Die Schnapsstadt (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
512 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-30555-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Schnapsstadt -  Mo Yan
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In China brodelt die Gerüchteküche: In einer entlegenen Provinz sollen dekadente Parteikader, skrupellose Parvenüs, die nach der Wirtschaftswende zu Reichtum gekommen sind, kleine Kinder nach allen Regeln der Kochkunst zubereiten lassen. Sonderermittler Ding Gou'er wird nach Jiuguo, in die sogenannte »Schnapsstadt«, entsandt, um der Fama dieser »Fleischkinder« auf den Grund zu gehen. Doch kaum hat Ding den Fall aufgegriffen, sieht er sich konfrontiert mit einer wahnhaften Welt, die von Aberglaube und Korruption, von Anmaßung und Gier beherrscht wird. Die Schnapsstadt ist eine virtuose Groteske, eine politische Allegorie, die das neue China der toten Ideale und seine gesellschaftliche Wirklichkeit kühn gegen den Strich bürstet.

Mo Yan (was so viel heißt wie »keine Sprache«) ist das Pseudonym von Guan Moye. Er wurde 1956 in Gaomi in der Provinz Shandong geboren und entstammt einer bäuerlichen Familie. Spätestens seit Zhang Yimous preisgekrönter Verfilmung seines Romans Das rote Kornfeld gilt Mo Yan auch international als einer der wichtigsten und erfolgreichsten Autoren der chinesischen Gegenwartsliteratur. 2012 wurde Mo Yan mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.

Mo Yan (was so viel heißt wie »keine Sprache«) ist das Pseudonym von Guan Moye. Er wurde 1956 in Gaomi in der Provinz Shandong geboren und entstammt einer bäuerlichen Familie. Spätestens seit Zhang Yimous preisgekrönter Verfilmung seines Romans Das rote Kornfeld gilt Mo Yan auch international als einer der wichtigsten und erfolgreichsten Autoren der chinesischen Gegenwartsliteratur. 2012 wurde Mo Yan mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.

ZWEITES KAPITEL


I


Der Bergwerksdirektor und der Parteisekretär hatten sich vor ihm aufgebaut. Mit vor die Brust gelegten linken Armen, ausgestreckten rechten Armen und offenen Handflächen standen sie ihm wie ein Paar Verkehrspolizisten im Einsatz gegenüber. Ihre Gesichter sahen einander so ähnlich wie ein Ei dem anderen. Der Bergwerksdirektor hätte den Parteisekretär als Spiegel benutzen können und umgekehrt. Zwischen den beiden erstreckte sich ein vielleicht ein Meter breiter Pfad, der mit einem roten Teppich ausgelegt war und einen hell beleuchteten Gang kreuzte. Angesichts dieser aufrichtigen Beweise von Höflichkeit und Respekt schmolz Ding Gou’ers heroische Entschlossenheit dahin. Leicht vornübergebeugt stand er vor den beiden Funktionären und wusste nicht, ob er weitergehen sollte. Ihre freundlichen Mienen stiegen ihm wie ranziges Fett in die Nase, und der Geruch wurde von Minute zu Minute stärker. Durch Zögern konnte Ding Gou’er ihn weder mildern noch zum Erliegen bringen. Die Götter sprechen nicht – wie wahr! Zwar sprachen die beiden nicht, aber ihre Körpersprache war verführerischer und überwältigender als die süßesten honigtriefenden Worte, die je gesprochen wurden. Nichts und niemand konnte ihr widerstehen. Teils weil er sich dazu verpflichtet fühlte, teils weil er ihnen dankbar war, schritt er zwischen den beiden hindurch, und der Bergwerksdirektor und der Parteisekretär reihten sich so hinter ihm ein, dass die drei Männer die Eckpunkte eines gleichschenkligen Dreiecks bildeten. Der Gang schien kein Ende zu nehmen. Das verwirrte Ding Gou’er, der sich deutlich an den Grundriss des Gebäudes erinnern konnte. Innerhalb der Fläche, die von den Sonnenblumen begrenzt wurde, konnten höchstens ein Dutzend Zimmer liegen. Für einen so langen Gang blieb einfach kein Platz. Alle drei Schritte hingen rote Laternen in Form einer Fackel an den gegenüberliegenden Wänden, die mit einer milchig weißen Tapete bedeckt waren. Die Messinghände, die die Fackeln hielten, waren glänzend poliert und wirkten erstaunlich lebensecht, als streckten sich wirkliche Hände durch die Wand. Mit wachsendem Schauder stellte er sich zwei Reihen von Messingstatuen vor, die zu beiden Seiten des Flurs ein Spalier bildeten. Der Weg über den roten Teppich glich dem Marsch durch eine Schlachtreihe bewaffneter Wächter. Ich bin gefangen. Der Parteisekretär und der Bergwerksdirektor sind meine Wachmannschaft. Ding Gou’er blieb das Herz stehen. Dann öffneten sich ein paar kleine Spalten in seinem Gehirn und ließen ein wenig kühle Vernunft einströmen. Er rief sich seinen Auftrag ins Gedächtnis, seine heilige Pflicht. Dass er mit einer jungen Frau herumpoussiert hatte, hatte ihn nicht an der Erfüllung seiner heiligsten Pflichten gehindert, aber der Genuss alkoholischer Getränke konnte das durchaus bewirken. Er blieb stehen, wandte sich zu seinen Begleitern um und sagte:

