Drei Küsse für Herkules - Eva Engelken

Drei Küsse für Herkules

Roman

(Autor)

Buch
464 Seiten
2018
Edition Eva & Adams (Verlag)
978-3-9819902-1-8 (ISBN)
15,99 inkl. MwSt
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Ein Liebesroman, der die Liebe in ihrer schillernden Vielfalt feiert und dafür sogar die für ihre turbulenten Seitensprünge berüchtigten griechischen Götter und Göttinnen zurück auf die Erde holt.
Ein Liebesroman, der die Liebe in ihrer schillernden Vielfalt feiert und dafür sogar die für ihre turbulenten Seitensprünge berüchtigten griechischen Götter und Göttinnen zurück auf die Erde holt.
So hat sich Vivian ihr Leben mit Kindern und Karriere nicht vorgestellt: Sie reibt sich zwischen Familie und Job auf, doch das Einzige, was sie bekommt, ist Speck auf ihren Hüften. Als sie an Karneval den attraktiven Herk kennenlernt, erklärt sie ihn kurzerhand zur Geheimwaffe gegen Frust und Altersringe.
Sie weiß nicht, dass Herk ein griechischer Halbgott ist, der dringend wahre Liebe finden muss, um wieder unsterblich zu werden und Europa zu retten. Zwar managt Aphrodite persönlich die Liebesmission, doch Herk ist krank und Zeus ist nur an neuen Seitensprüngen interessiert.
Wird Vivian die Herkulesaufgabe meistern, Herk unsterblich zu lieben? Und wie viel wird dann noch von ihrer Ehe übrig sein?
Mit dabei: Der männerliebende Weingott Dio, der alternde Casanova Zeus und der Diebesgott Hermes. Vor allem aber drei echte Powerfrauen: Familienbeschützerin Hera, Politikerin Athene und Liebesgöttin Aphrodite.
Schauplatz ist Düsseldorf, eine der Hochburgen des rheinischen Karnevals, durch die die menschlichen und göttlichen Charaktere jagen, frei nach dem Schlagermotto "Nur nicht aus Liebe weinen, es gibt auf Erden nicht nur den einen".
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Den politischen Anlass für das Götter-Revival liefert der aktuelle desolate Zustand Europas. Weil der klamme griechische Staat sogar die Inseln der Götter an superreiche Investoren verscherbelt hat, kommen sie zurück, um Gelder für den Rückkauf einzuwerben. Ihre kühne Vision: Mit Herks Hilfe den Kontinent der Prinzessin Europa in eine moderne Republik zu verwandeln. Schafft es der antike Superheld Herk wieder unsterblich zu werden?

Eva Engelken, geboren 1971 in Mönchengladbach, ist Juristin und Kommunikationsberaterin und begeisterte mit ihren humorvollen Ratgebern „Klartext für Anwälte“ und „111 Gründe, Anwälte zu hassen“ bisher vor allem die Juristenwelt. Mit „Drei Küsse für Herkules“ geht sie an die Beziehungsfront und seziert den Stoff, aus dem Affären sind. Sie lebt mit Mann und Kindern seit 20 Jahren am Niederrhein.

1Vivian bricht auf
2Ankunft der Götter
3Felix’ Unfall
4Dios listiger Plan
5Vivian trifft Herk
6Herkules findet keine Jungfrau
7Vivian bleibt standhaft
8Strategiemeeting in der Meerbar
9Vivians Handy ist gesperrt
10Tobias gibt Felix Ratschläge
11Ein Palast für Herk
12Kribbeln mit Milchkaffee
13Eklat beim Casting
14Nervöse Latte
15Beate-Uhse-Shop
16Felix’ Dienstreise
17Wellnesssex
18Zeus will einen Retter zeugen
19Vorwürfe von Sofie
20Speeddating mit Lamborghini
21Sex at Sixty
22Angriff der Cendraken
23Toms vierter Geburtstag
24Koitus in Ketten
25Anfall im Nashorngehege
26Felix’ Buchungsfehler
27Krisensitzung mit Hera
28Doppelt bestückt
29Vivians Krise
30Felix ist erkältet
31Zeus beim Haftrichter
32Herk im Keller
33Dio an Vivians Wohnung
34Vivian findet ein Nashorn
35Besuch in der U-Haft
36Schniedelbilder
37Zeus und Herk reden
38Beichte an Felix
39Vivian ist happy
40Felix ist Stammkunde
41Vivian kann sich nicht entscheiden
42Felix’ nette Kollegin
43Die Franzosen reisen ab
44Aphrodite über die Sucht nach Liebe
45Vivian zieht aus
46Felix in der Sauna
47Rettungsmission
48Vivian wird Einbrecherin
49Dio und Aphro verlieren Vivian aus den Augen
50Als Adler unterwegs
51Zeus’ Pressekonferenz
52Vivian vertreibt den Dämon
53Dio und Aphrodite verabschieden sich
54Vivian hat Fieber
55Etwa 17 Monate später
Disclaimer
Danksagung
Über Eva Engelken

1VIVIAN BRICHT AUF Alles, was sie wollte, war ein perfekt aufgeräumtes Haus, doch irgendjemand schien beschlossen zu haben, sie mit allen Mitteln daran zu hindern. Aktuell setzte dieser Jemand das Telefon dazu ein, das tief unter einem Kleiderberg nicht aufhörte zu bimmeln. Bei Vivian rief selten jemand Spannenderes an als ihre Schwiegermutter, dennoch stellte sie ihre Kaffeetasse auf dem Boden ab und schob mit beiden Händen die Karnevalskostüme auseinander, die ihre Kinder dort hatten fallen lassen. Don Johnson strich um ihre Beine und miaute vorwurfsvoll. „Geduld“, sagte sie und setzte ihn zur Seite, woraufhin er die Tasse umkippte, sodass der dampfende Kaffee auf Emilys Prinzessinnenkleid landete. Es war nicht die Schwiegermutter, sondern ihre Freundin Sofie. „Ich habe die letzten beiden Tickets für heute Abend ergattert“, sagte sie mit quengelnder Stimme, „da wirst du mich doch nicht hängen lassen?" Vivian klemmte sich das Telefon zwischen Ohr und Schulter und schleuderte das nasse Kleid die Kellertreppe hinunter. „Falls du mich schon wieder zum Karnevalfeiern überreden willst, vergiss es. Die Putzfrau ist krank und in zwei Wochen kommt der französische Austauschschüler mit seinen Eltern. Die kündigen die deutsch-französische Freundschaft, wenn sie mitkriegen, wie deutsche Haushalte wirklich aussehen!“ Don Johnson maunzte bestätigend. „Was ist los mit dir?“, fragte Sofie, und Vivian konnte förmlich hören, wie sich Sofies perfekt gezupfte Augenbrauen hoben. „Ich bin vierzig geworden, falls du das noch nicht bemerkt hast. Da ist man vernünftig oder versucht es wenigstens“, sagte Vivian und begann mit der freien Hand, die Kostüme von den Kinderschuhen zu trennen. Als sie mit den bloßen Füßen auf einen Legostein trat, biss sie die Zähne zusammen, um nicht aufzuschreien. „Mit vierzig waren Frauen früher tot!“, fügte sie grimmig hinzu. „Mein Gott, wie bist du denn drauf?“, fragte Sofie. „Ich bin todmüde, weil Tom die ganze Nacht gehustet hat.“ Wütend kickte sie mit dem Fuß gegen die Verkleidekiste. Die Kiste fiel um, und noch mehr Pistolen, Clownsnasen und Kleidungsstücke fielen heraus. Don Johnson biss ihr in den nackten Fuß. „Ich würde dich auch nicht alleine lassen“, maulte Sofie. Du hast ja auch keine Kinder, dachte Vivian und eilte in den Wäschekeller, wo das Katzenfutter lagerte. Als es dunkel blieb, obwohl sie auf den Lichtschalter drückte, fiel ihr ein, dass sie die Glühbirne hatte auswechseln wollen. Mit dem Schienbein rempelte sie gegen eine Klappliege, die an den Wäscheständer stieß, der mitsamt Wäsche zusammenbrach. Wie ein Stromschlag zischte der Schmerz durch ihr Bein und wölbte sich auf dem Knochen zu einer kleinen Beule. Vivian schluckte die Tränen hinunter, während der Kater eifrig zu knurpsen begann, und stieg mit Sofie am Ohr die Treppe wieder hoch. Suchend spähte sie in den Küchenschrank, doch da war keine Glühbirne. Dann musste die Wäsche eben warten. „Mein Gott, bist du langweilig geworden. Früher hatten wir doch immer Spaß“, unternahm ihre Freundin einen neuen Versuch. Früher war lange, bevor mit Kind Nummer drei das endgültige Chaos ausgebrochen war. Als sie noch einen festen Job hatte und ihr Chef noch nicht mit einem Blick auf ihren dicken Bauch gesagt hatte: „Tut uns leid, Frau Sammer, aber Sie können nun wirklich nicht eine tolle, junge Mutti und eine tolle, junge Journalistin sein.“ „Ich bin eben alt, na und?“, sagte Vivian und zog wütend ihre Jeanshose über die Speckrollen hoch, die sich dort breitmachten, wo eigentlich eine Taille hätte sitzen sollen. War Speck der Preis, den man zahlte, wenn man vierzig geworden war und seinen Arbeitstag in der Nähe des Kühlschranks verbrachte? Als ihr ein gemusterter Stofffetzen in die Hände fiel, stutzte sie. Wie eine warme Dusche durchrieselte sie die Erinnerung, als sie mit den Fingerspitzen über das Löwenfell streichelte. Aaron hatte es getragen, ihr Karnevalsflirt vor fünf Jahren. Als die Kneipe geschlossen und der Türsteher die letzten Jecken auf die Straße gefegt hatte, waren sie und Sofie bei Aaron auf einem schwarzen Ledersofa gelandet. Natürlich war Vivian schon damals verheiratet gewesen, und sie hatte Sofie die Chance nicht vermasseln wollen. Sofie bekam es mit keinem ihrer vielen Verehrer hin, weil sie an allen etwas auszusetzen fand. Deshalb hatte Vivian diesen göttlichen Mann nur ein bisschen angehimmelt und beim Tanzen traumhaft definierte Muskeln unter seiner samtglatten Haut gespürt. „Also überleg’s dir. Ich muss mich jetzt umziehen, sonst komme ich nicht mehr rein.