Wer sein Herz riskiert - Tamera Alexander

Wer sein Herz riskiert

Buch | Softcover
352 Seiten
2018 | 1. Auflage
Francke-Buch (Verlag)
978-3-86827-707-4 (ISBN)
8,00 inkl. MwSt
Nashville, Tennessee, 1871: Alexandra Jamison ist eine junge Südstaatlerin aus gutem Hause. Seit ihr Verlobter David bei einem tragischen Eisenbahnunglück ums Leben kam, ist sie fest entschlossen, ihrem Leben eine neue Wendung zu geben. Gegen den Willen ihrer Eltern, die sie mit einem betagten Gentleman verheiraten wollen, bewirbt sich Alexandra um eine Stelle als Lehrerin. An einer neugegründeten Schule will sie ehemalige Sklaven unterrichten. Doch ihrem Traum stellen sich unerwartete Hindernisse entgegen. Da begegnet sie Sylas Rutledge, einem attraktiven, aber ungehobelten Eisenbahnbesitzer aus Colorado. Er nimmt ihre Berufung ernst und unterstützt sie. Doch kann es sein, dass Sylas in den mysteriösen Unfall verwickelt war, der David das Leben kostete?

Tamera Alexander ist für ihre historischen Romane schon mehrfach mit dem Christy Award ausgezeichnet worden, dem bedeutendsten christlichen Buchpreis in den USA. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei erwachsenen Kindern in Nashville.

Kapitel 1 Nashville, Tennessee 9. August 1871 Alexandra Jamison hatte sich immer eine Schwester gewünscht. Doch stattdessen hatte sie drei Brüder, alle älter als sie. Zwei hatten das Aussehen und das Temperament ihres Vaters geerbt. Jacob, der dritte und ihr Lieblingsbruder, war anders gewesen. Als könnte die Welt diese Abweichung von der Norm nicht ertragen, hatte der Krieg sich ihm auf dem Schlachtfeld entgegengestellt. Und gewonnen. Allein schon deshalb und aus tausend anderen Gründen würde sie diesem Krieg nie vergeben. Ihre anderen zwei Brüder waren ihrem Zuhause und dem Schatten ihres Vaters so bald wie möglich entflohen. Wenn sie das doch nur auch könnte! Doch vor ihrem Haus in der Sycamore Lane – die von großen Bäumen gesäumte Hauptstraße, in der einige der vornehmsten Häuser von Nashville standen – parkte eine Kutsche, die Alexandra daran erinnerte, dass die Pläne ihres Vaters für sie nicht vorsahen, sie entfliehen zu lassen. Es sah viel eher danach aus, als sollte sie vom Regen in die Traufe kommen. Ein Mann, der fast dreimal so alt war wie sie, wartete im Büro. Sie sah im Geiste seinen Gehstock mit Marmorgriff, der neben seinem Stuhl am Bücherregal lehnte. Fairerweise musste sie zugeben, dass sie Horace Buford noch nie mit einem Gehstock gesehen hatte, aber sie war ziemlich sicher, dass in seiner sehr nahen Zukunft ein solcher Stock auf ihn wartete. Sie war fest entschlossen, diese Zukunft nicht mit ihm zu teilen, auch wenn ihr Vater darin anderer Meinung war als sie. Ihre Mutter würde seinen Standpunkt stillschweigend unterstützen und nie laut aussprechen, was sie selbst von der Sache hielt. Falls sie überhaupt eine eigene Meinung hatte. Das war ein weiterer Grund für Alexandras Frustration. Alexandra liebte ihre Mutter; sie konnte sie nur einfach nicht verstehen. Manchmal hatte sie das Gefühl, als kenne sie ihre Mutter kaum. Für das alles, dachte Alexandra, während sie die Stufen zur Ve- randa hinaufstieg, bräuchte man eine Schwester. Um mit ihr Geheimnisse, Kummer und Ängste zu teilen. Und die Frustration, die unweigerlich damit verbunden war, dass sie versuchte, die zwei Menschen, denen sie ihr Leben verdankte, zu respektieren. Aber wie sollte sie das machen, wenn sich die Hoffnungen und Pläne ihrer Eltern für ihr Leben so sehr von ihren eigenen Vorstellungen unterschieden? Sie hätte erwartet, dass sie das alles mit 25 Jahren hinter sich gelassen hätte. Aber das Leben war ganz anders gekommen, als