»Ich bin hier, um eine Ermittlung durchzuführen, nicht, um mit Ihnen zu trinken.«

Sein Tonfall war eher unfreundlich. Der Bergwerksdirektor und der Parteisekretär wechselten Blicke, die einander so ähnlich waren wie ihre Gesichter. Dann sagten sie, ohne auch nur eine Spur von Verärgerung zu zeigen, mit derselben Wärme und Freundlichkeit, die sie von Anfang an ausgezeichnet hatte:

»Das wissen wir, das wissen wir. Wir wollen Sie nicht zwingen, Alkohol zu trinken.«

Der arme Ding Gou’er konnte sich immer noch nicht merken, wer von beiden der Parteisekretär und wer der Bergwerksdirektor war. Da er aber fürchten musste, sie zu kränken, wenn er fragte, beschloss er, sich weiterhin durchzumogeln. Schließlich sahen die beiden einander so ähnlich, wie es ja auch die Posten eines Bergwerksdirektors und eines Parteisekretärs sind.

»Nach Ihnen, bitte. Dass Sie nicht trinken, ändert nichts an der Tatsache, dass Sie essen müssen.«

Also ging Ding Gou’er weiter. Die Dreiecksformation, der Gast an der Spitze, seine Begleiter hinter ihm, machte ihn nervös. Als ob der Flur nicht in den Speisesaal der Werkskantine, sondern in einen Audienzraum führte! Er versuchte, seine Schritte zu zügeln, sodass die beiden neben ihm gehen müssten. Keine Chance! Jedes Mal wenn er zögerte, passten sie ihren Schritt dem seinen an und hielten die Dreiecksformation aufrecht, sodass er weiterhin seine Eskorte hinter sich herzog.

Plötzlich änderte sich die Richtung des Flurs, und der rote Teppich fing an, sich nach unten zu neigen. Die Fackeln brannten heller denn je zuvor. Die Hände, die sie hielten, wirkten immer bedrohlicher, als lebten sie tatsächlich. Wie ein Schwarm goldener Fliegen schwirrten beunruhigende Gedanken durch seinen Kopf. Instinktiv klammerte er seine Aktentasche fester unter den Arm, bis der kühle, harte Stahl der Waffe an seinen Rippen lag, was ihn ein wenig beruhigte. Er würde nicht mehr als zwei Sekunden brauchen, um den schwarzen Lauf auf die beiden Männer zu richten, selbst wenn das der direkte Weg in die Hölle oder ins Grab sein sollte.

Inzwischen war ihm klar, dass sie sich tief unter der Erde befanden. Auch wenn die Fackeln und der rote Teppich so hell und bunt waren wie zuvor, war ihm kühl. Genau gesagt war es nicht kühl, sondern kalt.

Ein junges Mädchen mit leuchtenden Augen und funkelnden Zähnen in scharlachroter Uniform mit Schiffchenmütze erwartete sie am Ende des Ganges. Ihr sorgfältig einstudiertes einladendes Lächeln und der schwere Duft ihres Haars beruhigten Ding Gou’ers Nerven, wie seine Gastgeber es geplant hatten. Er musste einen plötzlichen Drang unterdrücken, ihr Haar zu küssen. Also veranstaltete er eine innerliche stumme Sitzung der Selbstkritik zum Zweck der Selbstrechtfertigung. Das Mädchen griff nach einem Türknopf aus blank poliertem Stahl und öffnete die Tür. Endlich lockerte sich die Dreiecksformation. Ding Gou’er atmete erleichtert auf.