“ Das Telefon klickte, und Vivian hockte mitten im Wohnzimmer und starrte abwechselnd das Stück Stoff und die Terrasse an, auf der es zu dämmern begann. Ein Rotkehlchen pickte von dem Vogelfutter, das Vivian ausgestreut hatte, obwohl ihre Schwiegermutter immer sagte, das sähe so unordentlich aus. Aus Aaron und Sofie war damals nichts geworden. Sie hatte ganz umsonst verzichtet. Wütend über die vor vielen Jahren verpasste Chance pfefferte sie das Stoffstück in die Kiste. Und was war, wenn er genau heute Abend da wäre? Wenn Sofie später erzählen würde: „Ach, übrigens, ich hab Aaron getroffen?“ Wie zum Hohn dudelte im Radio ein Schlager von damals: „Nur nicht aus Liebe weinen, es gibt im Leben nicht nur den Einen.“ Leise summte sie den Refrain mit. Und wenn heute Abend etwas ganz Tolles passieren würde? Nicht, dass sie kein schönes Leben hatte. Andere hätten davon geträumt, einen Mann, ein Haus, drei wundervolle Kinder, einen Kater und Millionen von Gegenständen zu haben, die nie dort waren, wo man sie suchte. Andere hätten sich auch gefreut, kleine Aufträge für Pressetexte zu bekommen. Doch Vivian wurde das Gefühl nicht los, bei ihrer Lebensplanung versagt zu haben. Die Musik im Radio erstarb und der Nachrichtensprecher meldete drei Kilometer Stau auf der A57 in beide Richtungen. „Die Autobahnbrücke ist wegen eines Brandes nach einem Unfall akut einsturzgefährdet. Es wird darum gebeten, die Unfallstelle weiträumig zu meiden. Es ist 17.30 Uhr, wir wünschen allen Jecken eine gute und sichere Fahrt!“ Vivians Mann Felix war auf dieser Autobahn nach Köln gefahren, aber inzwischen musste er schon längst in Köln bei seinem coolen Freund Tobias angekommen sein, in dessen piekfeiner Singlewohnung garantiert nicht mal eine einzelne Socke herumlag. Sie wusste, dass ihr Mann seinen kinderlosen Freund beneidete. Um die viele Zeit, die er hatte, um im Fitnessstudio seinen Body zu stählen, und um seine ständig wechselnden Bekanntschaften, denen er an seiner Hausbar Cocktails mixte. Ob auch Felix mit jemandem flirten würde? Und wenn schon. Die Zeiten, in denen sie der Gedanke eifersüchtig gemacht hätte, waren ebenso lange vorbei wie das letzte romantische Dinner oder ähnlicher Quark. Vermutlich sollte sie sogar froh sein, wenn Felix mit jemand anderem anbandelte – dann musste sie wenigstens kein schlechtes Gewissen haben, wenn Felix sie mal wieder fragte, warum sie sich denn im Bett, bitte sehr, nicht einfach mehr gehen ließe. Oder wenigstens ein bisschen lasziv guckte. Das Musikgedudel schwoll wieder an: „Nur nicht aus Liebe weinen …“. War es die Nachricht von dem Unfall, die in ihrem Kopf einen winzigen Schalter umgelegt hatte? Oder das Löwenfell? Was auch immer es war, dieses Etwas forderte ganz eindeutig, dass sie heute Abend ausgehen sollte, Aufräumen hin oder her. Vivian sah auf die Uhr. Wenn sie sich furchtbar beeilte, würde sie die S-Bahn um 17:54 Uhr noch erreichen. Das gab den Ausschlag. Sie hatte sich zwar kein Kostüm besorgt, aber zur Not konnte sie als Clown gehen. Clown war so ungefähr die unsexyste Verkleidung, die man sich vorstellen konnte, aber das war jetzt auch egal. Sie klaubte blau geringelte Socken und ein rot-weiß gestreiftes T-Shirt aus der Kiste. Dann lief sie ins Schlafzimmer und öffnete den wackligen Ikea-Schrank, um sich von Felix Schuhe auszuleihen. Es klapperte und nacheinander fielen eine Tube Gleitgel, ein Massagestab für Männer und Felix’ Kamm heraus. Den benutzte er, um seine oben schütter werdenden Haare nach hinten zu streichen. Sie nahm ein Paar rote Freizeitschuhe heraus und warf die Utensilien zurück in den Schrank. Mit einem geübten Rundumblick vergewisserte sie sich, dass keine Fenster oder Terrassentüren mehr offen standen, und schaltete das Radio aus. Dann schlug sie die Tür hinter sich zu und schwang sich auf ihr klappriges Fahrrad, um die S-Bahn zum Hauptbahnhof zu erwischen.   2ANKUNFT DER GÖTTER „Nach oben lenken“, kreischte das Eheweib mit schriller Stimme, und ihr Gatte tat, wie ihm geheißen. Doch die altertümliche Cabriolimousine trudelte wie ein schlecht gebauter Papierflieger um die eigene Achse und landete krachend im Wipfel einer Pappel. Dio, der mit seinem seidenen Reisekissen auf der gepolsterten Rückbank saß, schrak auf, als links und rechts die Zweige über ihm zusammenschlugen. Mehrere Zweige gaben knirschend nach und das schwere Gefährt rutschte eine Astreihe tiefer, als die Gattin erneut schrie: „Klettert raus, bevor es explodiert!“ „Mein Auto explodiert nicht“, erwiderte ihr Gatte, doch sie schob ihn einfach nach draußen. Dio überlegte sorgenvoll, ob wirklich eine Gefahr bestand oder ob er sitzen bleiben konnte. Aber sicher war sicher und außerdem musste er dafür sorgen, dass sie ihr geheimes Ziel erreichten. Also raffte auch er seine neue zitronengelbe Reisetunika hoch und hievte seinen Bauch über das Fenstersims nach draußen. Da standen sie nun. Auf dem Ast einer Pappel. Im kalten Februarwind und Nieselregen in Deutschland. Zeus, griechischer Chefgott und in offizieller Mission des Götterrats unterwegs, Hera, seine Gemahlin, und Dio, der Weingott mit den kurzen Beinen, in der Antike als Dionysos verehrt. Einst stolze Bewohner des Olymps und zahlreicher vornehmer Tempelanlagen. Jetzt abgehalfterte Gesandte eines zerstrittenen Gremiums von Unsterblichen, die froh sein konnten, in einer Athener Seniorenresidenz Zuflucht gefunden zu haben, nachdem die griechische Regierung begonnen hatte, ihre Tempel und Inseln an Investoren zu verscherbeln. Dio warf einen Blick zur Seite. Das schicke Auto hatten sie nur bekommen, weil die klamme griechische Regierung sogar ihre Ministerkarossen verkauft hatte, woraufhin Hermes, der Götterbote und Gott der Diebe, einige Fahrzeuge beiseitegeschafft hatte. Unter ihnen fiel eine bräunliche Böschung zu einem Weg zwischen kahlen Feldern ab, der sich nach beiden Richtungen im Dämmerlicht verlor. Er drehte den Kopf zur anderen Seite, wo der Obergott stand. Seine gerunzelten Brauen schienen deutlich zu sagen, dass ihm die Lage gar nicht behagte. Das war kein Wunder. Das weiße Gewand, das der alte Mann mit einer korinthischen Goldspange an den Schultern zusammengerafft hatte, flatterte unwürdig im Wind wie ein Stück Wäsche auf der Leine. Und die Lederriemen seiner vornehmen kalbsledernen Sandalen hatten sich beim Herausklettern gelöst. Sollte er Zeus anbieten, die Bänder zuzubinden? Dio entschied sich dagegen. Der Herr des Olymps war cholerisch - genau wie sein Eheweib. Und er reagierte allergisch, wenn er den Eindruck bekam, man wollte ihn bevormunden. Zeus hob die Hand, und seine Waffe blitzte auf - der goldene Blitz- und Wetterstab, ein seit der Antike gefürchtetes Symbol seiner Herrschaft. Mit dem Furchteinflößen war es allerdings nicht mehr weit her. Dio wusste, dass der rund 30 Zentimeter lange gezackte Stab Probleme mit der Zündung hatte. Er beobachtete, wie Zeus den Wettermacher mehrmals prüfend drehte und schüttelte. Der Wind frischte auf und unvermittelt löste sich zischend ein Blitz aus dem Stab. Er raste wie eine Silvesterrakete in die neblige Dämmerung. Ein gedämpfter Knall ertönte und irgendwo flackerte kurz ein Licht auf. Ein paar Krähen flatterten kreischend davon und stoben in den düsteren Nachmittagshimmel. „Kannst du nicht aufpassen? Wärst du ein Mensch, hätte man dir längst den Waffenschein weggenommen“, zeterte Hera. Zeus war seit gut 4.000 Jahren mit ihr verheiratet. Ihr magentafarbenes Gewand flimmerte in den Augen, wenn man länger hinsah. Die Göttermutter liebte kräftige Farben. Das passte zu ihrem dunkelroten Haar. Und es entsprach zu hundert Prozent ihrem Temperament. Ins Gesicht hätte Dio es ihr nicht zu sagen gewagt, aber Tatsache war, sie war aufbrausend und schrecklich eifersüchtig. Sogar jetzt, wo sie nach Deutschland gekommen war, hätte sie ihren Gatten vermutlich am liebsten Tag und Nacht bewacht. Auch das wusste Dio. Es zischelte, und schneller, als man gucken konnte, glitten zwei purpurfarbene Pythonschlangen aus dem