sie erhofft hatte. Als sie die Treppe zum Haus emporstieg, bemerkte sie die Astern in den Töpfen auf der obersten Treppenstufe. Sie sahen frisch gegossen aus, zeigten aber trotzdem unter der glühenden Augustsonne Erschöpfungserscheinungen. Sie konnte das gut nachempfinden. Sie fühlte sich auch ziemlich ausgelaugt. Sie hätte sich gerne um die Sitzung der Nashviller Frauenliga an diesem Vormittag gedrückt, aber ihre Mutter hatte darauf bestanden, dass sie daran teilnehmen sollte, und gleichzeitig behauptet, ihr selbst mache die Hitze zu sehr zu schaffen, um sie zu begleiten. „Der Name Jamison muss vertreten sein, Alexandra“, hatte sie gesagt. „Immerhin gehören wir zu Nashvilles Gründungsfamilien und müssen über alles, was geschieht, auf dem Laufenden sein. Der Tratsch, den man dort hört, ist immer sehr informativ.“ Dieses ganze Gerede, wer wen heiratete, was zum Tee am besten serviert wurde, was laut der Frauenzeitschrift Godey’s Lady’s Book die neueste Mode war … Obwohl die Liga routinemäßig eine Reihe lohnenswerter Aktionen unternahm, um den Bedürftigen zu helfen, interessierten Alexandra die Themen und das ganze Drumhe- rum der Nashviller Gesellschaft einfach nicht mehr. Nicht nach David. Nicht nach Dutchman’s Curve. Sie legte die Hand auf den Haustürgriff und spürte, wie sie sich innerlich wappnete. Dieses Haus war für sie schon lange kein sicherer Zufluchtsort mehr. Besonders dann nicht, wenn sie wusste, dass ihr Vater zu Hause war. Ging es allen Töchtern mit ihren Vätern so? Noch eine Frage an die Schwester, die sie nicht hatte. Er war nicht einverstanden gewesen, dass ihre Wahl auf David gefallen war. David war Lehrer gewesen. Ein begabter Lehrer. Aber das war für Vater nicht prestigeträchtig genug gewesen. Das schöne Messingschild neben der Haustür mit dem Namen ihres Vaters glänzte stärker als sonst. Er musste Melba beauftragt haben, es heute Morgen zu polieren, was nur eines bedeuten konnte: Er hatte einen potenziellen Mandanten zu Besuch. Alexandra warf einen Blick hinter sich auf die Kutsche und fasste Mut, dass im Haus vielleicht doch nicht der alte Mr Horace Buford auf sie wartete. Sie öffnete gerade die Tür, als das durchdringende Pfeifen eines Zuges die Morgenluft durchschnitt. Das schrille Geräusch ließ sie zusammenzucken und weckte Erinnerungen, die sie lieber nicht an die Oberfläche lassen wollte. Bilder von zerborstenen Eisenbahnwaggons und verletzten und toten Menschen. Kreischende Räder und knirschender Stahl, so laut, dass man es in drei Kilometern Entfernung immer noch gehört hatte. Sie kniff fest die Augen zusammen, als die Trauer sie erneut überrollte. Morgen würde sich dieses schreckliche Ereignis jähren. Wie konnte bloß so viel Zeit vergangen sein? Besonders, da sich ein Teil von ihr immer noch an jenem schrecklichen Morgen auf der Dutchman’s Curve gefangen fühlte … „Solange ein geliebter Mensch in deinen Erinnerungen lebt, ist er nie wirklich tot“, hieß es. Aber das war eine Lüge. David war tot. Und er würde nie zurückkommen. Das Pfeifen ertönte erneut, dieses Mal klang es näher. In ihren Erinnerungen stieg wieder der beißende Geruch von Rauch und Asche auf und sie konnte den unheimlichen Ruck des Zuges fühlen, als der Waggon, in dem sie gefahren war, aus den Gleisen sprang. Und sie konnte immer noch Davids geschundene, teilweise verbrannte Leiche sehen, die neben die anderen auf das Maisfeld gelegt worden war. Sie eilte ins Haus und warf die Tür hinter sich zu, hatte aber Mühe, die quälenden Bilder und Geräusche auszusperren. „Miss Alexandra, ist alles in Ordnung?