DURCH WÜSTE UND WILDNIS

Buch | Softcover
308 Seiten
2016 | 2. Auflage
Weltbuch Verlag
978-3-906212-15-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

DURCH WÜSTE UND WILDNIS - Henryk Sienkiewicz
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"Durch Wüste und Wildnis" des polnischen Nobelpreisträgers für Literatur Henryk Sienkiewicz (1846 - 1916) ist ein Buch voller dynamischer Spannung und schillernder Farben.Im Mittelpunkt des Geschehens agieren der 14-jährige Stasch und die 8-jährige Nell. Stasch ist der Sohn des polnischen Oberingenieurs Tarkowski und Nell die Tochter des englischen Direktors der Sues-Kanal-Gesellschaft Rawlison.Weder die Handlung, deren Rahmen eine Vielzahl von interessanten Episoden zwischen der Entführung der beiden und deren Rettung füllt, noch das exotische afrikanische Kolorit erheben das Werk in den Rang empfehlenswerter Kinder- und Jugendliteratur als vielmehr eben das blutvolle Verhältnis zwischen den beiden Hauptgestalten.Staschs und Nells Erlebnisse auf ihrem beschwerlichen Ritt durch Wüste und Wildnis spannen einen weiten Bogen von Hunger und Durst über Erschöpfung, Fieber und Verzweiflung bis hin zu Todesangst und Mord, von flüchtigen Begegnungen mit bis dahin unbekannten Volksstämmen bis zu aktiver Anteilnahme. Stets und überall verquickt sich Staschs Sorge um Nell ...

Als Sohn armer adliger Grundbesitzer am 5. Mai 1846 geboren, wächst Henryk Sienkiewicz in der Provinz Podlachien auf. Seine Kindheit ist geprägt von der Tradition und Eingebundenheit in das Landleben, aber auch vom Patriotismus seines Vaters, der sich am Kampf für die polnische Unabhängigkeit beteiligt hatte. Später siedelt die Familie nach Warschau um, wo er die Schule besucht und Geschichte und Literatur studiert. Seinen Lebensunterhalt verdient er sich zunächst als Hauslehrer, seine journalistische Tätigkeit beginnt er als Feuilletonist und Satiriker. Er schreibt für zahlreiche Zeitungen, zunächst für die liberale Presse, später für die Konservativen. Von 1876 - 1878 geht Sienkiewicz als Korrespondent in die Vereinigten Staaten. 1878 begibt er sich für zwei Monate nach Paris, reist quer durch Europa und kehrt nach vier Jahren in die polnische Heimat zurück. Diese Reisen geben Sienkiewicz Anregung für zahlreiche Erzählungen, darunter die 1881 erschienene Erzählung „Laternik” („Der Leuchtturmwärter“). 1883 veröffentlicht er den ersten Teil eines historischen Zyklus: den historischen Roman „Ogniem i Miecznem“ („Mit Feuer und Schwert“). Es folgen „Potop“ („Die Sintflut“) und „Herr Wolodyjowski“ als Abschluss der breit angelegten Romantrilogie. Mit seinem Roman „Quo vadis?“ (1895) wird Henryk Sienkiewicz weltberühmt und erhält 1905 für dieses Werk den Literatur-Nobelpreis. 1912 veröffentlicht er „W pustyni i w puszczy” („Durch Wüste und Wildnis”), einen historischen Abenteuerroman. Mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges geht Sienkiewicz ins Exil und lässt sich in der Schweiz nieder, wo er am 15. November 1916 – zwei Tage vor Wiedererrichtung des polnischen Staates – stirbt.