Cabrio und wanden sich um die Füße der Göttermutter. Die beiden Schlangen waren Heras Leibwächter und dienten ihr als Sitzgelegenheit. Oder als Gehhilfe. Auch wenn sie das niemals zugegeben hätte. Zeus grollte wie eine Gewitterwolke und die Cabriolimousine knirschte in den Ästen. „Vorsicht“, brummte er und richtete einen Blick auf den Nachbarast, der genügt hätte, Wasser gefrieren zu lassen. Doch Hera schien nicht im Geringsten beeindruckt. Dafür schepperte es in der Entfernung, als hätte jemand einen gigantischen Stapel Töpfe auf den Küchenboden geworfen. Heras rote Mähne wehte, als sie den Kopf wandte. „Jetzt hast du auch noch einen Unfall produziert. Der Götterrat wird entzückt sein“, sagte sie und zeigte geradeaus. Zeus und Dio drehten den Kopf in die Richtung, in die Heras Arm wies. Einen Steinwurf von der mächtigen Pappel entfernt leuchtete das Feuer, und jetzt roch Dio auch den Qualm. „Ich brauche Licht, um die Dunkelheit zu vertreiben“, grummelte Zeus. Er hob seinen Stab in die Höhe und sandte einen Blitz in die Wolken, der hell genug war, ein ganzes Fußballstadion in Tageslicht zu tauchen. Für einen Sekundenbruchteil war die Umgebung deutlich zu sehen. Ihre Pappel war die größte einer ganzen Allee, die direkt zu einer flachen Autobahnbrücke führte und in eine Unterführung mündete. Nur ein schmales Fahrzeug hätte hier durchfahren können. Doch jetzt war der Weg versperrt. An der Stelle, wo die Unterführung begann, loderten Flammen. Darüber stieg eine gewaltige schwarze Qualmwolke auf und hüllte die Autobahn ein. Sirenengeheul wurde lauter und zuckende Blaulichter spiegelten sich in dem zerbeulten Metall mehrerer ineinandergeschobener Autos. „Da ist offenbar ein Unfall passiert, da muss ich helfen“, bemerkte Zeus mit krampfhaft zusammengekniffenen Augen. Er hob seinen Stab und ein mächtiger Regenguss prasselte auf das Chaos nieder. Zischend stiegen Dampfwolken empor, und es roch nach Gummi und Teer, doch die grüngelben Flammen in der Unterführung flackerten munter weiter. Plötzlich drehte der Wind, und mit einem Mal ging ein kräftiger Guss auf die drei Reisenden in der Pappel nieder. Hera versuchte, Zeus den Blitzstab aus der Hand zu reißen, während ihre Schlangen blitzschnell den Stamm hochglitten und mit ihren Leibern eine Art Regenverdeck über ihr bildeten. Dio zuckte zusammen. Sein feines Reisekissen wurde nass. Und die neue Reisetasche aus Ziegenleder. Verzweifelt bemühte er sich, das Faltdach wieder über den Wagen zu ziehen, um wenigstens die Rückbank zu schützen, doch es war zu spät. Zeus’ Regenschauer hatte das Innere des Wagens so gründlich eingeweicht wie ein Vollbad. Hoffentlich fuhr der Wagen noch. Und hoffentlich war das Navi immer noch auf Düsseldorf eingestellt. Anders als Zeus und Hera glaubten, lenkte ihre Programmierung sie nicht nach Berlin, sondern nach Düsseldorf. Dafür hatte Hermes, der den Fuhrpark der Götter beaufsichtigte, gesorgt, nachdem Dio ihn darum gebeten hatte. Wäre Zeus nicht am Steuer eingenickt und wäre sein Kopf nicht auf irgendeinen Hebel gesunken, wären sie längst in dem Hotel in Düsseldorf, das Dio gebucht hatte. Von dort aus könnte er einem sehr alten Freund helfen, was zwar nichts mit ihrer offiziellen Reise zu tun hatte, ihm aber sehr am Herzen lag. Ein krächzendes Geräusch aus dem Lautsprecher am Armaturenbrett erweckte seine Aufmerksamkeit. Er kletterte schnaufend zurück ins Auto und auf den Fahrersitz und beugte sich nach vorn. „Allet klar bei euch?“, meldete sich Hermes’ verzerrt klingende Stimme. Auf dem kleinen Bildschirm erschien ein freundliches, zerknittertes Gesicht unter einer Schiebermütze. Links und rechts über den abstehenden Ohren flatterten zwei zerrupfte Flügelchen. „Leider nein, alles läuft schief“, sagte Dio und fühlte, wie die Nässe von der Sitzfläche in seine Kleidung kroch. „Zeus hat das Auto in den Baum gefahren.“ „Na, dit habt ihr ja jut hinjekriegt. Wofür hab icke euch son schniekes Jefährt besorjt? Fährt denn die Karre noch?“ Das Gesicht im Bildschirm putzte sich kräftig die Nase. „Woher soll ich das wissen?“, fragte Dio und überlegte, ob die weiche Lederbespannung des Lenkrads und die seitlich daraus hervorwachsenden Hörner von einem Satyr stammten. Möglich war alles, seit diese Investoren sogar seine Lieblingsinsel gekauft hatten, wo für Menschenaugen unsichtbar seine Nymphen und ziegenbeinigen Satyrn hausten. „Drück mal son jrünen Knopf“, wies ihn Hermes an und zeigte mit dem Daumen über seine magere Schulter in Richtung Lenkrad. Dio fand einen grün blinkenden Knopf und drückte gehorsam. Anstelle von Hermes’ Gesicht ratterten Zahlen und Zeichenkolonnen über den Bildschirm. „System startklar“, meldete der Bildschirm nach einigen Sekunden, und Hermes’ Gesicht erschien wieder. „Dat sieht jut aus, ihr könnt starten. Aber lasst den Alten nicht mehr ans Steuer!“ Er hob zwei Finger grüßend zur Mütze und sein Bild verschwand. Die Straßenkarte wurde wieder sichtbar und eine quäkende Stimme sagte: „Noch 20 Kilometer bis Düsseldorf.“ Dio dachte an eine heiße Sauna und ein Gläschen Sekt, doch Heras Kreischen vertrieb die angenehme Vorstellung. „Düsseldorf? Wir müssen nach Berlin! Und zwar so schnell, wie diese Kiste fährt. Oder sollen wir warten, bis auch die letzten Tempel zu Golfplätzen umfunktioniert worden sind? Los, los!“ Der Göttermutter ließ ihre Schlangen auf die Sitze gleiten und winkte Zeus, dass er hinten Platz nehmen solle. Offenbar hatte Zeus ein schlechtes Gewissen, denn er setzte sich widerspruchslos auf die nasse Rückbank und fuhr damit fort, seinen Blitzstab zu untersuchen. Dio biss sich auf die Lippen. Jetzt musste er Farbe bekennen, warum sie hier waren und nicht in Berlin. Verdammt, es wäre so einfach gewesen, dem Götterpaar seinen Plan zu gestehen, wenn sie direkt am bequemen Hotel gelandet wären und nicht in diesem Baum. Aber jetzt half alles nichts. Er nahm allen Mut zusammen, den er finden konnte, und guckte Hera in die nachtschwarzen Augen. „Es ist wegen Herk. Er wohnt gerade in Düsseldorf und ich will ihn treffen.“ Ein Blitz, der sich versehentlich von Zeus’ Stab gelöst hatte, fuhr krachend in den Wipfel der Pappel. Die Krähen, die irrtümlich angenommen hatten, der Baum sei wieder sicher, stoben erneut krächzend auf, und das Cabrio rutschte knirschend einen Ast tiefer. Doch das war nichts gegen Heras kalte Wut. „Herakles? Dieser verdammte Bastard?“, presste sie hervor. „Und wozu willst du ihn treffen, zum Saufen oder was?“ Dio seufzte. Herakles, kurz Herk genannt, war eines der vielen außerehelich gezeugten Kinder von Zeus. Hera hasste ihn für jedes einzelne, doch Herk war ihr ein besonderer Dorn im Auge, da es ihr nicht gelungen war, ihn vor knapp 4.000 Jahren um die Ecke zu bringen. Noch nicht einmal die zwölf Challenges, später auch Herkulesaufgaben genannt, hatten vermocht, ihn zu töten. Dafür hatte Dio gesorgt. Und er hatte etwas getan, das in den Augen Heras noch viel schlimmer war. Er hatte ihr das Baby an die Brust gelegt, wo der kleine Herk sofort wie ein Wilder zu nuckeln begonnen hatte. Als Hera bemerkte, wen man ihr untergeschoben hatte, hatte sie den ganzen Olymp zusammengebrüllt, aber es war zu spät gewesen. Die wenigen Schlucke ihrer göttlichen Milch hatten genügt, um dem Halbgott Herakles die Kraft eines Titanen zu verleihen. Auf Zeus hatte die Erwähnung Herks eine ganz andere Wirkung. Er lehnte sich an die Rücklehne und breitete die Arme aus, die vielen Furchen seines Gesichts zu einem breiten Lächeln verzogen. „Herakles, natürlich! An ihn habe ich gar nicht mehr gedacht, er wird uns helfen. Mit ihm wird es uns gelingen, unsere Tempel und Insel den Spekulanten wieder zu entreißen.“ Seine Stimme begann zu dröhnen, wie immer, wenn ihn die Rührung übermannte „Ich habe eine Vision“, fuhr der alte Obergott fort, und seine lockige graue Mähne wehte im Wind. „Mit Herk wird es gelingen, die Politeia dem Volk zurückzugeben. Im aufs Neue vereinten Europa. Nicht die Armen hier und die Hochfinanz dort, sondern alle vereint und mit gleichen Rechten im Garten meiner Prinzessin Europa. Lasst uns zu Herk fahren und ihm seine Berufung verkünden.“ Hera starrte ihn an, als habe er den Verstand verloren. „Alter, komm runter. Die goldenen Zeiten der Götter sind vorbei. Von unserer Magie ist fast nichts mehr übrig. Du machst dich lächerlich mit deiner Rettungsaktion. Sieh lieber zu, wie du dieses Feuer gelöscht kriegst.