie der Silberschmuck, den sie morgens vor ihrer Spiegelkommode anlegte. Das Silber war nicht echt, ihre Distanz möglicherweise auch nicht. Die wenigen Momente, in denen sie doch von sich erzählt, in denen sie mir kleine Fotos zeigt, auf denen sie eng taillierte, dunkle Kostüme trägt. Die wenigen Momente, in denen ich frage. Mein Vater, der einmal neben mir im Auto zu weinen beginnt. Ich erzähle ihm, was sie mir erzählt hat. Ich sage ihm, dass sie gern von ihm erzählt. Und fühle mich unbehaglich in der Rolle der Tochter, die so etwas zu ihrem Vater sagt. In der Rolle der Enkelin, die ihm das weitersagen muss. Da bin ich achtzehn Jahre alt und habe meinen Vater nie zuvor weinen gesehen, ihn nie als einen Sohn gesehen. Ich mochte ihre gerade, sehr aufrechte Haltung, bis zuletzt, die mich zuweilen anrührt, die mir immer auch zerbrechlich vorkommt. Ich schaffe es immer seltener, sie zu besuchen. Geburtstage, Weihnachten, manchmal Ostern. Briefe aus dem Urlaub. Fotos von mir in schwarzen Plastikrahmen,...

Erscheint lt. Verlag 31.1.2011
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte DDR-Vergangenheit • Debüt-Roman • Deutschland-Wende • Familien-Geschichte • Generationen • Gesellschaft • Glück • Ost-Deutschland • Peggy Mädler • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-462-30333-3 / 3462303333
ISBN-13 978-3-462-30333-9 / 9783462303339
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