Hubert Sauer-Zur wurde am 7. Juli 1923 in Nebelschütz bei Kamenz geboren. Er besuchte das polnisches Gymnasium in Beuthen und erlernte die polnische Sprache. 1937 wurde der Besuch des polnischen Gymnasiums verboten und er setzte seine Schulausbildung in Bautzen fort. Kurz nach seinem Abitur 1942 zog man ihn in die Wehrmacht ein, wo er als Jagdpilot an der Front kämpfte. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges wurde er verwundet und endete in kanadischer Gefangenschaft. Nach dem Krieg studierte er Jura, Germanistik sowie Anglistik zunächst in Prag, dann in Poznan und später dann auch Journalistik in Leipzig. 1965 übernahm er die Leitung des in Volkseigentum übergeführten renommierten Greifenverlages zu Rudolstadt. Seine Prämis-se lag dabei in der Fortführung der guten Tradition und des internationalen Rufes dieses Verlages. Aber nicht alle Vorhaben fanden die Zustimmung der Zensurhehörde der DDR. Eine Zeitlang konnte er sich dem Widerstand trotz repressiver Gespräche mit dem Kulturministerium widersetzen; selbst Literatur mit kritischer Sicht auf das Leben in der DDR konnten veröffentlicht werden. Das Erscheinen vieler anderer Romane, wie auch des Vorliegenden, durften letztlich nicht realisiert werden. Während seiner beruflichen Tätigkeit übersetzte er immer wieder Bücher aus dem Polnischen, Tschechischen, Slowakischen und Sorbischen in die deutsche Sprache, darunter auch Kraszewskis „Gräfin Cosel“, Zamarovskýs „Den Sieben Weltwundern auf der Spur“ und Sienkiewiczs „Durch Wüste und Wildnis“. Im April 2013 verstarb Hubert Sauer-Zur kurz vor seinem 90-igsten Geburtstag.

Henryk Sienkiewiczs „Durch Wüste und Wildnis“ ist 1912 unter dem Originaltitel »W pustyni i w puszczy« erschienen. 1966 sollte dieser bekannte und beliebte Abenteuerroman auch in der DDR, im renommierten Rudolstädter Greifenverlag veröffentlicht werden. In der BRD gab es bereits eine erste Ausgabe. Das fertige Manuskript, aus dem Polnischen durch Hubert Sauer-Zur übersetzt, lag bereits vor, aber die Zensurbehörde der DDR verweigerte dann doch die Druckgenehmigung. Deren Funktionäre verurteilten das Buch als „billige Kolportage antihumanistischen, unwissenschaftlichen und kolonialistischen Gedankentums“. Neben diesen Vorwürfen stand die christliche Haltung der beiden Protagonisten nach Ansicht der Behörde im Widerspruch zur atheistischen Erziehung der Jugend in der DDR. Über Jahrzehnte hinweg war diese Übersetzung aus der polnischen Originalfassung von „Durch Wüste und Wildnis“ in Vergessenheit geraten, bis wir 2012 anlässlich des 100-jährigen Jubiläum der Ersterscheinung, dieses Werkes in ungekürzter und originaler Fassung von 1966 veröffentlichten.

Weißt du, Nell“, sagte Stasch Tarkowski zu seiner Freundin, einer kleinen Engländerin, „gestern kam die Polizei und verhaftete die Frau des Aufsehers Smain und ihre drei Kinder. Es ist jene Fatma, die schon wiederholt zu meinem Vater ins Büro gekommen ist.“ Die bildhübsche Nell hob ihre grünen Augen und fragte halb verwundert, halb verängstigt: „Sie haben sie ins Gefängnis gesteckt?“ „Nein, aber ihr verboten, nach Sudan zu fahren. Und ein Beamter wurde abgestellt, darüber zu wachen, dass sie keinen Schritt aus Port-Said wagt.“ „Warum?“ Stasch, knapp vierzehn Jahre alt, hatte seine achtjährige Spielgefährtin durchaus lieb, hielt sie jedoch für ein ausgemachtes Baby. „Wenn du in mein Alter kommst“, sagte er von oben herab, „wirst du über alles Bescheid wissen, was nicht nur längs des Kanals von Port-Said, sondern in ganz Ägypten geschieht. Hast du denn nie etwas über den Mahdi gehört?