“ Durch den Nebel waren gelblichgrüne Flammen zu erkennen. Auf der Autobahn und rund um die Brücke wieselte eine Gruppe uniformierter Gestalten, die das Gelände mit einem weiß-roten Band absperrte und die Autos zur Seite winkte, bis schließlich kein Wagen mehr auf diesem Straßenabschnitt stand. „Jetzt begreife ich das Phänomen“, murmelte Zeus. „Der Brand lodert unter der Brücke, deshalb vermögen meine Regenfluten nichts auszurichten. Aber das haben wir gleich.“ Er kurbelte das Seitenfenster runter und streckte den Blitzstab hinaus. „Schluss mit dem Feuer“, sagte er. Es zischte und knallte unter der Brücke. Funken stoben auf, es krachte und die Flammen erstarben. Quer über die rechte Fahrspur zog sich ein Riss. „Das hätten wir“, sagte Zeus und zog zufrieden die Hand zurück. „Gemeinsam werden wir jetzt um den Helden uns kümmern.“ Dio räusperte sich. „Das mit Herk wird schwierig. Dein Sohn hat sich gerade als Mensch reinkarniert und hat bestimmt anderes zu tun, als für dich den Superhelden zu spielen, Zeus.“ Er überlegte, welchen Knopf er drücken sollte, als eine blinkende Schrift auf dem Bildschirm erschien: „Nebelmaschine anwerfen!“ Verflixt, das Cabrio brauchte ja Tarnung. Das hatte ihm Hermes eingeschärft. Ohne Tarnung würden die Menschen Ufo-Alarm schlagen, wenn die Limousine durch die Luft flog, und das konnte er jetzt nicht gebrauchen. Ein violetter Knopf mitten auf dem Lenkrad blinkte einladend und Dio drückte ihn. Der Wagen machte einen Satz nach vorne und das Motorengeräusch erstarb. „Kümmern?“, sagte Hera mit vor Hohn triefender Stimme. „Du meinst wohl, du hättest ihn besser gar nicht erst zeugen sollen. Mit dieser Schlampe!“ „Schweige, Weib, ich rede mit ihm“, sagte Zeus. „Nein, das mach ich lieber alleine“, sagte Dio und drückte hektisch einen anderen Knopf, in der Hoffnung, dass es diesmal klappen würde. „In Düsseldorf ist Karneval, ich gehe mit ihm feiern. Ihr könnt einfach nach Berlin weiterfahren.“ Hera fuhr auf wie eine Furie. „Karneval feiern? Wenn überhaupt, dann in Köln und nicht in Düsseldorf, das weiß doch jedes Kind! Aber jetzt ist Feiern das Letzte, woran wir denken können. Es wird schon schwierig genug werden, die Minister dazu zu bringen, Gelder für den Rückkauf unserer Inseln freizugeben, bevor die Unionsmitglieder sich restlos zerstreiten. Da zählt jede Minute.“ Im Rückspiegel sah Dio, wie Zeus die buschigen Augenbrauen zusammenzog. Er wurde von seiner eifersüchtigen Gemahlin bewacht wie ein Gefangener im Hochsicherheitstrakt. Witterte er womöglich den Duft der Freiheit? Eine Chance, sich in Düsseldorf eine Auszeit von Hera zu nehmen? Es schien, als hätte er genau richtig vermutet. Unvermittelt brach Zeus in lautes Stöhnen aus. „Mein Ischiasnerv!“, jammerte er. „Ich muss ihn mir eingeklemmt haben, als wir mit dem Eukalyptusbaum kollidiert sind.“ Hera schnaubte. „Du spielst Theater, mein Bester. Wenn du deine Gymnastikübungen machen würdest, hättest du diese Probleme nicht. Außerdem ist dieser Baum hier eine Pappel. Und du, Dio …“, sie tippte ans Lenkrad, „musst den Startknopf drücken und die Steuerhörner nach oben ziehen, sonst kommen wir hier nie raus. Oder lass einfach mich ans Steuer“, fügte sie seufzend hinzu. Dio rutschte auf den Beifahrersitz und beobachtete erleichtert, wie sich das Faltdach über ihre Köpfe schob, während ein sattes Motorengeräusch die Karosserie vibrieren ließ. Langsam erhob sich das Gefährt an den schabenden Ästen vorbei, gleich würden sie die glitzernde Stadt von oben sehen. „Du herzloses Weib, mach du lieber deine Übungen“, grummelte Zeus von der Rückbank. „Dann musst du mir nix vorheulen, dass du nicht mehr in deine Kostüme passt! Und das lass dir gesagt sein: Ich brauche Ölbäder und ein Gymnasion, bevor ich nach Berlin fahre und dort in Symposien sitze. Ich habe entschieden: Du fährst nach Berlin und wir fahren zu Herakles.“ „Das ist eine gute Idee, mein Schatz“, sagte Hera in einem Tonfall, als lobe sie einen Erstklässler für seine Entscheidung, künftig den Schulweg alleine zu meistern, und drückte einen weiteren Schalter. Sofort stieg Dampf rings um den Wagen auf. Der eben noch dunkle Himmel färbte sich milchig weiß. Die Limousine gewann an Höhe. Die blinkenden Fahrzeuge und Menschen wurden kleiner und verschmolzen schließlich mit der Dunkelheit. Dio linste durch die Scheibe nach unten und überlegte, ob die verschwommen zu erkennenden Lichter schon zu Düsseldorf gehörten.   3FELIX’ UNFALL Hätte er geahnt, dass der heftige Regenguss, der in Höhe von Neuss über der A57 niederprasselte, göttlichen Ursprungs war, hätte er den alten Peugeot-Kombi auf den Seitenstreifen gelenkt und in Ruhe abgewartet. Er sah fast nichts. Stattdessen gab er Gas und hielt das Lenkrad so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Eile war angesagt, denn mit jeder Minute wuchs die Warteschlange vor der Kölner Kneipe, wo sein Freund Tobias auf ihn wartete. Bald würde keine Macht der Welt den Türsteher dazu bringen, ihn vorbeizulassen, damit er sich noch in das Asterix hineinquetschen konnte. Die Autobahn war voll. Offenbar wollten viele noch nach Köln. Vor seinem inneren Auge räkelte sich die Brünette, die er kurz vor der Abfahrt noch an seinem Computer betrachtet hatte. Der Film aus seinem neuen Abo „Blowjobgalore“ hatte ihn derart gefesselt, dass er die Zeit vergessen und Tom und Emily zu spät zu seinen Eltern gebracht hatte. Zum Glück wusste Vivian nichts von diesem Video-Abonnement. Sonst hätte sie ihm bestimmt einen Vortrag gehalten, wie frauenverachtend solche Filme seien. Im Prinzip gab er ihr ja recht, und er liebte Vivian. Er fand sie auch nach 15 Jahren Ehe immer noch anziehend – wenn sie denn mal in einer ruhigen Minute zusammenkamen. Aber das geschah wegen ihrer beider Arbeit und ihren drei Kindern leider viel zu selten. Daher das Film-Abo. Beim Gedanken an die Brünette fühlte er, wie seine Hose eng wurde. Er sollte aufpassen, die Fahrbahn war nass. Oder sollte er an den Rand fahren und sich Erleichterung verschaffen? Und vielleicht etwas trinken? Zu allem Überfluss hatte seine Mutter ihn auch noch genötigt, Krapfen zu essen. Das fettige Karnevalsgebäck verursachte ihm Sodbrennen, und seine schwarze Afroperücke juckte am Kopf. Wie jedes Jahr an Karneval hatte sie die lila Lockenperücke getragen, als sie vor ihrem mit Blumenkübeln geschmückten Bungalow gestanden und auf ihn und die Kinder gewartet hatte. Sogar der Außenspiegel vom Mercedes seines Vaters hatte eine Girlande abbekommen. Sie hatte sehr bedauert, dass Vivian nicht mitgekommen war, um mit ihnen im Fernsehen die Prunksendung anzugucken, aber als sein Vater erklärt hatte, „dat dat Mädsche selber feiern wollte“, da hatte sie verständnisvoll genickt. Seine Eltern mochten Vivian. Besonders, da sie ihnen drei entzückende Enkelkinder geschenkt hatte, von denen Mika, der Älteste, Karneval bei einem Freund verbrachte. Sie fanden nur, dass sie ein bisschen zu viel arbeitete. „Dat wäre doch nit nötisch, du verdienst doch genuch Geld als Unternehmensberater“, sagte sein Vater immer. Felix nickte meistens und dachte dann, dass er wahrscheinlich nicht so oft aufräumen und Kinder umherkutschieren müsste, wenn Vivian weniger von diesen Aufträgen abarbeiten würde. Aber womöglich wäre sie dann noch unzufriedener oder würde irgendein doofes Hobby anfangen. So wie seine Mutter, die alles bestickte, bestrickte oder behäkelte, was nicht rechtzeitig die Flucht ergriff. Er schauderte beim Gedanken an eine strickende Vivian. Dann hätten sie gar keinen Sex mehr. Dessen war er sich sicher. Obwohl er ausdrücklich gesagt hatte, dass er es eilig habe und zu spät komme, hatte seine Mutter ihn in das mit perfekt arrangierten Nippesfiguren vollgestopfte Wohnzimmer gebeten und ihn genötigt, ihre bei Bofrost georderten Karnevalskrapfen zu probieren. Die wären doch so besonders saftig. Das war typisch gewesen, dass sie seinen Einwand nicht beachtet hatte. Dabei wusste er es eigentlich immer besser, aber auf ihn hörte nie jemand. Also hatte er Tom zugeschaut, der auf den Opa zugerannt und ihm in die Arme gehüpft war. Ihm war es warm ums Herz geworden, als er seinen Jüngsten betrachtet hatte. Er trug rote Piratenhosen, und Vivian hatte ihm ein rotes Tuch um den runden Kopf geschlungen und einen schwarzen Schnurrbart gemalt. „Ich bin als Pirat verkleidet, und was bist du, Opa?