“ Mit pochendem Herzen hob Alexandra den Blick. „Melba“, flüsterte sie. Sie sah die tiefe Besorgnis in den Augen der alten Frau. „Was ist los, Kind? Werden Sie krank?“ Alexandra schüttelte den Kopf. „Mir geht es gut. Mir ist nur ein wenig zu heiß, das ist alles.“ Erinnerte sich denn niemand, was morgen für ein Tag war? Melba hatte es doch sicher nicht vergessen. „Draußen ist es heute heiß wie in einem Backofen, Ma’am. Sie hätten einen Schirm mitnehmen sollen.“ Als sie den Anflug eines Lächelns in Melbas Gesicht sah, versuchte Alexandra, ebenfalls einen Scherz zu machen. „Sie wissen, wie sehr ich Schirme liebe, Melba.“ Die ältere Frau lachte und der melodische Klang gab Alexandra das Gefühl, zu Hause zu sein. „Sie haben diese Dinger schon als Kind nicht gemocht. Aber Ihre Mama sah das anders. Sie hat Sie gezwungen, überallhin einen Schirm mitzunehmen.“ „Wie könnte ich das vergessen!“ Alexandra legte ihre Handtasche auf einen Seitentisch und schaute zu, wie Melba einen Strauß frisch geschnittener Blumen aus dem Garten in der antiken Vase auf dem Tisch drapierte. Die frühere Sklavin war genauso ein Teil ihres Lebens wie alle anderen in diesem Haus. In vielerlei Hinsicht sogar noch mehr. Weil Melba Dinge sah, die ihre Eltern nicht sahen. Schon als kleines Mädchen hatte Alexandra ihr nie etwas vormachen können. Ganz ähnlich wie eine andere Sklavin, die sie als Kind gekannt hatte. Eine Sklavin, die sie von ganzem Herzen geliebt hatte. Sie hörte Stimmen aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters. „Ein potenzieller Mandant?“, fragte sie leise. Melba nickte. „Der Mann ist neu in der Stadt, hat Ihr Papa gesagt.“ Ihr Vater hatte sein Büro vor vier Monaten aus der Stadtmitte hierher verlegt. Als Grund hatte er genannt, dass das Gebäude dort nicht richtig in Ordnung gehalten würde. Aber Alexandra vermutete insgeheim, dass der Umzug finanzielle Gründe hatte. Der Krieg war seit sechs Jahren zu Ende und die Geschäfte in Nashville schienen wieder besser zu laufen. Aber die vielen Anwälte waren anscheinend immer noch nicht regelmäßig ausgelastet. Die Bürotür öffnete sich und ihr Vater steckte den Kopf heraus. „Alexandra, du bist zu Hause. Gut. Würdest du bitte ins Büro kommen? Ich brauche deine Hilfe.“ „Natürlich.“ Er schob die Tür wieder zu. Sie war klug genug, ihn nicht warten zu lassen, und wischte schnell den Straßenstaub von ihrem Kleid. „Warten Sie, ich helfe Ihnen, Ma’am.“ Melba trat hinter sie und strich mit der Hand kräftig über die Rückseite ihres Rocks. „Da morgen ein besonderer Tag ist, Miss Alexandra, könnten wir vielleicht Ihr blaues Kleid wieder herausholen. Oder das blaugrüne mit dem weißen Spitzenkragen, der so gut zu Ihren blonden Haaren passt. Wenn Sie dazu bereit sind.“ Alexandra drehte sich um. „Ich wusste, dass Sie daran denken würden.“ Melba seufzte und legte ihre Hand auf ihr Herz. „Diesen Tag wird diese alte Frau nie vergessen.“ Alexandra umarmte sie und genoss es, wie sich Melbas Arme stark und beschützend um ihre Schultern legten. Und sie genoss ihren Geruch. Sie roch nach frischem Kaffee und Brot, das warm aus dem Ofen gekommen war. Alexandra warf einen schnellen Blick in den Spiegel über dem Tisch, dann betrat sie das Büro. Dort bestätigte sich, dass die Kutsche vor dem Haus wirklich nicht Horace Buford gehörte. Der Fremde, der sich von seinem Platz erhob, war mindestens genauso groß wie ihr Vater, was nicht selbstverständlich war. Sein tadellos geschnittener schwarzer Mantel reichte fast bis zu seinen Knien und mit den dunklen Lederstiefeln, in die seine Hose gesteckt war, sah er eher wie ein Verbrecher oder Revolverheld aus als wie ein Gentleman aus Nashville. Der Schatten eines Tagebarts über seinem Kinn und der Stetson auf