Die Siebzigjährige, die man zum Fenster hinauswarf und die einfach nicht verschwand

Martin Buchholz über die deutsche Verfassung

(Autor)

Buch | Hardcover
144 Seiten
2019
Wostok (Verlag)
978-3-932916-73-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Siebzigjährige, die man zum Fenster hinauswarf und die einfach nicht verschwand - Martin Buchholz
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70 Jahre Grundgesetz. 30 Jahre Mauerfall. Wie also steht es um die Verfassung der Deutschen heute, wo so manches Kreuz des Wählers auf einmal einen Haken hat? Hat die "Würde des Menschen" bei uns noch eine Heimat? Zu viele Artikel der Verfassung wurden schon als vermeintlich veraltete Ramschware verworfen und verschleudert. Dennoch: Diese oft zum Fenster rausgeworfene Verfassung will partout nicht verschwinden. Die Siebzigjährige rappelt sich trotz vieler Niederlagen immer wieder trotzig auf und humpelt zurück in die deutsche Wirklichkeit. Martin Buchholz hilft ihr beim Humpeln. Allzu lange hat man dieses Grundgesetz immer nur verabschiedet. Buchholz meint: Es ist Zeit, es endlich wieder willkommen zu heißen.

Martin Buchholz, Journalist, Kabarettist und Schriftsteller, geboren im Jahr des deutschen Heils 1942 zu Berlin-Wedding. Seit 1961 Reporter und Redakteur, unter anderem bei Augsteins unselig entschlafenem „Heute"-Experiment, zwischendurch bei „Spiegel" und „Stern", danach Mitherausgeber des „Berliner Extra-Dienst" (die Zeitung der außerparlamentarischen Opposition), dann Ressortleiter Kultur bei der „Neuen" und Text-Chef bei „Pardon", zuletzt Ökologie- und Wissenschaftsredakteur bei „konkret". Seit Herbst 1982, nach 20 Jahren am Redakteurs-Schreibtisch, veröffentlicht er sich auf der Bühne. Sein Stammhaus ist das Berliner Kabarett-Theater „Die Wühlmäuse". Er wurde mit allen wichtigen Kabarett- und Kleinkunstpreisen in Deutschland und in der Schweiz ausgezeichnet. Außerdem publiziert er auch in gedruckter Form, als satirischer Schriftsteller – mit inzwischen zehn Büchern. Er ist Mitglied im Deutschen PEN-Zentrum. Sporadisch erscheint eine aktuelle Buchholz-Satire im Internet: www.martin-buchholz.de Martin Buchholz lebt und liebt zusammen mit der Filmemacherin und Produzentin Harriet Eder, die zugleich die Regisseurin seiner Programme ist.

Über die Verfassung

Oh my beautiful balloon – eine Art Vorwort 5
2019 – 70 Jahre später 6
Die Quellen, aus denen ich schöpfte 8