Vor ihnen lag ein luxuriöser Speisesaal. Die sanften Farben und die gedämpfte Beleuchtung hätten eine Stimmung von Liebe und Glück erzeugt, wenn da nicht schwache Schwaden eines höchst seltsamen Geruchs gewesen wären. Ding Gou’ers Augen wurden heller, als er sich der Ausstattung des Saals zuwandte: cremefarbene Sofas, beigefarbene Vorhänge, eine fleckenlos weiße Zimmerdecke mit Blumenmuster, ebenso fleckenlos weiße Tischdecken. Für erlesen elegante Beleuchtung sorgten Lampen, die einer zarten Perlenkette glichen. Der Fußboden war offenbar erst kürzlich poliert worden und glänzte wie ein Spiegel. Während der Ermittler den Speisesaal kritisch überprüfte, überprüften der Parteisekretär und der Bergwerksdirektor ihn, ohne zu ahnen, dass er versuchte, die Quelle jenes seltsamen Geruchs auszumachen.

Der runde Tisch trug einen dreistufigen Aufsatz. Auf der untersten Ebene standen breite Biergläser, langstielige Weingläser, Gläser mit noch längeren Stielen, in denen ein farbloser Likör schimmerte, Teetassen mit Steingutdeckeln, Essstäbchen aus imitiertem Elfenbein in ihren Hüllen, weiße Porzellanteller in verschiedenen Größen, Vorlegebesteck aus Edelstahl, Zigaretten der Marke Zhonghua, Holzstreichhölzer mit leuchtend roten Köpfen in Spezialbehältern und Aschenbecher aus Pressglas mit Pfauenfedermuster. Die zweite Ebene nahmen acht Platten mit kalten Speisen ein: Rührei mit Reisnudeln und getrockneten Garnelen, scharf eingelegte Streifen von Rindfleisch, Blumenkohl in Currysauce, Gurkenscheiben, Entenfüße, kandierte Lotoswurzeln, Staudensellerie und frittierte Skorpione. Der welterfahrene Ding Gou’er zeigte sich wenig beeindruckt. Auf der dritten Ebene stand nur ein stachliger Kaktus in einem Blumentopf. Warum gibt es keine frischen Blumen?, fragte er sich.

Nach dem üblichen Austausch von Höflichkeitsformeln und Freudenbekundungen setzten sich endlich alle. Ding Gou’er hatte geglaubt, an einem runden Tisch brauche man nicht groß über die Sitzordnung nachdenken. Doch dieser Irrtum wurde aufgeklärt, als der Parteisekretär und der Bergwerksdirektor darauf bestanden, er müsse den Platz neben dem Fenster einnehmen, weil dies der Ehrenplatz sei. Er erklärte sich mit dieser Regelung einverstanden, und schon saß er wieder zwischen dem Parteisekretär und dem Bergwerksdirektor.

Wie eine Girlande von roten Fähnchen flatterte eine Schar von Kellnerinnen durch den Raum. Ein kühler Luftzug wehte von den jungen Mädchen an seinen Platz. Auch er trug jenen seltsamen Geruch mit sich, der sich über den ganzen Speisesaal verbreitete. Nur dass er sich diesmal mit dem Duft ihres Gesichtspuders und dem säuerlichen Schweißgeruch vermischte, der aus ihren Achselhöhlen und anderswoher drang. Je mehr sich der geheimnisvolle Duft mit anderen Gerüchen mischte, desto unauffälliger wurde er. Schließlich schenkte ihm Ding Gou’er keine Aufmerksamkeit mehr.

Unerwartet erschien vor Ding Gou’ers Augen eine Zange aus Edelstahl, die ein aprikosenfarbenes dampfend heißes Handtuch hielt. Er griff nach dem Handtuch, aber bevor er seine Hände abwischte, ließ er den Blick dem Schwung der Zange folgen. Über einer schneeweißen Hand glänzte ein Vollmondgesicht mit dunklen Augen, die hinter dem Schleier langer Wimpern leuchteten. Die Lidfalte des Mädchens wirkte, als seien ihre Augenwinkel von Narben verunstaltet, aber das war nicht der Fall. Nachdem er sie ausgiebig angesehen hatte, fuhr er sich mit dem Handtuch erst über das Gesicht, dann über die Hände. Das Handtuch war mit etwas parfümiert, das ein wenig nach faulen Äpfeln roch. Kaum hatte er das...

Erscheint lt. Verlag 1.2.2019
Übersetzer Peter Weber-Schäfer
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Asien • China • Chinesische Gegenwartsliteratur • Essen • Neues China • Politik
ISBN-10 3-293-30555-5 / 3293305555
ISBN-13 978-3-293-30555-7 / 9783293305557
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