seinem Kopf – er hatte den Hut im Haus nicht abgenommen, hatte dieser Mann denn keine Manieren? – verstärkten diesen Eindruck noch mehr. Etwas an ihm strahlte auch etwas Herausforderndes aus. Vielleicht war es seine Haltung. Selbstsicher. Fast arrogant. Er war das genaue Gegenteil von ihrem David, in dessen Nähe sich jeder sofort wohlgefühlt hatte. Das war eine Eigenschaft gewesen, die seine Begabung als Lehrer noch verstärkt hatte. Offen, ehrlich, mitfühlend – das waren alles Charakterzüge, die dazu geführt hatten, dass sie sich auf Anhieb in ihn verliebt hatte. Diese Eigenschaften hatten allerdings auch auf tragische Weise zu seinem viel zu frühen Tod beigetragen. „Mr Rutledge, darf ich Ihnen meine Tochter vorstellen, Miss Jamison.“ Ihr Vater schaute sie an. „Das ist Mr Sylas Rutledge, Eigentümer der Northeast Line Railroad. Er ist vor Kurzem aus Colorado in den Osten gekommen.“ Colorado. Das passte zu diesem Mann. Ein wildes, ungezähmtes Territorium und ein wilder, ungezähmter Mann. „Guten Tag, Mr Rutledge.“ Er nickte. „Ma’am.“ Ma’am? Sollte das eine anständige Begrüßung sein? Erst jetzt fiel ihr der Hund auf, der zu seinen Füßen saß. Ein Hund! Im Büro ihres Vaters. Das verriet ihr, dass dieser Mann vermögend sein musste. Denn Barrett Broderick Jamison erlaubte nie Tiere in seinem Haus, geschweige denn in seinem Büro. Der Hund, anscheinend ein ausgewachsener Fuchshund, schaute zu ihr hinauf. Seine großen braunen Augen strahlten eine Wärme aus, die seinem Herrn fehlte. Er war ein schönes Tier, braun und beige mit weißen Flecken im Gesicht und weißen Fesseln. Mit wedelndem Schwanz kam er auf sie zu. Alexandra streckte die Hand aus, um ihn zu streicheln, aber ein schnelles Fingerschnippen von Mr Rutledge genügte und der Hund setzte sich wieder. Alexandra zog die Hand zurück. „Entschuldigen Sie, Sir. Ich wollte ihn nur streicheln.“ Ohne ein Wort zu sagen, schaute Mr Rutledge zu dem Hund hinab und nickte einmal, woraufhin der Hund sich ihr wieder näherte, diesmal zögerlicher. Alexandra kraulte den Hund hinter den Ohren und ihr Mitleid mit dem Tier wuchs. „Ich brauche einen Standard-Kaufvertrag für Mr Rutledge“, sagte ihr Vater, der in den Papieren auf seinem Schreibtisch kramte. „Mr Rutledge, Sie können den Vertrag mitnehmen und ihn durchlesen. Oder, wenn Sie möchten, kann ihn meine Tochter auf der Stelle ausfüllen, dann kann ich ihn gegen eine kleine Gebühr einreichen. Damit wird der Prozess in Gang gesetzt.“ „Ich nehme ihn mit.“ Alexandra tat, was ihr Vater verlangte, und ahnte, dass sein potenzieller Mandant sich noch nicht festlegen wollte. Sie hatte ihm im Laufe der Jahre bei genügend derartigen Besprechungen assistiert, sodass sie ein Gespür dafür entwickelt hatte, ob jemand bereit war zu unterschreiben. Mr Rutledge aus Colorado hatte jedenfalls nicht die Absicht, heute einen Vertrag zu schließen. Alexandra vermutete vielmehr, dass der Mann Informationen suchte und nicht bereit war, sich zu verpflichten. Sie trat einen Schritt näher auf ihn zu und hielt ihm das Formular hin. „Mr Rutledge, erlauben Sie mir, Ihnen kurz die rechtlichen Fakten im Zusammenhang mit einem Kaufvertrag in Tennessee zu erklären. Dieses Dokument überträgt das Eigentum an einer Immobilie und enthält die Namen des alten und des neuen Eigentümers sowie eine juristische Beschreibung des Eigentums, das vom Bezirksgericht bestätigt werden muss. Je nach der Art Ihres Landkaufs …“ Seine Augen wichen nicht von ihrem Gesicht, während sie sprach. Diese offensichtliche Aufmerksamkeit machte sie ein wenig unsicher. „… kann es auch nötig sein, einen Gewährleistungsvertrag, eine Übertragungsurkunde und vielleicht eine Verzichtserklärung aufzusetzen. Mit der Verzichtserklärung gibt man alle Eigentumsansprüche, die man auf ein Grundstück haben könnte, ab. Man verzichtet zum Beispiel auf etwaige Ölvorkommen oder Bodenschätze.