Eine Erinnerung an Iwan und Adolf 9
Brehms Tierleben und das Grundgesetz 11
Das Volk: Ein Potentat mit Potenzschwäche 14
Passierscheine und Persilscheine 17
Die 131er und die Re-Nazifierung per Grundgesetz 18
Wenn die Menschenwürde in einer Stammzelle einsitzt 21
Die Leiden des jungen Wertes 23
Gutdeutschtum im Walser-Takt 27
Wie die Würde zu einer singulären Erscheinung wird 29
Noch mehr Merk-Würdiges über die deutsche Würde 31
Deutsche Innereien und ihre Minister 33
Empfängnisverhütung mit Gehirn-Kondomen 36
Wenn sich der Staat in Staatssicherheit bringt 40
Der Pawlowsche Köter und das demokratische Schappi 43
Geständnisse eines Hobby-Wählers 44
Die Qualen der Wahlen: Eine deutsche Sado-Maso-Show 47
Die neuen Heimatvertriebenen 48
Die Überfremdung und die Unterfremdung 52
Gedankenfreiheit ohne Gedanken 54
Die Vermeintlichkeit der Meinungsfreiheit 57
Die Ausländer sind an allem schuld, und die Erde ist eine Scheibe 59
Ein Volk, das nicht lernen will, sich zu beherrschen 61
Das Volk als so’nes und solches 63
Sind wir alle Reichsbürger? 65
Das Volk: eine poplige Angelegenheit 68
Die Drohung nach der Wende: „Wir sind, was volkt!“ 71
Eins und eins macht ...: eins 74
Eine Verfassung – gab es die? 77
Wie aus einem Grundrecht ein Grundrechtlein wird 82
Politisch Verfolgte und was sie genießen 84
Wie man die Willensbildung des Volkes anheizt 87
Wie eine Berechtigung unters Frauenvolk kam 90
Als ein weibliches „Stürmlein“ zum männlichen Muffensausen wurde 92
Wie uns die Erde zum ersten Mal abhanden kam 94
Wie sich der Herrgott zum Gott der Räuber machte 97
Raum ist in der kleinsten Hütte: Wie die Frau verhüttet wurde 99
Wenn Männer ihre Tage haben 102
Wie eine Erbkrankheit gewährleistet wird 104
Das Grundgesetz des Eigentums: Sterben und erben 106
Das Kapital als genetische Notwendigkeit 108
Europa – eine Wehrpflicht für uns alle 112
Die Ballade von einer Asylbewerberin aus dem Nahen Osten 119
Die Vertrauensfrage: Wer traut sich – und wenn ja, mit wem? 124
Frieden oder Krieg? Afghanitverstan! 126
Exekutive im Einsatz: Legt an! Feuer! 128
Geh!Wissen – eine Abschiebung ins Ungewisse 129
Wenn die Polizei mit dem Volk Gassi geht 133
Ausschreitungen und Einschreitungen 136
Ein Volk und sein Wille: eine notwendige Inspektion 138
Lobby, wem Lobby gebührt 140
Ein paar letzte Sätze zur notwendigen Aufhebung des Grundgesetzes 143

