Der Andere
Julien Green wurde 1900 als Sohn einer amerikanischen Familie in Paris geboren, wo er 1998 starb. Bei Hanser erschien das erzählerische Werk, zuletzt in der Neuübersetzung von Elisabeth Edl: Adrienne Mesurat (Roman, 2000), Fremdling auf Erden (Erzählungen, 2006), die Erinnerungen an seine Kindheit Erinnerungen an glückliche Tage (2008) und sein letzter Roman Der Unbekannte (2011).
"Niemals schwerfällig, sondern im Gegenteil bisweilen fast heiter und nonchalant."
Christoph Bartmann, Süddeutsche Zeitung, 06./07.10.2001
"Ein meisterhafter Roman um Schuld und Sühne... Greens epochale Bedeutung, sein historisches Profil wird erst im nachhinein erkennbar. Gerhard Heller hat die meisterhafte katholische Parabel über Scham und Schande des historischen Sündenfalls auf seinem höchsten literarischen Niveau übersetzt."
Jürg Altwegg, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.12.2001
Es lag an jenem Morgen trotz allem Glück in der Luft. Darüber waren sich alle einig. Was von dem nicht enden wollenden skandinavischen Winter übrigblieb, die letzten Nebelfetzen, die Kälte in den schmalen Straßen, verscheuchte jetzt die Sonne, um ihr starkes, grelles Licht über die Stadt zu schütten. Die Bäume breiteten auf den Steinen den noch zarten, deutlichen Schatten ihrer Zweige aus, an denen jede Knospe glänzte wie ein Juwel. Am Rand des großen Hafenbeckens stand eine Reihe alter Häuser, sie blickten auf die fernen Türme der Stadt mit ihren mandelgrünen Hauben. Im Hafen schlug das streng riechende schwarze Wasser sanft gegen die Schiffsleiber, und die Möwen kreischten im blaßblauen Himmel. Fünfzehn oder zwanzig Leute standen auf dem Kai im Halbkreis um eine Plane herum, die einen Körper bedeckte. Die Füße lagen frei, der eine trug einen braunen Schuh, der andere nur einen Strumpf. Eine junge rotblonde Frau jammerte. Sie hielt einen Mann wie ein Kind an der Hand, er war klein, und auch er jammerte. "Irgend jemand hat sie heute nacht ins Wasser gestoßen", sagte die junge Frau immer wieder. "Sie wollte leben." "Ach, Marie", sagte der kleine Mann, "sei nicht traurig. Meine Schwester hat sie geholt und mit sich genommen." Marie ließ die Hand des Mannes los und rief: "Sag mir nicht noch einmal, daß sie im Paradies ist, Ib. Du gehst mir auf die Nerven. Sie ist tot, am Tag nach ihrem Geburtstag ist sie gestorben." "Es ist die Deutsche", sagte ein bebrillter Herr. "Ich habe sie gleich erkannt." "Sie haben nicht das Recht, sie die Deutsche zu nennen", erwiderte Marie heftig. "Schon lange wurde sie nicht mehr so genannt." "Sie ist aber sehr oft in den Autos der Nazis gesehen worden", gab der bebrillte Herr zurück. "Damals spielte sie die Hochmütige", mischte sich eine alte Dame mit scharfer Stimme ein. "Wenn ich wie alle Welt zu Fuß ging, fuhr sie an mir vorüber, ohne mich anzusehen. Und dabei kannte sie mich." "Sie sind nachtragend", sagte Marie und schob mit kampfeslustiger Gebärde die Haare aus ihrer Stirn. "Sie hat ihre Strafe gehabt, sie hat dafür bezahlt." In diesem Augenblick kam ein junger Mann in hellblauem Hemd und weißer Leinenhose auf die Gruppe der Neugierigen zu, er sah verstört aus. Mit dem Ellbogen bahnte er sich einen Weg bis zu der Plane. Er hob einen Zipfel hoch. "Emil!" schrie die junge rotblonde Frau. "Sieh nicht hin. Wenn sie dich geheiratet hätte, wäre sie sicher nicht tot." "Sie hat ja nicht gewollt", sagte er und richtete sich wieder auf. Dann fiel er um. Inzwischen war der Krankenwagen gekommen. Der Leichnam der Ertrunkenen wurde mit einer Schnelligkeit aufgeladen, die von langer Übung zeugte. "Es passiert immer an der gleichen Stelle", bemerkte einer der Krankenträger. "Es ist wie verhext." "Hallo! Die Plane gehört mir", sagte ein alter Seemann in einem roten Sweater. Während er das schwere Segeltuch zusammenrollte, spritzte Marie dem ohnmächtig gewordenen jungen Mann Wasser ins Gesicht. Seine schon ein wenig harten Züge ließen darauf schließen, daß er um die Dreißig sein mußte, aber das kupferbraune Haar lag struppig über seiner Stirn wie bei einem Schuljungen. Endlich machte er die Augen groß auf und schüttelte den Kopf, gerade als der Krankenwagen losfuhr. "Karin", flüsterte er. "Es sah aus, als lächele sie." "Denk nicht mehr daran", schluchzte Marie unter Tränen. Mit einem Satz sprang er auf. Die herumstehenden Männer sahen ihn, die Hände in den Taschen, schweigend an, in ihren Blicken lag Mitleid, aber auch eine Spur von Geringschätzung. Er b
Erscheint lt. Verlag | 30.7.2001 |
---|---|
Übersetzer | Gerhard Heller |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Léviathan, Le Visionaire, Minuit, Si j'étais Vous, Le mauvais lieu , Epaves, Le malfaiteur, Varouna, L'autre, L'autre sommeil |
Maße | 135 x 210 mm |
Gewicht | 512 g |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • 2. Weltkrieg; Romane/Erzählungen • 2. Weltkrieg / Zweiter Weltkrieg; Romane/Erzählungen • Dänemark • Dänemark, Geschichte; Romane/Erzählungen • Nationalsozialismus |
ISBN-10 | 3-446-20050-9 / 3446200509 |
ISBN-13 | 978-3-446-20050-0 / 9783446200500 |
Zustand | Neuware |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
aus dem Bereich