“ „Doch, ich habe gehört, dass er sehr hässlich und ungezogen sein soll.“ Der Junge lächelte mitleidig. „Ob er hässlich ist, weiß ich nicht“, belehrte er sie. „Die Sudanesen behaupten, er sehe gut aus. Von ihm jedoch zu sagen, er sei ungezogen, dazu ist allein ein Mädchen in einem Röckchen, das kaum übers Knie reicht, imstande. Immerhin hat er eine Menge Tote auf dem Gewissen.“ „Vati hat´s mir aber so erzählt, und er weiß es am besten“, sagte sie trotzig. „Er hat´s dir deshalb so dargestellt, weil du´s anders nicht kapiert hättest. Mir gegenüber hätte er sich anders ausgedrückt. Der Mahdi ist schlimmer als ein ganzes Rudel Krokodile. Verstehst du? Ungezogen. Das hört sich ja putzig an. So spricht man zu Säuglingen.“ Als er die Kleine so traurig dastehen sah, schwieg er. „Ich wollte dich nicht verletzen, Nell, glaub mir“, entschuldigte er sich nach einer Weile. „Es wird der Tag kommen, dass auch du vierzehn Jahre alt wirst, ganz bestimmt.“ „Ach“, hauchte sie mit sorgenvollem Augenaufschlag, „und wenn der Mahdi vorher in Port-Said einfällt und mich auffrisst?“ „Der Mahdi ist kein Menschenfresser. Er mordet sie lediglich. Und nach Port-Said traut er sich nicht. Sollte er es dennoch wagen und dich umbringen wollen, kriegt er´s mit mir zu tun.“ Diese Erklärung und das Fauchen, mit dem Stasch Luft holte und das dem Mahdi nichts Gutes verhieß, beruhigten Nell wegen ihres Schicksals spürbar. „Ich weiß“, sagte sie. „Du würdest mich niemals im Stich lassen. Doch weshalb darf Fatma nicht Port-Said verlassen?“ „Weil sie eine Cousine des Mahdis ist. Ihr Mann Smain hatte sich der Regierung in Kairo erboten, nach Sudan zu gehen, wo sich der Mahdi aufhält, und sich für die Freilassung aller Europäer einzusetzen, die in dessen Hände gefallen waren.“ „Da ist Smain also ein guter Mensch, nicht wahr?“ „Warte nur ab“, fiel ihr Stasch ins Wort. „Dein Vati und mein Vati kannten ihn allzu gut und trauten ihm nicht über den Weg. Sie haben Nubarra Pascha gewarnt, ihm zu glauben. Die Regierung schlug die Warnung in den Wind und entsandte ihn. Seit einem halben Jahr hockt Smain nunmehr beim Mahdi. Die Gefangenen aber sind nicht nur nicht zurückgekehrt, aus Khartum wird vielmehr berichtet, dass die Mahdisten mit ihnen von Tag zu Tag grausamer umspringen. Smain hat Verrat geübt, nachdem er der Regierung einen ordentlichen Batzen Geld abgeluchst hatte. Mit Haut und Haar hat er sich dem Mahdi verschrieben und sich zum Emir hochgedient. Es wird gemunkelt, dass er in jener Schlacht, in der General Hicks gefallen ist, die Artillerie des Mahdis befehligt hat. Wahrscheinlich brachte er den Mahdisten erst den Umgang mit Kanonen bei, von dem sie vorher keine Ahnung gehabt haben dürften. Nun möchte Smain Frau und Kinder aus Ägypten herauskriegen. Deshalb hat die Regierung Fatma mit Kind und Kegel festsetzen lassen. Allem Anschein nach war Fatma von vornherein in Smains Pläne eingeweiht gewesen und wäre bei erstbester Gelegenheit aus Port-Said verduftet.“ „Und was nützen der Regierung Fatma und ihre Kinder?“ „Die Regierung stellt den Mahdi vor die Wahl: Entweder gibst du die Gefangenen frei, und Fatma darf ziehen, oder.