“ Sie brach ab, aber er sagte nichts. „Ist das für Sie nachvollziehbar, Mr Rutledge?“ „Vollkommen.“ Da sie vermutete, dass die Sache damit erledigt sei, reichte sie ihm das Formular. Er faltete es zusammen und steckte es ohne Dank oder auch nur ein Kopfnicken in seine Manteltasche. Dieser Mann musste über die im Süden erwartete Etikette und den Umgang mit den Geschäftsleuten dieser Stadt noch einiges lernen. Sein Mantel bewegte sich etwas und Alexandra sah, dass er eine Pistole am Gürtel trug – wie diese Verbrecher, die in den Romanheften beschrieben wurden. Sie traute ihren Augen kaum. War diesem Mann nicht bewusst, dass er jetzt in der Zivilisation angekommen war? Das hier war Nashville in Tennessee, nicht eine jener gesetzlosen Städte im Westen. Er tippte an seine Hutkrempe. „Mr Jamison.“ Dabei schaute er Alexandra ohne den leisesten Anflug eines Lächelns an, aber sie entdeckte ein Funkeln in seinen Augen. Als wüsste er ein Geheimnis, von dem sie nichts ahnte. „Ma’am“, sagte er leise und schritt aus dem Raum, während ihn sein Hund brav begleitete. Ihr Vater folgte dem Mann aus dem Zimmer, aber Alexandra blieb im Büro zurück und beobachtete ihn hinter dem Vorhang am Fenster. Eigentümer der Northeast Line Railroad. Sie vermutete, dass er hier war, um bei der Vergabe des Belle-Meade-Bahnhof-Projektes seinen Hut in den Ring zu werfen. Mary Harding hatte ihr schon davon erzählt. Laut Mary hatte ihr Vater, General William Giles Harding, dieses Projekt für Eisenbahnbetreiber aus dem ganzen Land ausgeschrieben. Alexandra lächelte und fand eine gewisse Genugtuung darin, dass Mr Sylas Rutledge nur eine geringe bis gar keine Chance hatte, diese Ausschreibung zu gewinnen. Denn sie kannte General Harding und wusste, dass dieser Mann auf Außenstehende nicht gerade freundlich reagierte. Sie wandte sich vom Fenster ab, als Mr Rutledges Kutsche abfuhr. Ihr Vater kam ins Büro zurück. „Gut. Du bist noch da, Alexandra.“ Er begann, die Papiere auf seinem Schreibtisch zu ordnen. Sein brüskes Benehmen verriet sein Missfallen. „Wir haben heute Abend einen Gast beim Essen. Bitte bemühe dich also besonders um dein Aussehen und tu alles, damit er sich wohlfühlt.“ Alexandra erstarrte. „Einen Gast zum Abendessen?“ Ihr Vater hob den Blick. „Das habe ich doch soeben gesagt. Jetzt lass mich allein. Ich habe noch einen Termin.“ Sie öffnete den Mund, um weitere Fragen zu stellen, aber sein finsterer Blick hielt sie davon ab. „Miss Jamison, ich muss sagen …“ Horace Buford musterte sie über den Esstisch hinweg wie eine preisgekrönte Kuh. „Sie sehen heute Abend besonders hinreißend aus. Diese Farbe steht Ihnen gut, meine Liebe.“ Sie hatte ein schlichtes, hochgeschlossenes, absolut nicht schmeichelhaftes Kleid aus ihrer Garderobe ausgewählt. Dass es braun war, für sie die absolut schlimmste Farbe, verstärkte diese Wirkung noch. Da sie den Blick ihres Vaters fühlte, zwang sie sich zu einem Lächeln. „Danke, Mr Buford. Sie sind sehr freundlich.“ Mr Buford trank seinen Wein leer, dann schnippte er mit den Fingern, damit sein Glas wieder aufgefüllt würde. Alexandra bemerkte den kurzen Schatten, der über das Gesicht ihrer Mutter zog, während sie gleichzeitig an Mr Rutledge und seinen Hund erinnert wurde. Neben Mr Buford sah sie Sylas Rutledge nun in einem deutlich besseren Licht als noch am Morgen. So ungehobelt der Mann auch sein mochte, war er „wesentlich angenehmer anzusehen“ als der Mann, der ihr im Moment gegenübersaß. So würde es Mary Harding mit ihrem koketten Lächeln ausdrücken und das wäre noch eine große Untertreibung. Sylas Rutledge war geheimnisvoll und attraktiv. Auf eine etwas bedrohliche und nicht ganz vertrauenswürdige Art. Aber sie ahnte, dass er sich dessen durchaus bewusst war, was den Reiz eines Mannes in ihren Augen deutlich minderte. „Ich möchte Ihnen zum Kauf Ihres neuen Hauses gratulieren, Horace.