“, fragte der knapp Vierjährige. Felix’ Papa erklärte, dass er sich als Seemann kostümiert habe, was eine Ausrede war, denn er trug seine gewohnte graue Bügelfaltenhose mit dem blauen Hemd, und die kleine Holzpfeife hing das ganze Jahr über in seinem Mundwinkel. Emily, seine stämmige Achtjährige, trug ihr lila Feenkleid, das schon ziemlich knapp saß, das sie aber über alles liebte. Sie hatte seine Mama umarmt und gefragt, ob sie am nächsten Tag wieder zum Kinderschminken in das große Hotel gehen würden. Und Felix hatte es endlich geschafft, sich zu verabschieden. Ihm war völlig klar, dass Tobias ihn in solchen Situationen mitleidig angucken und fragen würde, ob ihn das ganze „Family-Gedöns“ nicht doch ein bisschen zu sehr beanspruchte. Wütend trat er aufs Gaspedal und wünschte sich, der Motor würde ein bisschen satter aufheulen. Hätte er einen A6 gehabt wie Tobias, hätte es erheblich stolzer unter der Motorhaube gebrummt. Aber als Familienvater fuhr man Peugeot und holte sich am PC einen runter, wenn Frau und Kinder schliefen. Und am nächsten Tag lächelte man und ging wieder zur Arbeit. „Du bist schon gut darin, dir Scheiße für Nusskuchen zu verkaufen“, hatte Tobias neulich zu ihm gesagt. Er hatte abgewehrt. „Ich mag meine Kinder und meine Frau und das ist alles okay so. Krieg du erst mal selber Kinder, dann weißt du, wovon ich rede.“ Tobias hatte eingeräumt, dass eigene Kinder vermutlich eine coole Erfahrung seien, und vorgeschlagen, gemeinsam Karneval feiern zu gehen. „Komm pünktlich“, hatte Tobias ihm eingeschärft und er war entschlossen, das zu schaffen. Warum musste gerade jetzt der Regen einsetzen? Er stellte den Scheibenwischer auf die höchste Stufe und zwang den Wagen, in der Spur zu bleiben. Doch die Flut, die gegen die Windschutzscheibe klatschte, war zu mächtig. Die Scheibenwischer wurden ihrer nicht mehr Herr und er ging vom Gas. Plötzlich erhellte ein gigantischer, greller Blitz den Himmel. Rechts wurde ein Feldweg mit großen, alten Bäumen sichtbar. Eichen oder so. Vivian hätte gewusst, wie die hießen, schoss ihm durch den Kopf, als ein krachender Donnerschlag die Karnevalsmusik im Radio übertönte. Es folgte ein neuer Blitz, und vor ihm flammten blendend rote Bremslichter auf. Instinktiv trat er auf die Bremse und riss gleichzeitig das Steuer zur Seite, um auszuweichen, doch vergebens. Die Wasserfläche auf der Straße hob den Peugeot höhnisch glucksend an, die Reifen verloren den Griff auf dem Asphalt, und der Wagen schwang sanft, wie in einer riesigen Hängematte, aus der Spur. Wie durch ein Wunder kam er neben seinem Vordermann zum Stehen. Felix atmete durch, da knallte es in seinem Rücken und wie als Echo schepperte es vor ihm. Er wurde durch den Aufprall nach hinten gerissen und verlor das Bewusstsein. Als er Sekunden später wieder zu sich kam, hätte er schwören können, in dem lauten Brausen um sich herum eine tiefe Frauenstimme und eine dröhnende Männerstimme zu hören. Vorsichtig drehte er seinen Kopf, so weit er konnte, um herauszufinden, woher die Stimme kam, aber er sah nichts. Er saß hinter seinem Lenkrad und soweit er beurteilen konnte, standen die anderen Wagen um ihn herum kreuz und quer. Was für ein Glück, dass er nicht mit ihnen zusammengeprallt war. Wie in Zeitlupe errechnete sein Gehirn, dass er mit ihnen zusammengeprallt war. Vor ihm hatten sich mehrere Wagen ineinander verkeilt, soweit er das in dem schwärzlichen Nebel, der ihn umgab, erkennen konnte. Er stand am hinteren Ende eines ziemlich großen Unfalls und das Brausen tönte nicht nur in seinem Kopf, sondern kam von mehreren Polizei- und Krankenwagen, die sich mit Blaulicht und Sirenengeheul langsam an ihm vorbeischoben. Vom Straßenrand stieg schwarzer Qualm auf, als würde es brennen. Nicht auf der Straße, sondern eher unter der Straße. Er öffnete das Fenster einen Spaltbreit und roch den Gestank von verbranntem Plastik. Er zuckte zusammen, als er ein merkwürdiges Ding auf der Hutablage erblickte. Hatte es sich bewegt? Es schimmerte schwarz und schien ihm direkt in die Augen zu sehen. Er beugte sich so hastig vor, dass ihm ein Stich in den Nacken fuhr und er vor Schmerzen aufschrie. „Alles in Ordnung?“, hörte er eine Stimme. Ein junger Sanitäter im roten Overall hatte die Fahrertüre geöffnet und musterte ihn freundlich. „Können Sie aussteigen?“ Er nickte, aber als er versuchte, aufzustehen, gehorchten seine Beine ihm nicht. Was war das für ein schwarzes Ding? Zögernd streckte er die Hand aus. „Na, kleinen Schock bekommen? Kein Problem“, der Mann griff ihm unter die Arme und zog ihn wie ein Kind hinter dem Lenkrad hervor. Dann hievte er ihn gemeinsam mit einem zweiten Sanitäter in einen Bus, wo der eine ihm einen großen rosa Schal um den Hals legte. „Sie haben einen leichten Schock und vermutlich ein Schleudertrauma. Nicht schön, aber Sie haben echt Glück gehabt, im Gegensatz zu denen da drüben.“ Der Mann wies auf das düstere Gebirge hinter Felix’ Wagen, welcher im Schein der Blaulichter eindrucksvoll leuchtete. Als er genauer hinsah, erkannte er, dass in dem Gebirge ein Lieferwagen und mehrere Autos steckten. Eine Lautsprecherdurchsage ertönte, aber er konnte sie nicht verstehen. Der Sanitäter nickte. Felix mochte ihn, offensichtlich hatte er den Durchblick. „Sie sagen, die Brücke stürzt vielleicht gleich ein, es sollen alle Wagen auf der Brücke wegfahren. Die Polizei vermutet Brandstiftung oder einen Terroranschlag, keine Ahnung. Jedenfalls, die schwarzen Typen da vorne, die sind Polizisten vom SEK.“ Er versuchte erneut, den Kopf zu drehen. Plötzlich war er wieder wach. Tobias arbeitete beim SEK. War der womöglich auch hier? Hastig fühlte er in seiner Hosentasche nach dem Handy. Er hatte eine SMS bekommen, und sie war von Tobias: Hey Alter, vergiss Karneval, Noteinsatz auf der A57, Verdacht Anschlag, fahr vorsichtig! Cheers, T „Geben Sie mir mal Ihren Autoschlüssel“, hörte er einen Polizisten sagen. Er wies zum Auto: „Steckt noch“. Lethargisch sah er zu, wie der Polizist den Schlüssel abzog und an sich nahm. „Sind Sie einverstanden, wenn wir Sie jetzt nach Hause bringen? Hier ist übrigens Ihre Perücke. Wird Ihnen dies Jahr aber nicht mehr viel nützen, fürchte ich.“ Er nahm ergeben das schwarze Puschelding entgegen. Er war auf einmal furchtbar müde. Hoffentlich ist Vivian noch zu Hause, dachte er, bevor er auf seinem Sitz zusammensackte.   4DIOS LISTIGER PLAN Gegen 18 Uhr checkten Dio, Zeus und Hera im Hotel Divino Plaza an der Prachtstraße Kö in Düsseldorf ein. Zeus bestellte sich eine Massage im Wellnessbereich des Hotels, und Hera verabschiedete sich in ihre Suite, wo sie Unterlagen für die bevorstehenden Sitzungen in Berlin durchsehen wollte. „Wenn du uns schon in die Irre führst, kannst du dich auch nützlich machen!“, ermahnte sie Dio. „Ich erwarte, dass du mit Argusaugen auf meinen Gatten aufpasst.“ Dio sah Hera wachsam an, doch als kein weiterer Temperamentsausbruch kam, versprach er es. Dann sah er sich in der Executive Suite um, die der Herr des Olymps und er während der nächsten Tage bewohnen sollten. Er würde einen Personal Trainer für Zeus engagieren, dann ließ der ihn in Ruhe, wenn er sich mit Herk traf, und alles war gut. Auf dem Tisch lag in Schalen Obst, und in mehreren Sektkühlern standen geöffnete Flaschen. Die Säulen und Vasen sind einen Hauch zu kitschig, um wirklich elegant zu sein, fand Dio. „Einen erstklassigen Geschmack haben die hier“, unterbrach Zeus seine Gedanken, bevor er den Raum Richtung Massage-Lounge verließ. Dio, laut Hotelbuchung Sprecher des griechischen Außenministeriums, machte es sich auf zwei zusammengeschobenen Sesseln gemütlich und polierte liebevoll seinen magischen Weinkelch. Auch wenn Hera behauptet hatte, die göttliche Magie sei fast verschwunden, war zumindest sein Kelch noch tipptopp in Ordnung. Und auch wenn Dio in Menschengestalt keine nennenswerten übernatürlichen Fähigkeiten hatte, dieses Gefäß machte alles wett. Ein Trank daraus brachte jeden Menschen in heiter-gelassene bis ekstatische Stimmung oder versetzte ihn schlagartig in einen Vollrausch, je nach Dosierung. Er wählte wieder Herks Handynummer, doch wieder