“ Das Gespräch stockte. Staschs Aufmerksamkeit hatten Vögel auf sich gelenkt, die von Echtum om Farag zum Mensaleh-See flogen. Sie strichen ziemlich tief dahin, und in der klaren Luft waren deutlich einige Pelikane auszumachen. Sie schmiegten den Hals an den Rücken und schwangen gemach ihre riesigen Flügel. Stasch ahmte ihren Flug nach. Er warf den Kopf in den Nacken, machte ein paar Schritte am Graben entlang und flatterte mit ausgebreiteten Armen auf und nieder. „Schau nur, auch Flamingos sind dabei“, rief Nell entzückt. Stasch blieb wie angewurzelt stehen. Wahrhaftig, hinter den Pelikanen, lediglich etwas höher, schwebten am blauen Firmament gleichsam zwei ausladende rosapurpurne Blumengebilde. „Flamingos, Flamingos“, konnte Nell sich nicht fassen. „Sie kehren gegen Abend zu ihren Horsten auf den kleinen Inseln heim“, erläuterte der Junge. „Wenn ich doch eine Flinte bei mir hätte!“ „Wolltest du etwa auf sie schießen?“ fragte Nell vorwurfsvoll. „Davon versteht ihr Frauen nichts“, beschwichtigte Stasch. „Gehen wir weiter. Vielleicht erblicken wir noch mehr von ihnen.“ Er fasste das Mädchen an der Hand, und beide schlenderten zum Kanalhafen hinter Port-Said. In angemessenem Abstand folgte ihnen Nells schwarze Amme Dinah. Sie liefen auf dem Damm entlang, der den Mensaleh-See vom Kanal scheidet, den soeben ein großer englischer Dampfer, von einem Lotsen gesteuert, querte. Der Abend nahte. Die Sonne stand allerdings noch recht hoch, neigte sich aber schon zum See hinab. Das salzige Meerwasser fing an golden zu leuchten und wie im Widerschein von Pfauenfedern zu vibrieren. Am arabischen Ufer erstreckte sich, soweit das Auge reichte, fahlgelbe Wüste – taub, feindselig, erstorben. Zwischen dem glasigen, wie leblos erstarrten Himmelsgewölbe und der unendlichen Weite der runzligen Sandfläche gähnte gespenstige Leere. Auf dem Kanal pulsierte Leben, kreuzten Schiffe, heulten Sirenen. Über dem Mensaleh-See schwärmten im Sonnenglanz Möwen und Wildenten. Der arabische Strand aber schien tot. Allein dann, wenn die Sonne sinkend sich zunehmend rötete, ergoss sich über den Sandboden eine lilienfarbene Flut, ähnlich wie sie im Herbst die polnischen Wälder in Heidekraut taucht. Auf dem Weg zur Anlegestelle bekamen die Kinder noch viele Flamingos zu Gesicht. Ihre Augen lachten zu ihnen hinauf. Doch Dinah bestand darauf, nach Hause zu gehen. In Ägypten löst den Tag, der selbst zur Winterszeit oft sehr heiß zu sein pflegt, eine empfindlich kalte Nacht ab. Da Nells Gesundheitszustand Vorsicht gebot, erlaubte ihr Rawlison, ihr Vater, nicht, sich nach Sonnenuntergang am Wasser aufzuhalten. Also brachen sie zur Stadt auf, an deren Rand in Kanalnähe ihre Villa stand. Kaum war die Sonne im Meer versunken, als sie daheim eintrudelten. Bald erschien auch Ingenieur Tarkowski, Staschs Vater, und die Dinnergesellschaft, zu der ebenfalls Nells Französischlehrerin, Frau Olivier, gehörte, zu Tisch. Rawlison, einer der Direktoren der Sueskanal-Company, und Wladyslaw Tarkowski, Oberingenieur desselben Unternehmens, unterhielten seit geraumer Zeit enge freundschaftliche Beziehungen zueinander. Beide waren verwitwet. Tarkowskis Frau, Französin, war bei Staschs Geburt gestorben. Das lag mittlerweile vierzehn Jahre zurück. Nells Mutter wiederum erlag in Heluan der Schwindsucht, als ihr Töchterchen gerade drei Jahre zählte. Die Witwer wohnten in Port-Said in nächster Nachbarschaft und sahen sich berufsbedingt nahezu täglich. Das gemeinsame Missgeschick knüpfte ihre alten Bande um so fester. Rawlison lernte Stasch lieben, als sei er sein eigener Sohn. Tarkowski ginge für die kleine Nell durchs Feuer. Nach dem Tagwerk galt der Plausch über die Kinder, ihre Erziehung und Zukunft als angenehmste Entspannung. Dabei war es gang und gäbe, dass Rawlison Staschs Fähigkeiten, Energie und Ungestüm über den grünen Klee lobte und Tarkowski sich über Nells Liebreiz und Engelsgesicht nicht genugtun konnte. Und das eine wie das