“ Ihr Vater warf Alexandra einen Blick zu, der sie aufforderte, sich am Gespräch zu beteiligen. „Die Morrison-Residenz sieht ziemlich gut aus.“ „Ja, das stimmt. Und ich habe sie zu einem Schnäppchenpreis bekommen!“ Mr Buford lachte und zeigte dabei einen Bissen Kalbfleisch in seinem Mund. „Es ist natürlich wirklich schade, dass eine weitere angesehene Nashviller Familie nicht mehr da ist. Aber wenn schon jemand von dieser Situation profitieren muss, warum dann nicht ich?“ Der geringe Appetit, den Alexandra gehabt hatte, verging ihr jetzt gänzlich. Wie kam es, dass sie wieder in einer solchen Situation gefangen war und über den Tisch hinweg einen älteren Kollegen ihres Vaters anstarrte, während ihre Mutter nur schwach lächelte und ihr Vater unverhohlen die Stirn runzelte? Die nicht ausgesprochene Botschaft war schmerzlich zwischen den Zeilen des gezwungenen Gesprächs zu lesen. Das Abendessen zog sich unangenehm in die Länge. Schließlich war es Zeit, sich in den Salon zurückzuziehen. Alexandra wollte sich gerade entschuldigen, um Ihnen dort nicht mehr Gesellschaft leisten zu müssen, als ihr Vater sie aufforderte: „Alexandra, führe Mr Buford doch schon in den Salon. Deine Mutter und ich kommen gleich nach.“ Sie spürte, dass ihre Eltern sich unterschwellig verständigten, und erstarrte innerlich. „Eigentlich bin ich ziemlich müde, Vater. Ich denke, ich werde –“ „Du wirst Mr Buford in den Salon führen, wie ich gesagt habe. Danke, Alexandra. Deine Mutter und ich kommen in Kürze nach.“ Die Luft knisterte vor Spannung. Alexandra sah, dass Mr Bufords Blick verwirrt zwischen ihnen hin und her wanderte, und obwohl sie diesem Mann keine Gefühle entgegenbrachte, hatte sie nun doch ein wenig Mitleid mit ihm, weil er in die Spannungen zwischen ihr und ihren Eltern hineingezogen wurde. „Mr Buford.“ Sie machte eine einladende Handbewegung. „Würden Sie mich bitte in den Salon begleiten?“ „Nichts würde ich lieber tun, meine Liebe.“ Er legte seine Hand leicht auf ihren Rücken, als sie ihm in den Salon voranging, und sie erschauerte. Sie entschied sich für einen der beiden Sessel, obwohl sie genau wusste, dass ihr Vater davon nicht begeistert wäre. Es war ein kleiner Sieg, aber sie ließ ihn sich nicht nehmen. Mr Buford setzte sich aufs Sofa. Er warf einen Blick auf den leeren Platz neben sich und dann auf sie. „Möchten Sie sich nicht zu mir setzen, Miss Jamison?“ „Ich sitze hier ganz gut. Danke.“ Ihr Blick vermied den seinen. Aus dem Augenwinkel heraus konnte sie das Pendel der Großvateruhr sehen. Es bewegte sich hin und her, hin und her. Die Sekunden verstrichen. Aber nicht schnell genug. „Miss Jamison, Ihnen ist sicher bewusst, dass ich ein Mann mit einem beträchtlichen Vermögen und großem Ansehen in dieser Stadt bin. Ich erfreue mich außerdem bester Gesundheit und für mein Alter bin ich erstaunlich kräftig. Ich neige nicht zu Wutanfällen, noch trinke ich übermäßig.“ Da Alexandra nicht übermäßig unhöflich sein wollte, war sie gezwungen, ihn anzusehen. Er bedachte sie mit einem Lächeln, von dem sie wünschte, er hätte es unterlassen. „Einige würden vielleicht sagen, dass ich vieles habe, das mich für das schöne Geschlecht reizvoll macht, obwohl ich nie auf die Idee käme, das selbst über mich zu sagen. Auch, wenn es die reine Wahrheit ist.