nahm niemand ab. Stirnrunzelnd betrachtete er das abgegriffene Foto von sich und Herk, das er stets bei sich trug. Es zeigte einen großen, athletischen Mann, dessen welliges braunes Haar ihm auf die Schultern fiel, und daneben auf zwei Kisten einen dicken Glatzkopf im Hawaiihemd. Im Hintergrund waren einige vollbusige Gestalten unter Palmen zu sehen, die jedermann für Frauen hielt, der nicht unter ihre kurzen Röcke geguckt hatte. Sorgfältig steckte Dio das Foto zurück in das Fach, in dem er auch immer ein paar Briefmarken aufbewahrte. Zur Sicherheit, denn man wusste ja nie, wann man mal etwas zu verschicken hatte. Vorsichtig strich er eine Marke glatt, auf der ein Mann mit Schere neben einem am Boden liegenden Tier zu sehen war, und legte sie zurück in sein ledernes Handtäschchen. Sollte er sich Sorgen um seinen superstarken Halbbruder machen? Er schüttelte den Kopf, schließlich hatte er Herk schon vor einigen Tagen seinen Besuch angekündigt. Sobald er bemerkt hatte, dass die geplante Ankunft der Götterdelegation in Deutschland mit Karneval zusammenfiel, hatte er beschlossen, der Stadt Düsseldorf einen Besuch abzustatten. Dort wohnte nicht nur Herk, dort wurde auch, wie er von Hermes wusste, ausgiebig gefeiert. „Köln wäre besser, aber wenn Herk in Düsseldorf ist, kannste auch dort Feldforschung betreiben“, hatte der Gott der Reisenden gesagt. Dios Eigenschaft als Weingott brachte es leider mit sich, dass er in ganz Europa als Sachverständiger gerufen wurde, wenn irgendwo ein Massenevent aus dem Ruder gelaufen war. Der Götterrat behandelte ihn, den Weingott, als Spezialisten für Komasaufen und Rauschzustände aller Art. Doch Dio hatte zunehmend Probleme mit seiner Jobbeschreibung. Wenn bei solchen Events überhaupt Wein getrunken wurde, war es billigster Fusel, der seine feine Nase beleidigte. Seine Nase, die jede Rebsorte in ganz Europa erschnuppern konnte! Warum konnten die Menschen nicht gepflegt feiern, ohne sich irgendwann gegenseitig die Köpfe einzuschlagen oder einander totzutrampeln? Oder waren sie nicht mehr so widerstandsfähig wie früher? Das bevorstehende Karnevalsfest würde ihm hierüber hoffentlich ein paar Erkenntnisse bringen. Zum Glück würde Herk ihn begleiten. Dio wünschte sich, er hätte auch noch seine gehörnten Satyrn und Nymphen dabeihaben können. Die waren als Partygäste der absolute Knaller. Aber der Götterrat hatte ihm nicht erlaubt, sie mitzubringen. Nur Zeus und Hera durften zur Rettung der Inseln und Tempelanlagen nach Berlin fahren. Und er, weil sein Wein bei den Abstimmungen für die richtige Atmosphäre sorgen sollte. Langsam könnte sich Herk wirklich mal melden. Es war nicht so, dass er sich schnell Sorgen um Herk machte. Schließlich war der ein Halbgott, wenn auch seit knapp vierzig Jahren in einem verletzlichen Menschenkörper inkarniert. Was auch nichts Ungewöhnliches war. Einige Götter und Halbgötter verbrachten mehr Zeit auf der Erde als im Götterhimmel und machten dort das, wofür sie bestimmt waren: Sie erschufen Göttliches. Die einen komponierten atemberaubende Musik, die anderen brachten göttliche Bauwerke in der Architektur oder Durchbrüche in der Wissenschaft zustande oder brachen Sportrekorde. Andererseits war ein Aufenthalt auf der Erde für Halbgötter ein größeres Risiko als für Götter. Götter konnten sich nach Belieben in Menschen verwandeln, und sie konnten jederzeit wieder zurück, indem sie ihren menschlichen Körper verließen und als Gott weiterlebten; Halbgötter indes waren an ihren Menschenkörper gebunden, sobald sie einmal als Mensch geboren waren. Sie kamen als Babys auf die Welt und waren entsprechend schutzbedürftig. Erst wenn sie dank ihrer göttlichen Taten erneut Unsterblichkeit erlangt hatten, konnten auch sie ihren Menschenkörper verlassen und in den Götterhimmel zurückkehren. Manchmal kam es allerdings vor, dass ein Halbgott schon längst wieder unsterblich geworden war, aber aus purem Spaß am Erdenleben in seinem Menschenkörper blieb. Es gab Halbgötter, die waren Rockmusiker geworden und zogen so viel Vergnügen daraus, vor Leuten aufzutreten, dass sie auf Tour gingen, bis ihr menschlicher Körper zusammenbrach. Manche inszenierten regelrecht dramatische Abgänge. Dio vermutete, dass sie es einfach genossen, auch nach ihrem Tod täglich Tausende von Chatnachrichten oder Zeitungsartikeln über sich zu lesen. Er stellte den auf Hochglanz polierten Kelch vor sich auf dem Couchtisch ab. So ähnlich würde es auch bei Herk sein. Vermutlich war er schon längst wieder unsterblich geworden und blieb nur noch auf der Erde, weil er solchen Spaß daran hatte. Es summte, und Dio griff zu seinem mit Strasssteinen besetzten Lieblingshandy: Der Halbgott und Designer Daidalos, Ikarus‘ Vater und ein großer Handwerker, hatte es entworfen, und Dio liebte es. Er fuhr auf; die Nachricht war von Herk. Stimmung so negativ wie Konto. Bevorzuge neues Hobby: Wand anstarren. Kopfschüttelnd tippte er auf „Antworten“. Du brauchst einen Schluck Wein aus meinem Kelch, dann geht’s dir gleich besser. Zärtlich hielt Dio das goldene Gefäß gegen das Licht und drehte es so, dass die schimmernde Wölbung tausend Lichtpunkte in den Raum zauberte – wie eine Diskokugel. Da klingelte sein Telefon. Endlich war Herk dran. „Herk, bist du’s? Ich versuche seit Stunden, dich zu erreichen.“ „Seit wann bist du so nervös?“, sagte eine verrauchte Stimme. „Verdammt, ich bin nicht nervös, aber wir sollten los. Bist du dabei? Eine Runde um den Block ziehen und sehen, was noch am Start ist?“ „Dio, du olle Tunte, rock die Hütte alleine. Draußen ist Karneval, da sind nur Verrückte unterwegs.“ „Gerade deswegen. Da gibt’s die besten Partys und die heißesten Weiber.“ „Erzähl mir nicht, dass du neuerdings auf Weiber stehst.“ „Nee, aber du“, beharrte Dio. Ein tiefes, dreckiges Lachen erklang. „Du bist der Partykönig, das weißt du. Aber ich liebe mein Bett und sonst niemanden mehr. Nett, dass du an mich gedacht hast. Wir sprechen uns ein anderes Mal, Bruderherz.“ Dio starrte auf das Handy. Das war doch nicht der Herk, den er kannte. Der hätte keine Party ausgelassen. Oder war Herk womöglich zu alt? Verdammt, er vergaß immer wieder, wie schnell die Zeit bei Menschen verging. Zur Sicherheit schaute er auf seiner Kontaktliste nach, wann Herks aktueller Menschengeburtstag war. 26. Mai 1978 stand da, also hatte er sich nicht geirrt. Herk war noch keine vierzig Jahre alt und ihr letztes Treffen kaum zehn Jahre her. Von zu alt konnte keine Rede sein. Was war dann los? Das musste er herausfinden, das war mindestens ebenso wichtig wie das bisschen Feldforschung. Herk war sein Lieblingshalbbruder. Niemand wusste es, aber wenn Dio ihm nicht vor knapp viertausend Jahren beigestanden hätte, die zwölf Herkulesaufgaben zu meistern, wäre Herk schon bei der ersten Challenge gestorben, so wie Hera es gerne gehabt hätte. Doch mithilfe von Dio, damals noch Dionysos genannt, hatte Herk die Aufgaben bravourös gemeistert und war als der starke Held in die Legenden eingegangen, als den alle Welt ihn kannte. Und wann immer Herk wieder einmal als Mensch zur Welt gekommen war, hatte er sich erfolgreich die Unsterblichkeit zurückerobert. Zudem sah Herk in all seinen Reinkarnationen immer sehr gut aus, fand Dio. Was er am meisten liebte, war Herks wundervoll tiefe und männliche Stimme. Das Einzige, was Dio bedrückte, was, dass Herk bei seinen menschlichen Eltern kein gutes Händchen hatte. Mehr als einmal hatte er sich Menscheneltern ausgesucht, die sich als kompletter Reinfall entpuppt hatten. Immer wieder hatte Dio nach ihm gucken müssen, wenn Herks Menscheneltern den kleinen Herk ausgeschimpft oder vernachlässigt hatten. Doch bisher hatte Herk es immer geschafft, trotz der anfänglichen Schwierigkeiten im Menschenleben seine göttlichen Talente zu entwickeln und mit den Theia erga, den göttlichen Taten, wie man sie im Olymp nannte, wieder unsterblich zu werden. Das würde auch diesmal klappen. So wie es aussah, hatte Herk nur etwas Aufmunterung nötig. Dio klappte sein Handy zu. Zum Glück konnte er Herk dank seines Anrufes orten. Der Punkt auf seinem Handystadtplan zeigte ein Gebiet mit großen Grundstücken. Das passte, denn als Star wohnte Herk natürlich in irgendeiner prächtigen Villa. Er nahm einen Schluck Champagner und überlegte. Bei Rausch und