andere entsprach der Wirklichkeit. Stasch neigte zwar zu Vorwitz und Prahlsucht, lernte jedoch ausgezeichnet. Die Lehrer der englischen Schule, die er in Port-Said besuchte, schrieben ihm geradezu außergewöhnliche Talente zu. Was seinen Mut und sein Geschick anbelangte, hatte er dies vom Vater ererbt. Tarkowski besaß beide Eigenschaften in hohem Maße. Ihnen auch verdankte er in erster Linie seine derzeitige gehobene Stellung. Im Jahre 1863 hatte er elf Monate ohne Gefechtspause am Aufstand teilgenommen. Verwundet, geriet er dann in Gefangenschaft, wurde nach Sibirien verbannt, flüchtete aus Zentralrussland und schlug sich über die Grenze durch. Sein Ingenieurpatent hatte er schon vor der Rebellion erworben. Dennoch widmete er danach noch ein Jahr dem Studium der Wasserkunde, woraufhin er schließlich die Arbeit am Kanal erhielt. Seine Sachkenntnis, sein Tatendrang, seine Zuverlässigkeit bewirkten, dass er nach kurzer Frist zum Oberingenieur aufstieg. Stasch kam in Port-Said zur Welt. Am Kanal erreichte er sein vierzehntes Lebensjahr, weshalb ihn die Ingenieure, Kollegen seines Vaters, „Kind der Wüste“ tauften. Später, als Schüler, leistete er seinem Vater oder Rawlison manchmal Gesellschaft. So trieb er sich in den Ferien, an Feiertagen in ihrer Nähe herum, begleitete sie auf Reisen, die beide von Port-Said nach Sues unternahmen, um die Arbeiten am Dammbau oder beim Ausheben des Kanalbetts zu beaufsichtigen. Er kannte alle, die Ingenieure und Beamten der Kammer ebenso gut wie die einfachen Arbeiter, Araber und Schwarze. Überall spähte er umher, steckte in alles seine Nase, tauchte auf, wo ihn niemand erwartete. Er machte ausgedehnte Ausflüge auf dem Damm, paddelte kreuz und quer auf dem Mensaleh-See, wobei er sich gelegentlich bedrohlich weit hinauswagte. Bis hinüber zum arabischen Ufer verschlug es ihn zuweilen. Sooft er ein Pferd auftreiben konnte oder auch nur einen Esel, mimte er den großen Herrn der Wüste. Kurzum, er wieselte, wie sein Vater zu sagen beliebte, in allen Ecken und Winkeln herum. Am liebsten verbrachte er jede unterrichtsfreie Stunde in Wassernähe. Sein Vater hatte nichts dagegen einzuwenden. Er sagte sich, Rudern, Reiten und häufiger Aufenthalt an frischer Luft förderten neben dem Wohlbefinden des Jungen zugleich seine Gewandtheit. Stasch war zudem größer und stärker, als Jungen in seinem Alter gewöhnlich gerieten. Ein Blick in seine Augen genügte um sich zu vergewissern, dass er in Bedrängnis eher übertriebene Kühnheit als Furcht an den Tag legen würde. Mit seinen vierzehn Jahren gehörte er zu den besten Schwimmern Port-Saids. Das hatte schon allerhand zu bedeuten. Immerhin bewegen sich Araber und Schwarze im Wasser von Natur aus flink wie Fische. Er schoss mit Kleinkalibergewehren und einfachen Geschossen auf ägyptische Wildenten und ägyptische Gänse. Mit der Zeit erwarb er sich eine überaus treffsichere Hand und ein scharfes Auge. Sein höchster Traum bestand darin, eines Tages auf Großwildsafari in Mittelafrika zu gehen. Gierig verschlang er daher die abenteuerlichen Schilderungen der am Kanal beschäftigten Sudanesen, die in ihrer Heimat auf große Raubtiere und Dickhäuter stießen. Damit lernte er wie nebenbei ihre Sprache, was ihm später zu erheblichem Vorteil gereichte. Der Sueskanal musste nicht nur gegraben, sondern auch gewartet und instand gehalten werden. Sonst würde ihn der Wüstensand, der zu beiden Seiten im Hinterhalt lauerte, bald wieder zuschütten. Lesseps´ Werk erfordert beharrliche Aufmerksamkeit und unablässige Mühe. An der Vertiefung des Kanalbettes