“ „Mr Buford, erlauben Sie mir, Sie zu unterbrechen. Ich habe wirklich nicht den Wunsch …“ Er stand mit einer überraschenden Wendigkeit vom Sofa auf und kniete vor ihr nieder. „Ich habe mit Ihrem Vater gesprochen, Miss Jamison, und er ist der Meinung, dass Sie und ich ein ausgezeichnetes Paar abgeben würden. Ich stimme ihm darin von ganzem Herzen zu. Deshalb bin ich hier, um –“ „Mr Buford, ich muss Sie bitten, nicht weiterzusprechen.“ Ale- xandra versuchte aufzustehen, aber er ergriff ihre Hand. „Sie sind ein so reizendes Geschöpf. Ich stelle fest, dass ich mit jeder Minute mehr von Ihnen angetan bin.“ Er hob ihre Hand an seinen Mund, um sie zu küssen. Auf seiner Oberlippe glänzte der Schweiß. Alexandra entzog ihm schnell ihre Hand, bevor er sie berührte, und stand auf, um Abstand zwischen ihnen aufzubauen. „Mr Buford, bitte entschuldigen Sie mich vielmals. Aber mein Vater hat in dieser Angelegenheit nicht mit mir gesprochen. Bitte vergeben Sie mir, aber ich muss offen mit Ihnen sprechen. Offener, als es normalerweise meine Art ist.“ Er stützte sich an der Sessellehne ab und erhob sich. „Es besteht kein Grund zur Zurückhaltung, meine Liebe. Mir ist bewusst, dass Ihre Familie zwar nicht mehr in dem Umfang vermögend ist wie früher, aber Ihre gesellschaftlichen Beziehungen und Ihr Familienname sprechen deutlich für Sie. Und Sie als Person haben reichlich Vorzüge, die jeder Mann bei einer Ehefrau begehrenswert finden würde.“ „Mr Buford …“ Alexandra zitterte vor Wut über die Rücksichtslosigkeit ihres Vaters, aber sie zwang sich, die Worte auszusprechen. „Ich fühle mich zwar … geehrt, dass Sie mich Ihrer Zuneigung für würdig erachten, aber ich kann Ihren Antrag nicht annehmen.“ „Aber … Ihr Vater hat mir versichert, dass Sie …“ Die Tür zum Salon ging auf und ihr Vater trat ein. Sie entdeckte ihre Mutter, die mit großen Augen hinter ihm in der Eingangshalle stand. „Mr Buford, bitte seien Sie mir nicht böse. Aber ich bin sehr müde. Ich wünsche Ihnen und meinen Eltern noch einen schönen Abend.“ Als sie das Zimmer verließ, packte ihr Vater sie am Arm und zog sie auf dem Flur beiseite. Sie sah, wie auch noch das letzte bisschen Geduld, das er heute Abend aufgebracht hatte, aus seiner Miene wich. „Du hast meine Wünsche in dieser Angelegenheit schon einmal ignoriert“, flüsterte er. „Du wirst das nicht wieder machen.“ „Du kannst mich nicht dazu zwingen.“ „Oh, doch! Und ob ich das kann.“ Sein Griff wurde stärker. „Ich bin dein Vater. Ich habe jedes Recht, solche Entscheidungen für dich zu treffen. Du bist schon viel zu alt. Das ist zu deinem eigenen Besten und zum Wohl unserer Familie.“ Alexandra riss sich los. Die Überraschung im Gesicht ihres Vaters verlieh ihr unerwarteten Mut. „Es tut mir leid, Vater. Aber das ist meine Entscheidung.“ Sie nahm ihre Handtasche vom Tisch, auf dem sie sie am Nachmittag abgelegt hatte. Dann hörte sie die Stimme ihrer Mutter hinter sich. „Bitte, Alexandra“, flüsterte sie. „Hör auf deinen Vater.“ Alexandra drehte sich um und sah Tränen über das Gesicht ihrer Mutter laufen. „Mutter, du kannst doch nicht wirklich glauben, dass dies das Beste wäre!“ „Er ist dein Vater, Alexandra. Er ist das Haupt dieses Hauses und du musst doch sehen, dass es weise ist …“ „Nein.“ Alexandra schüttelte den Kopf, obwohl ihre eigenen Tränen sich Bahn zu brechen drohten. „Ich sehe es in deinen Augen. Du stimmst ihm nicht zu. Warum sagst du nichts? Warum setzt du dich nicht für mich ein?“ Neue Tränen traten ihrer Mutter in die Augen. Aber da sie Schritte aus dem Salon kommen hörte, stürmte Alexandra zur Haustür hinaus und auf die Straße.

