Manon Lescaut von Turdej - Wsewolod Petrow

Manon Lescaut von Turdej

Roman

(Autor)

Buch | Softcover
120 Seiten
2012
Weidle (Verlag)
978-3-938803-48-6 (ISBN)
16,90 inkl. MwSt
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»Auf der Pritsche liegend, hatte ich mir die Liebe zu dieser sowjetischen Manon Lescaut ausgedacht. Ich hatte Angst davor, mir zu sagen, daß es nicht so war, daß ich mir nichts ausgedacht hatte, sondern tatsachlich alles vergessen und mich selbst verloren hatte und nur davon lebte, daß ich Vera liebte.
Ich legte mich so auf die Pritsche, daß ich gleich den ganzen Waggon sehen konnte. Wo Vera auch auftauchte, ich konnte sie sehen. Wie ein Somnambuler drehte ich mich zu der Seite, wo sie war.«
Ein sowjetischer Spitalzug auf dem Weg von einer Front zu anderen. Darin ein Petersburger Intellektueller: Gepeinigt von Herzanfällen und Todesangst, liest er den Werther (auf deutsch). Aber in die Lektüre drängt sich die Geschäftigkeit der Militärärzte, Apotheker, Krankenschwestern um ihn herum.
Es ist eine seltsame Gemeinschaft, hervorgebracht zwar vom Krieg, doch bestimmt von ganz alltäglichen Sorgen und kleinen Freuden:
»Wir fuhren schon so lange, daß wir nach und nach die Vorstellung von der Zeit verloren hatten ... Niemand wußte, wohin wir geschickt wurden. Wir fuhren von Station zu Station, als hätten wir uns verlaufen. Man hatte uns wohl vergessen.«
Bei einem längeren Aufenthalt trifft er auf ein Mädchen, anders als alle anderen: Vera Muschnikowa, ruhelos und romantisch, grazil und ungestüm, und sie ist jederzeit zur Liebe bereit. Der Feingeist erliegt ihrem vulgären Zauber, erkennt in ihr seine »sowjetische Manon« und erahnt damit bereits den dunklen Weg, den ihre Liebe nehmen wird.

»Manon Lescaut von Turdej«, entstanden 1946, erschien erst 60 Jahre später, im November 2006, in der Moskauer Zeitschrift »Novyj Mir«.

Wsewolod Petrow (1912 – 1978) entstammte einer Petersburger Adelsfamilie, er war Kunsthistoriker und arbeitete vor dem Zweiten Weltkrieg am Russischen Museum. Nach dem Krieg, als Offizier in der Roten Armee demobilisiert, hat er sich wieder seiner wissenschaftlichen Arbeit gewidmet und Standardwerke zur russischen Kunst veröffentlicht.

»Wir kennen von Petrow viele Bücher zur Kunstgeschichte (die auch in viele Sprachen übersetzt worden sind), aber nur wenige Texte, die zur ›schöngeistigen Literatur‹ zählen dürfen. Eigentlich wäre, abgesehen von ein paar philosophischen Miniaturen, allein unsere Erzählung als solche zu bezeichnen. Dafür aber ist dieser Text einer der schönsten Prosatexte der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Diese Erzählung, die erst 2006 veröffentlicht wurde, war nicht in einem Geheimfach verborgen worden: Jedes Jahr an seinem Geburtstag, zu dem viele Dutzend Gäste kamen, die ganze kulturelle Elite Leningrads, begann die Feier damit, daß der Gastgeber Auszüge aus seiner Manon vorlas. Er verheimlichte sein Meisterwerk nicht, er reichte es nur nicht zur Publikation in sowjetischen Zeitschriften und Verlagen ein – wer weiß warum: Weil er das für sinnlos hielt? Aus Ekel vor den Barbaren in den damaligen Redaktionen? Aus der klaren Einsicht heraus, daß diese kleine Erzählung Inhalte transportiert, die mit der Sowjetliteratur nicht kompatibel sind – stilistisch, philosophisch und auch politisch?« Oleg Jurjew

Wir fuhren so lange, daß wir allmählich den Überblick über die Zeit verloren. Man fuhr uns zur neuen Front. Niemand wußte, wohin man uns schickte. Wir fuhren von Station zu Station, als ob wir uns verirrt hätten. Man hatte uns wohl vergessen. Mal fuhr der Zug, mal stand er lange. Überall schneebedeckte Felder und Wälder, zerstörte Bahnhöfe. Oft hörte ich etwas explodieren, manchmal in der Ferne, manchmal fast direkt neben uns. Die Zeit war irgendwie vom Weg abgekommen: Sie verband nicht das Vergangene mit dem Zukünftigen, sondern lenkte mich zur Seite. Um mich herum waren Menschen, fremde Leben, die keinen Berührungspunkt mit dem meinem hatten. ***** Die Anfälle kamen plötzlich, manchmal am Tag, häufiger jedoch in der Nacht, nach einem auf langweiligste Weise, in irgendwelchen matten Gesprächen verbrachten Abend. Nachts wachte ich auf: Ich bin nicht mehr ich, nicht mehr ein Offizier, nicht mehr Derundder – oder, besser gesagt, nur hier bin ich wirklich das reine Ich, ohne Namen, ohne Gesicht, ohne Erinnerungen: ein einziges entblößtes Gefühl der Entgegenstellung. Alles ist nicht ich, außer dem Punkt, der ich ist. Er ist zu einem Punkt zusammengedrückt. In den Punkt ist das ganze Grauen des Sterbens hineingezwängt: die Angst, diesen Punkt entgleiten zu lassen. Der Atem ist abgedrückt. Um mich herum schlafen alle. Es wäre leichter, in Einsamkeit zu sterben, ohne die schreckliche Gleichgültigkeit der Menschen um einen herum zu spüren. Aber das Grauen liegt nicht in der Gleichgültigkeit. Hier ist eine besondere Angst. Sie sind gleichgültig, weil sie gleichsam abwesend sind, vor dem Angesicht des Todes nicht zählen. Der Tod ist zu mir allein gewandt. ***** Auf der Pritsche liegend, hatte ich mir die Liebe zu dieser sowjetischen Manon Lescaut ausgedacht. Ich hatte Angst davor, mir zu sagen, daß es nicht so war, daß ich mir nichts ausgedacht hatte, sondern tatsächlich alles vergessen und mich selbst verloren hatte und nur davon lebte, daß ich Vera liebte. Ich legte mich so auf die Pritsche, daß ich gleich den ganzen Waggon sehen konnte. Wo Vera auch auftauchte, ich konnte sie sehen. Wie ein Somnambuler drehte ich mich zu der Seite, wo sie war. Ich war nicht imstande, sie nicht anzusehen.

Erscheint lt. Verlag 20.9.2012
Mitarbeit Kommentare: Olga Martynova
Nachwort Oleg Jurjew
Übersetzer Daniel Jurjew
Sprache deutsch
Gewicht 170 g
Einbandart Paperback
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Jurjew • Petrow • Preis der Hotlist • Russland
ISBN-10 3-938803-48-7 / 3938803487
ISBN-13 978-3-938803-48-6 / 9783938803486
Zustand Neuware
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