schaffen unter der Aufsicht erfahrener Ingenieure riesige Maschinen und tausende Arbeiter bis in die Gegenwart. Gewiss, heutzutage bedarf es ihrer infolge neuer Technik entschieden weniger. Dennoch bleibt ihre Zahl weiterhin ziemlich hoch. Vorwiegend rekrutieren sie sich aus der unmittelbaren Umgebung. Aber auch Nubier und Sudanesen, Somalis und andere Stämme sind darunter. Sie leben am Weißen und Blauen Nil, in Gegenden also, die vor dem Mahdistenaufstand die ägyptische Regierung besetzt gehalten hatte. Stasch lebte mit allen auf freundschaftlichem Fuß. Da er, wie Polen sehr häufig, sprachbegabt war, eignete er sich mehrere ihrer Dialekte an. In Ägypten geboren, sprach er Arabisch wie ein echter Araber. Von den Sansibari, die als Heizer an den Dampfkolossen tätig waren, erlernte er die in Mittelafrika verbreitete Kisuaheli-Sprache. Sogar mit Schwarzen der Dinka- und Schylluk-Stämme konnte er sich verständigen. Sie kamen aus ihren Siedlungsgebieten um Faschoda am Nil. Natürlich sprach er fließend Englisch, Französch und Polnisch, seine Muttersprache, worauf sein Vater als glühender Patriot bestand. Stasch selber hielt sie für die schönste auf der Welt und brachte sie mit Erfolg der kleinen Nell bei. Sie dazu zu bewegen, seinen Namen richtig und nicht wie Stäs auszusprechen, wollte ihm nicht gelingen. Manchmal gerieten sie darüber in Zwist, der zwar nicht länger vorhielt, als bis in den Augen des Mädchens winzige Tränen zu blinken begannen. Dann bat Stäs sie um Verzeihung und ärgerte sich über seine Ungeduld. Stasch äußerte sich nicht selten geringschätzig über ihre acht Lebensjahre und hielt ihnen sein gesetztes Alter mit der entsprechenden Lebensweisheit entgegen. Er meinte, ein Vierzehnjähriger sei wohl noch nicht ganz erwachsen, aber eben auch kein Kind mehr. Infolgedessen sei er bereits zu Heldentaten aller Art reif, zumal da in seinen Adern ja sowohl polnisches als auch französisches Blut fließe. Er sehnte den Augenblick inbrünstig herbei, da sich eine Gelegenheit zu solchen Beweisen ergäbe, insbesondere Nell zu beschützen, zu verteidigen. Beide ersannen vielfältigste Gefahren. Stasch musste ihr Rede und Antwort stehen, was er unternähme, wenn beispielsweise ein Krokodil von zehn Metern Länge oder ein Skorpion, groß wie ein Hund, zu ihrem Fenster hineingekrochen käme. Weder er noch sie konnten ahnen, dass demnächst die Wirklichkeit all ihre phantastischen Ergüsse bei weitem übertreffen sollte.

Weißt du, Nell", sagte Stasch Tarkowski zu seiner Freundin, einer kleinen Engländerin, "gestern kam die Polizei und verhaftete die Frau des Aufsehers Smain und ihre drei Kinder. Es ist jene Fatma, die schon wiederholt zu meinem Vater ins Büro gekommen ist."Die bildhübsche Nell hob ihre grünen Augen und fragte halb verwundert, halb verängstigt: "Sie haben sie ins Gefängnis gesteckt?""Nein, aber ihr verboten, nach Sudan zu fahren. Und ein Beamter wurde abgestellt, darüber zu wachen, dass sie keinen Schritt aus Port-Said wagt.""Warum?"Stasch, knapp vierzehn Jahre alt, hatte seine achtjährige Spielgefährtin durchaus lieb, hielt sie jedoch für ein ausgemachtes Baby. "Wenn du in mein Alter kommst", sagte er von oben herab, "wirst du über alles Bescheid wissen, was nicht nur längs des Kanals von Port-Said, sondern in ganz Ägypten geschieht. Hast du denn nie etwas über den Mahdi gehört?""Doch, ich habe gehört, dass er sehr hässlich und ungezogen sein soll."Der Junge lächelte mitleidig."Ob er hässlich ist, weiß ich nicht", belehrte er sie. "Die Sudanesen behaupten, er sehe gut aus. Von ihm jedoch zu