Kapitel 1Nashville, Tennessee9. August 1871Alexandra Jamison hatte sich immer eine Schwester gewünscht. Doch stattdessen hatte sie drei Brüder, alle älter als sie. Zwei hatten das Aussehen und das Temperament ihres Vaters geerbt. Jacob, der dritte und ihr Lieblingsbruder, war anders gewesen. Als könnte die Welt diese Abweichung von der Norm nicht ertragen, hatte der Krieg sich ihm auf dem Schlachtfeld entgegengestellt. Und gewonnen. Allein schon deshalb und aus tausend anderen Gründen würde sie diesem Krieg nie vergeben.Ihre anderen zwei Brüder waren ihrem Zuhause und dem Schatten ihres Vaters so bald wie möglich entflohen. Wenn sie das doch nur auch könnte!Doch vor ihrem Haus in der Sycamore Lane - die von großen Bäumen gesäumte Hauptstraße, in der einige der vornehmsten Häuser von Nashville standen - parkte eine Kutsche, die Alexandra daran erinnerte, dass die Pläne ihres Vaters für sie nicht vorsahen, sie entfliehen zu lassen. Es sah viel eher danach aus, als sollte sie vom Regen in die Traufe kommen. Ein Mann, der fast dreimal so alt war wie sie, wartete im Büro. Sie sah im Geiste seinen Gehstock mit Marmorgriff, der neben seinem Stuhl am Bücherregal lehnte. Fairerweise musste sie zugeben, dass sie Horace Buford noch nie mit einem Gehstock gesehen hatte, aber sie war ziemlich sicher, dass in seiner sehr nahen Zukunft ein solcher Stock auf ihn wartete. Sie war fest entschlossen, diese Zukunft nicht mit ihm zu teilen, auch wenn ihr Vater darin anderer Meinung war als sie.Ihre Mutter würde seinen Standpunkt stillschweigend unterstützen und nie laut aussprechen, was sie selbst von der Sache hielt. Falls sie überhaupt eine eigene Meinung hatte. Das war ein weiterer Grund für Alexandras Frustration.Alexandra liebte ihre Mutter; sie konnte sie nur einfach nicht verstehen. Manchmal hatte sie das Gefühl, als kenne sie ihre Mutter kaum.Für das alles, dachte Alexandra, während sie die Stufen zur Ve- randa hinaufstieg, bräuchte man eine Schwester. Um mit ihr Geheimnisse, Kummer und Ängste zu teilen. Und die Frustration, die unweigerlich damit verbunden war, dass sie versuchte, die zwei Menschen, denen sie ihr Leben verdankte, zu respektieren. Aber wie sollte sie das machen, wenn sich die Hoffnungen und Pläne ihrer Eltern für ihr Leben so sehr von ihren eigenen Vorstellungen unterschieden?Sie hätte erwartet, dass sie das alles mit 25 Jahren hinter sich gelassen hätte. Aber das Leben war ganz anders gekommen, als sie erhofft hatte.Als sie die Treppe zum Haus emporstieg, bemerkte sie die Astern in den Töpfen auf der obersten Treppenstufe. Sie sahen frisch gegossen aus, zeigten aber trotzdem unter der glühenden Augustsonne Erschöpfungserscheinungen. Sie konnte das gut nachempfinden. Sie fühlte sich auch ziemlich ausgelaugt. Sie hätte sich gerne um die Sitzung der Nashviller Frauenliga an diesem Vormittag gedrückt, aber ihre Mutter hatte darauf bestanden, dass sie daran teilnehmen sollte, und gleichzeitig behauptet, ihr selbst mache die Hitze zu sehr zu schaffen, um sie zu begleiten."Der Name Jamison muss vertreten sein, Alexandra", hatte sie gesagt. "Immerhin gehören wir zu Nashvilles Gründungsfamilien und müssen über alles, was geschieht, auf dem Laufenden sein. Der Tratsch, den man dort hört, ist immer sehr informativ."Dieses ganze Gerede, wer wen heiratete, was zum Tee am besten serviert wurde, was laut der Frauenzeitschrift Godey's Lady's Book die neueste Mode war ... Obwohl die Liga routinemäßig eine Reihe lohnenswerter Aktionen unternahm, um den Bedürftigen zu helfen, interessierten Alexandra die Themen und das ganze Drumhe- rum der Nashviller Gesellschaft einfach nicht mehr.Nicht nach David. Nicht nach Dutchman's Curve.Sie legte die Hand auf den Haustürgriff und spürte, wie sie sich innerlich wappnete. Dieses Haus war für sie schon lange kein sicherer Zufluchtsort mehr. Besonders dann nicht, wenn sie wusste, dass ihr Vater zu Hause war. Ging es allen Töchtern mit ihren Vätern so?Noch eine Frage an die Schwester, die

Erscheinungsdatum
Übersetzer Silvia Lutz
Sprache deutsch
Original-Titel To wager her heart
Maße 135 x 205 mm
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Christlicher Roman • Eisenbahn • Freigelassene Sklaven • Glaube • Historischer Liebesroman • Lehrerin
ISBN-10 3-86827-707-2 / 3868277072
ISBN-13 978-3-86827-707-4 / 9783868277074
Zustand Neuware
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