Ekstase durfte man nichts dem Zufall überlassen, sonst lief das Ganze aus dem Ruder. Voller Schaudern erinnerte er sich an seinen jüngsten Auftrag vor ein paar Jahren: eine Großveranstaltung ganz in der Nähe von Düsseldorf zu untersuchen. Dort hatten sich Menschen gegenseitig erdrückt, weil sie alle auf einmal in einen Tunnel gelaufen waren. Er sah sich in der weiträumigen Suite um, zufrieden, alleine zu sein. So störte ihn niemand mit dummen oder besserwisserischen Kommentaren. Er beschloss, als Erstes sein Karnevalskostüm anzuziehen und dann mit einem Taxi zu Herk zu fahren. Dort würde er mit ihm einen Schluck Wein trinken und dann würden sie sich gemeinsam zu einer Party kutschieren lassen. Hermes, der sich als Taxifahrer nicht nur in den Polizeifunk, sondern auch in alle anderen Netze hineinhacken konnte, hatte ihm eine Liste aller Partys und Karnevalssitzungen in Düsseldorf gegeben. Überall dort, wo es gut zu werden versprach, hatte er einen Stern hingemalt. Oder zwei. „Sassafras“, entzifferte Dio. Zufrieden betrachtete er wenig später sein Spiegelbild. Es zeigte einen dicken, kleinen Elvis, dessen weißer Anzug sich eng um seinen Bauch schmiegte. Den goldenen Weinlaubkranz, den er für gewöhnlich trug, wenn er nicht auf der Erde war, nahm er ab und berührte seinen kahlen Kopf mit dem Weinkelch. Prompt begann schwarzes welliges Haar, aus der Glatze zu sprießen. Ein paar Haare waren für den Kelch eine Kleinigkeit. Zeus’ Worte gingen ihm durch den Kopf. Herk müsste Europa retten, hatte Zeus gesagt. Wie großartig wäre es, wenn es ihm gelänge, Herk nicht nur in Partystimmung zu bringen, sondern ihn vielleicht sogar zu motivieren, Zeus zu helfen. Wie auch immer die Hilfe aussehen mochte. Ihm, dem dicken kleinen Weingott, traute niemand zu, weiter als bis zur nächsten Party zu denken, aber unterschätzt zu werden, hatte sich auch schon als nützlich erwiesen. Zufrieden nickte er sich zu, als es an der Tür der Suite klopfte. War Zeus schon wieder von seiner Massage zurück und wollte ins Bett gehen? Wenn er einfach einschliefe, wäre es am besten. Dann stellte er wenigstens keine Dummheiten an. Andernfalls begänne er womöglich einen Flirt. Zeus war imstande und bandelte mit dem Zimmermädchen an, so sehr war er auf Entzug, was Frauengeschichten anging. Mit tänzelnden Schritten ging er zur Türe, als diese von selbst aufsprang. Zwei endlos lange Beine in gläsernen High Heels schoben sich ins Zimmer. Dios gutes Gefühl löste sich in Luft auf. Das war nicht Zeus. Herein kam die Person, die er bei seinem Projekt am allerwenigsten dabeihaben wollte: Aphrodite, seine Kusine, die Göttin der Liebe und Schönheit. Sie ging ihm mit ihrer Besserwisserei auf die Nerven, seit er denken konnte. Und dauernd mischte sie sich in seine Projekte ein. Obendrein hatte sie schlechte Manieren und einen geradezu vulgären Kleidergeschmack. Das bonbonrosa Etwas, das wohl ein Kleid darstellen sollte, bedeckte oben knapp die Nippel eines üppigen XXL-Busens, während es unten gerade noch ihr Schambein verhüllte. Genauso hatte sie ausgesehen, als sie ihm vor über dreißig Jahren diesen sexy Schauspieler ausgespannt hatte. Dio hatte ihn schon fast dazu gebracht, Männer attraktiver zu finden als Frauen, da war Aphrodite aufgelaufen, und Dio hatte bei Crocket keine Chance mehr. Oder hieß er Sonny? Dio war sich nicht mehr sicher, zu lange war es her. Missmutig musterte er die Liebesgöttin. Ihr Haupthaar hing schwarz glänzend den Rücken runter, als hätte diese verrückte Soulsängerin, deren Namen er vergessen hatte, mit einem Araberhengst gewetteifert, ihr ihre Haarpracht zu vererben. Das Ärgerlichste an ihrer Erscheinung waren ihre Augen, die beständig die Farbe wechselten. Sie war die Einzige aus der Göttertruppe, die genug Magie besaß, um auch dann immerzu ihre Gestalt zu wechseln, wenn sie in Menschengestalt auf der Erde weilte. „Na, Vetterchen“, sagte sie mit einer tiefen Whiskystimme. „Was sitzt du so melancholisch in deinem Zimmer? Das passt aber nicht zu Karneval.“ Sie schnalzte leise mit der Zunge und blickte sich um. Etwas an ihr bewirkte, dass die Hotelsuite, in der zuvor die Farbe Weiß dominiert hatte – weiße Sofas, dicke weiße Teppiche, weiße Kronleuchter –, auf einmal in einem zarten Rosa schimmerte, ganz so, als spiegelte der Raum ihr Kleid wider. Sogar Dios weißer Elvisanzug schimmerte wie frisches Lachsfleisch. Er stolperte zurück. „Was hast du hier zu suchen?“ „Ich habe mich nach meinem kleinen Vetter Dio gesehnt. Da habe ich den Götterrat bezirzt, dass ich auch herkommen darf. Und dann hat mich Hermes in einem traumhaften rot-weißen Chevrolet hergefahren“, sagte sie, schnappte sich ein Glas vom Tisch und hielt es Dio auffordernd unter die Nase. Stirnrunzelnd füllte er es mit Champagner und sah zu, wie Aphrodite es auf einen Zug hinunterkippte. Von damenhaftem Benehmen hatte seine Kusine noch nie etwas gehalten. „Ich habe Zeus an der Hotelbar getroffen“, sagte Aphrodite im Plauderton. „Er sprach von einem Treffen mit Herk. Da habe ich scharf kombiniert, dass du das eingefädelt hast und vielleicht meine Hilfe brauchen kannst. „Danke, ich komme gut alleine klar“, sagte Dio griesgrämig. Wenn Aphrodite dabei wäre, würde sie all die Lorbeeren einheimsen, falls sich Herk bereiterklärte, Zeus bei seiner Rettungsmission für Europa zu unterstützen. „Aha, und wer hat Zeus aus dem Tritt gebracht, als er gänzlich unbeaufsichtigt mit einer schwarzhaarigen Hotelangestellten flirtete?“ „Du wahrscheinlich“, knurrte Dio. „Genau. Und jetzt erzähl der guten Aphrodite endlich, was du bei Herk willst. Mit ihm feiern gehen? Mit der üblichen Dosis aus dem berühmten Weinkelch des Dionysos?“ Der Weingott fühlte Wut in sich aufsteigen. „Natürlich will ich das, aber er will nicht. Keine Ahnung, warum. Als wir das letzte Mal zusammen um den Block gezogen sind, waren die Groupies kaum zu bändigen.“ „Kein Wunder, er ist ja auch ein Halbgott und unverschämt charmant“, sagte Aphrodite und setzte sich auf die Sofalehne, wo sie sich eine Zigarette rollte. „Andererseits“, fuhr sie fort, während sie einige Krümel aus einem schwarzen Döschen auf den Tabak fallen ließ, „ist er als Mensch wiedergeboren. Er altert also wie ein Mensch. Vielleicht ist er einfach schon zu betagt, um zu feiern?“ Dio schüttelte den Kopf. „Daran habe ich auch schon gedacht, aber er ist erst knapp vierzig. Nicht mehr blutjung, aber viel zu jung, um als Hobby die Wand anzustarren.“ „Das hat er gesagt?“ „Mhm.“ „Puuh, das klingt nach echtem Stimmungstief.“ „Ja. Aber ein paar ordentliche Feiern, und die Psyche kommt wieder ins Lot. Er steckt vielleicht in einer Schaffenskrise. Als wir uns das vorletzte Mal trafen, ist schon fünfzehn Jahre her, war er der Shootingstar seiner Firma, alle Chefs wollten ihn als Nachfolger. Inzwischen sollte er längst Starregisseur sein. Wir könnten nachgucken, was er schon so auf die Beine gestellt hat.“ „Bin schon dabei.“ Aphrodite zückte ihr Handy, tippte darauf herum und runzelte die Stirn. „Herk Pondermann, Producer“, las sie vor. „Ich befürchte, der gute Herk ist in diesem Menschenleben alles andere als ein Star geworden. Ein Starregisseur ist er definitiv nicht. Als Producer ist er Mädchen für alles beim Film. Ein Organisationsmufti, der dafür sorgt, dass nicht mehr Schauspieler eingekauft werden, als der Produzent bezahlen kann. Ist ’n ordentlicher Job, aber Unsterblichkeit dürfte ihm das nicht bringen.“ Dio nahm ebenfalls einen Schluck Champagner und spähte auf Aphrodites Handy, wo Herks Bild aus einer Datenbank lachte. „Das mit dem Producer ist garantiert nur sein Brotjob, die großen Werke macht er privat. Oder er hat irgendwelche Sportrekorde gebrochen. Ich hab das die letzten zehn Jahre nicht richtig verfolgt – die Zeit ist einfach davongerast. Aber unsterblich ist er garantiert schon.“ „Das kann ich bei den Schicksalsgöttinnen erfragen“, sagte Aphrodite und schnipste ihren Zigarettenstummel in den Sektkübel. „Aber das dauert ein bisschen – meine Tanten und ihre Registerbeamten sind nicht die Schnellsten. Bis die sich zurückmelden, ob der Lebensfaden von irgendeinem Halbgott oder Menschen wieder oder erstmalig undurchtrennbar geworden ist, dauert es ein bisschen. Atropos Moire, da ist sie ja. Und jetzt kriegt sie die Nachricht.