sagen, er sei ungezogen, dazu ist allein ein Mädchen in einem Röckchen, das kaum übers Knie reicht, imstande. Immerhin hat er eine Menge Tote auf dem Gewissen.""Vati hat´s mir aber so erzählt, und er weiß es am besten", sagte sie trotzig."Er hat´s dir deshalb so dargestellt, weil du´s anders nicht kapiert hättest. Mir gegenüber hätte er sich anders ausgedrückt. Der Mahdi ist schlimmer als ein ganzes Rudel Krokodile. Verstehst du? Ungezogen. Das hört sich ja putzig an. So spricht man zu Säuglingen." Als er die Kleine so traurig dastehen sah, schwieg er. "Ich wollte dich nicht verletzen, Nell, glaub mir", entschuldigte er sich nach einer Weile. "Es wird der Tag kommen, dass auch du vierzehn Jahre alt wirst, ganz bestimmt.""Ach", hauchte sie mit sorgenvollem Augenaufschlag, "und wenn der Mahdi vorher in Port-Said einfällt und mich auffrisst?""Der Mahdi ist kein Menschenfresser. Er mordet sie lediglich. Und nach Port-Said traut er sich nicht. Sollte er es dennoch wagen und dich umbringen wollen, kriegt er´s mit mir zu tun."Diese Erklärung und das Fauchen, mit dem Stasch Luft holte und das dem Mahdi nichts Gutes verhieß, beruhigten Nell wegen ihres Schicksals spürbar."Ich weiß", sagte sie. "Du würdest mich niemals im Stich lassen. Doch weshalb darf Fatma nicht Port-Said verlassen?""Weil sie eine Cousine des Mahdis ist. Ihr Mann Smain hatte sich der Regierung in Kairo erboten, nach Sudan zu gehen, wo sich der Mahdi aufhält, und sich für die Freilassung aller Europäer einzusetzen, die in dessen Hände gefallen waren.""Da ist Smain also ein guter Mensch, nicht wahr?""Warte nur ab", fiel ihr Stasch ins Wort. "Dein Vati und mein Vati kannten ihn allzu gut und trauten ihm nicht über den Weg. Sie haben Nubarra Pascha gewarnt, ihm zu glauben. Die Regierung schlug die Warnung in den Wind und entsandte ihn. Seit einem halben Jahr hockt Smain nunmehr beim Mahdi. Die Gefangenen aber sind nicht nur nicht zurückgekehrt, aus Khartum wird vielmehr berichtet, dass die Mahdisten mit ihnen von Tag zu Tag grausamer umspringen. Smain hat Verrat geübt, nachdem er der Regierung einen ordentlichen Batzen Geld abgeluchst hatte. Mit Haut und Haar hat er sich dem Mahdi verschrieben und sich zum Emir hochgedient. Es wird gemunkelt, dass er in jener Schlacht, in der General Hicks gefallen ist, die Artillerie des Mahdis befehligt hat. Wahrscheinlich brachte er den Mahdisten erst den Umgang mit Kanonen bei, von dem sie vorher keine Ahnung gehabt haben dürften. Nun möchte Smain Frau und Kinder aus Ägypten herauskriegen. Deshalb hat die Regierung Fatma mit Kind und Kegel festsetzen lassen. Allem Anschein nach war Fatma von vornherein in Smains Pläne eingeweiht gewesen und wäre bei erstbester Gelegenheit aus Port-Said verduftet.""Und was nützen der Regierung Fatma und ihre Kinder?""Die Regierung stellt den Mahdi vor die Wahl: Entweder gibst du die Gefangenen fre

Erscheinungsdatum
Illustrationen Marie Müller
Mitarbeit Cover Design: Dirk Kohl
Mitglied der Redaktion: Sophie Micheel
Übersetzer Hubert Sauer
Sprache deutsch
Original-Titel W pustyni i w puszczy
Maße 148 x 210 mm
Gewicht 710 g
Einbandart gebunden
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1500 bis heute • Abenteuer • Abenteuerromane • Abenteuer; Romane/Erzählungen • Afrika • Entführer • Historische Romane/Erzählungen • Kenia • Literaturnobelpreisträger • Polen • Sienkiewicz • Somalia • Spannung • Wilde Tiere • Wüste
ISBN-10 3-906212-15-7 / 3906212157
ISBN-13 978-3-906212-15-9 / 9783906212159
Zustand Neuware
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