“ „In jedem Fall fahre ich jetzt zu ihm hin“, sagte Dio. „Mein Wein versetzt ihn in gute Stimmung, und dann löst sich die Krise ganz von selber in Luft auf. Hier, da ist die Adresse.“ Er zeigte Aphrodite den Stadtplan auf seinem Handy. „Ich wüsste ja, was ihn besser wieder auf Trab bringt als Wein“, sagte die Liebesgöttin und nahm einen Zug aus ihrer Tüte, „Frauen. Und nebenbei: Auch wahre Liebe macht unsterblich.“ Dio verzog den Mund. „Weiber kommen bei Herk von ganz von selber. Frag mich bitte nicht, wie viele Mädels beim letzten Mal darum gebettelt haben, eine Nacht mit ihm verbringen dürfen.“ „Groupies meine ich nicht“, sagte Aphrodite. „Ich dachte an eine Frau, in die er sich verlieben kann und die ihn unsterblich zurückliebt.“ „Aha, und wie willst du das hinkriegen?“ „Damit.“ Aphrodite kramte in ihrer lila Handtasche und beförderte einen riesigen Parfümzerstäuber heraus. „Ein Parfüm?“ „Das ist ein natürlicher Pheromonverstärker. Herk inhaliert das Zeug. Und wenn die passende Frau des Weges kommt und genetisch zu ihm passt, paff“ - sie hob locker die Hand – „fliegt sie auf ihn. Sie kommt so lange nicht von ihm weg, bis die beiden sich grün und blau gevögelt haben. Ist hundert Prozent biologisch. Hat nichts mit mythischer Magie zu tun.“ Sie schnupperte genießerisch an dem Zerstäuber. „Hat mir Odysseus gegeben. Wirkt angeblich turbomäßig. Mein Gott, hätte ich das schon früher gehabt! Ich hätte mir Jahrhunderte von grässlichen Liebeszaubern ersparen können. Oder diese ganzen Voodoopuppen. Mir wird schlecht, wenn ich nur daran denke.“ Dio betrachtete die schwarz glänzende Flasche skeptisch. „Und das funktioniert?“ Aphrodite nickte heftig. „Jede Wette, sagt Odysseus. Das Zeug hält sie so lange bei ihm, bis sie zumindest die Chance hatte, ein Kind von ihm zu empfangen.“ Vor Dios innerem Auge erschien ein Ehepaar aus einer Fernsehwerbung, die er mal in einem Hotel gesehen hatte. Die beiden hatten vor einem weißen Haus gestanden, vor dem zwei Kinder auf dem Rasen gespielt hatten. Ein Gedanke formte sich in seinem Kopf. Vielleicht brauchte Herk einfach ein Gegengewicht zu seinem künstlerischen oder sportlichen Schaffen? „Kinder geben einem sehr viel Halt, hab ich mal gehört“, sagte er. Aphrodite räkelte sich auf dem weißen Sofa und grinste. „Und ob sie das tun. Aber vorher rauben sie einem den letzten Nerv. Vor allem, wenn sie nachts zehnmal aufwachen und schreien und die Eltern auf dem Zahnfleisch kriechen, weil sie nicht genug Schlaf bekommen. Aber wenn du das überlebst, kriegst du schon sehr viel Halt von Kindern.“ Dio hörte ihr kaum zu. In seinem inneren Gemälde fuhr ein kleiner blonder Junge auf einem Spielzeugtraktor herum. Wenig später hob dieser Junge stolz einen Tennisschläger. So hatte Herk als Junge ausgesehen, er erinnerte sich genau. Das war es: Herk musste selber Vater werden! Das würde seinem bisher anscheinend eher unsteten Leben Halt geben. Er brauchte nur die richtige Frau zu finden. Vielleicht war es doch nicht so schlecht, dass sich die Liebesgöttin eingeklinkt hatte. Mit ihrer Hilfe würde er die richtige Frau für Herk finden. Mit gerunzelter Stirn sah er zu Aphrodite rüber. „Er muss eine junge Frau finden, damit er mit ihr eine Familie gründen kann“, dachte er laut nach. „Am allerbesten eine Jungfrau. Kann dein Spray das auch?“ Aphrodite zog eine Grimasse. „Das Konzept mit der Jungfrau ist heutzutage völliger Schwachsinn. Das war früher mal wichtig, als die Bauern noch mit ihren Schafen gepoppt und sich dauernd angesteckt haben. Da wollten sie sich nicht auch noch bei ihrer Frau anstecken, die mit anderen gevögelt hatte. Aber die christlichen Kirchen haben das Jungfrauenthema mit Freude übernommen. Weil sie wussten, dass man sexuell unerfahrene Frauen besser beherrschen und unterjochen kann. Aber so eine braucht Herk nicht. Er braucht einfach eine Frau. Je erfahrener, desto besser.“ „Aber eine junge Frau sollte es schon sein“, beharrte Dio, „eine, wo die biologische Uhr noch nicht tickt.“ Die Liebesgöttin schüttelte ihre schwarze Mähne und lachte mit rauer Tabakstimme. „Mach dich locker. Frauen können heutzutage bis ins fünfte Lebensjahrzehnt hinein Kinder kriegen.“ Dio gab es auf, mit Aphrodite über Frauenthemen zu diskutieren, und fragte stattdessen: „Was ist mit Herk? Verliebt der sich denn dann auch? Ich meine, sonst kommt er ja aus seiner Krise nicht raus.“ Aphrodite nickte. „Jawohl, er verliebt sich. Aber so was von. Zueinander passende Pheromone sind das ganze Geheimnis der Liebe. Die herkömmliche Rolle tiefer Gefühle wird völlig überschätzt. Soziales Milieu, gemeinsame Interessen – alles nur Kitt. Auch die Optik ist nur eine Modeerscheinung. „Wie bitte?“, fragte Dio. Aphrodite strich sich aufreizend über ihren Turbobusen. „Hast Du dich noch nie gefragt, warum ich ständig mein Aussehen ändere?“ Dio schüttelte den Kopf. „Na, weil sich das Schönheitsideal laufend ändert. Vor fünfhundert Jahren, in der Renaissance, sah ich noch so aus.“ Erstaunt nahm Dio wahr, wie sich Aphrodites Becken streckte, ihr XXL-Busen schrumpfte und ihre Haare goldblond zu schimmern begannen. Jetzt sah sie genauso aus wie die Frau auf diesem italienischen Gemälde. Das hatte er in einem Museum gesehen. Wie hieß der Maler noch gleich? Aphrodite verbeugte sich: „Gestatten, Geburt der Venus, von Andrea Boticelli.“ Dio nickte, diesen Maler hatte er gemeint. Aphrodite flanierte zwischen den Sofas hin und her, als liefe sie über einen Laufsteg. Dabei weitete sich ihre Oberweite wieder, es sah aus, als würden zwei Ballons an der Gasflasche aufgeblasen. Ihr vorher noch kurzer Rock wurde so lang, dass er über den Teppichboden schleifte. Sie blieb vor Dio stehen und verneigte sich: „Bei den Kelten war ich Fruchtbarkeitsgöttin.“ Staunend beobachtete Dio, wie sich Aphrodites Gestalt zurückverwandelte. Jetzt sah sie wieder aus wie vorher. Nur dass sie anstatt des rosa Kleids einen karierten Rock und ein hellblaues T-Shirt trug. Auf ihrem Kopf saß eine rosa Baseballkappe. Anstelle der High Heels steckten rote Turnschuhe an ihren Füßen. „Hello, it’s me, Monica. Praktikantin im Weißen Haus“, sagte sie grinsend und zupfte sich eine unsichtbare Fluse vom T-Shirt, auf dessen Brust ein riesiges Baseballemblem prangte. Dann plumpste sie aufs Sofa und ließ eine Kaugummiblase platzen. „Was ich sagen will: Das Aussehen ist relativ, wenn es um Schönheit und Attraktivität geht. Entscheidend ist die Biologie. Und die will einen optimal neu vermischten Genpool.“ Dio starrte die Liebesgöttin an. „Genpool?“ Auf Aphrodites Nase erschien eine Brille mit braunem Rand, und ihre Stimme klang, als spräche sie zu einem Hörsaal. „Der Genpool entscheidet, wie stark die Immunabwehr ist. Ein Mensch mit gut durchmischten Proteinen, sogenannten MHC-Proteinen, wird besser mit Krankheitserregern fertig. Kreuzen sich Menschen – oder Tiere – immer wieder mit ihren Geschwistern, werden sie irgendwann krank. Typische Folge von Inzest. Zeugen sie den Nachwuchs aber mit einer anderen Person, die ebenfalls gut durchmischte Gene hat, ist das biologisch gesehen optimal. Die ganzen Lehren von der Reinheit der Rasse sind vom evolutionären Standpunkt absoluter Blödsinn. Variantenreichtum heißt das Zauberwort für gesunden und kräftigen Nachwuchs.“ Dio kapierte nur Bahnhof, deshalb fragte er vorsichtig: „Das müssen sich die Menschen aber nicht alles merken, oder?“ „Natürlich nicht. Sie riechen es. Ihre Nase führt sie zum richtigen Partner.“ Das klang gut. Aphrodites Spray würde Herk die richtige Frau beschaffen, und mit seinem magischen Weinkelch würde er ihn aus seiner Krise führen. Jetzt hatte er einen Plan, sogar einen richtig guten. Zum ersten Mal, seit Zeus das Cabrio in die Pappel gefahren hatte, fühlte sich Dio zufrieden. Er sah Aphrodite an. „Können wir deinen Wagen nehmen?“

Erscheinungsdatum
Zusatzinfo Autorenfoto Eva Engelken
Verlagsort Mönchengladbach
Sprache deutsch
Maße 148 x 210 mm
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Ehe • Erotik • Europa • Familienleben • Frau • Götter • griechische Mythologie • Große Liebe • Humor • Liebe • Moderne Frau • Romantik • Seitensprung • Sucht • Unterhaltung • Urban Fantasy • Wohlfühlroman
ISBN-10 3-9819902-1-8 / 3981990218
ISBN-13 978-3-9819902-1-8 / 9783981990218
Zustand Neuware
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