Oh, my beautiful balloon – eine Art Vorwort Ich war sieben Jahre alt, genau genommen war ich sieben Jahre und elf Tage alt, als ich mit einiger Geburtstags-Verspätung einen traumhaft-schönen Luftballon geschenkt bekam. Es war der 23. Mai 1949, ein traumhaft-schöner Maientag. Nur wegen dieses blauen Luftballons kann ich mich so genau an diesen Tag erinnern. Es war der erste Luftballon meines Lebens, und er war so blau, wie nichts in meinem späteren Leben jemals blauer war. Doch vielleicht ist einer der Gründe für die blaue Unauslöschlichkeit meiner Erinnerung auch die Ohrfeige, die mir dieser Ballon dann einbrachte, und der darauf folgende Blues. Wir gingen an jenem Sonnentag in den Rehbergen im Norden Berlins spazieren. Wir, also meine Mutter und mein Onkel Willy, der mir dieses Wunderding von seinen spärlichen Groschen gekauft hatte, und der Ballon und ich. Der Ballon hatte mich fest an der Strippe. Und als wir am Entengrützenteich entlang flanierten, mitten in dieser Herrlichkeit eines Frühlingstages, ließ der blaue Ballon mich plötzlich los und ich ihn. Und er schwebte davon, höher und höher. Und er wurde immer durchsichtiger und unsichtbarer – bis sich sein Blau dann verlor im Strahlen des wolkenlosen, hohen Frühlingshimmels. Und ich stand da und schwebte mit. Versunken im Blau. Womöglich würde ich noch heute dort stehen, traumaugenblickend in irgendwelche blaue Ewigkeiten, wenn dieser zauberische, endlose Augenblick nicht schlagartig doch geendet hätte. Eine Ohrfeige von Onkel Willy holte mich zurück auf den Boden der einsichtigen Realitäten. „Zwanzig Pfennig hat mich das Ding gekostet. Und du lässt es einfach los.“ Einschlägig von Onkel Willy belehrt über den Wert der Dinge, stapfte ich niedergeschlagen, aber trotzig weiter. Ein sanft triumphierender Gedanke verband mich mit dem längst entschwebten Ballon. Ich dachte, und ich denke es noch immer: „Aber geplatzt ist er nicht.“ Warum erzähle ich Ihnen das. Deshalb: Es war, wie gesagt, der 23. Mai 1949. Ein Tag, an dem nichts wirklich Weltbewegendes passiert ist, außer zwei Dingen, die mein weiteres Leben beeinflusst haben. Die eine Sache war der blaue Luftballon, der meine frühe Phantasie beflügelt hat. Und die andere Sache war wahrlich keine Nebensache: An jenem 23. Mai 1949 wurde die Bundesrepublik gegründet – und begründet: Die Grundlage ihrer Existenz war eine grundsätzliche Vereinbarung, nämlich das „Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland“. Ein Versuchsballon war da losgelassen worden – ein Versuch, wieder ein irgendwie menschliches Deutschland zu schaffen. Ein Ballon allerdings, der nicht ins Blaue hinein davon schweben sollte. Er wollte und sollte sich dennoch deutlich abheben vom damals noch ziemlich braun gedüngten Boden der deutschen Wirklichkeit. Ein gewagtes Luftschiff in jener Zeit, zumal viele meinten, das sei nur eine Aufgeblasenheit voll heißer Luft. Ich will die Metapher jetzt nicht weiter strapazieren, doch während ich dies schreibe, summt in meinem Gedächtnishintergrund ein Song aus späterer Zeit: „Would you like to ride in my beautiful balloon.“ Und so sehr ich auch in diesem Buch beklage, wie viele gute, demokratisch-frische Luft inzwischen aus diesem beautiful balloon, dem Grundgesetz, entwichen ist und wie so mancher reaktionäre Furz das Ganze ersatzweise aufbläht, so bleibt mir doch meine blauäugige Hoffnung. Egal, wie entschwebt dieser Ballon auch manchmal zu sein scheint, ich weiß allem Anschein zum Trotz: Geplatzt ist er nicht! 2019 – 70 Jahre später Viele Jahre sind seit jenem 23. Mai 1949 ins Land gegangen, genau genommen: in die deutschen Länder, die alten und die neuen. (Allerdings sind es gerade die neuen Bundesländer, die zuweilen ziemlich alt aussehen.) Ich hacke gerade die letzten Korrekturen in die elektronische Tastatur, und eine blasse Wintersonne schaut mir durchs Fenster dabei zu. Ende Januar 2019. Das Grundgesetz wird am 23. Mai dieses Jahres 70 Jahre alt. Ich bin dann 77 Jahre und elf Tage lang am deutschen Leben. Dieses Grundgesetz habe ich in meinem satirischen Tagesgeschäft in den vergangenen 35 Jahren oft zum Thema gemacht – mehr noch dessen allzu häufige Missachtung auch und gerade durch das Parlament. „Wir müssen unsere Fenster weit öffnen“, so meinte einst ein Bundestagspräsident, „damit die Menschen draußen im Lande uns auch hören.“ Leider geschah das Unerhörte, dass durch die weit geöffneten Fenster nur selten ein frischer Wind herein blies; nein, es wehte oft nur alter populistischer Mief und hysterisches Geschrei der Menschen draußen im Lande in den Plenarsaal — besonders schrill und ohrenbetäubend bei der gnadenlosen Hetze gegen das Asylrecht. Um das Volk, lies: den fremdenfeindlichen Mob zu beruhigen, warfen viele Parlamentarier nicht zum ersten Mal ein wichtiges Grundrecht zum offenen Fenster hinaus. Teile der Verfassung warf man gleich im hohen Bogen hinterher – raus aus dem Hohen Hause. Wie viele Artikel der Verfassung wurden so als vermeintlich veraltete Ramschware verworfen und verschleudert. Und dennoch: Diese zum Fenster rausgeworfene Verfassung, diese Siebzigjährige, wollte partout nicht verschwinden. Sie humpelte trotzig und geschunden immer wieder zurück in die unheiligen Hallen und stellte sich neu der bundesrepublikanischen Wirklichkeit. 1989 habe ich darüber mein erstes Buch geschrieben. Für die jetzige Neufassung habe ich zusätzlich mehrere meiner gestammelten Werke durchforstet und auch hie und da bei mir selber abgeschrieben. (Ich kann mir solche Plagiate erlauben. Schließlich ist dies keine Doktorarbeit.) Das vor Ihnen liegende Machwerk, in halbwegs deutscher Sprache verfasst, ist gewissermaßen eine Verfassung über die Verfassung – also eine Verfassung hoch zwei. Somit handelt es sich um eine satirische Überhöhung, eine bewusste Überspitzung, um meine Kritik und meine Hoffnungen zuzuspitzen auf den Punkt, gelegentlich auch auf die Pointe. In der Hoffnung, dass Sie als mein Lesevolk mich nicht in Stich lassen: Hier also das Grundgesetz in meiner (und Ihrer) vorerst letzten Lesung.

Oh, my beautiful balloon -eine Art VorwortIch war sieben Jahre alt, genau genommen war ich sieben Jahre und elf Tage alt, als ich mit einiger Geburtstags-Verspätung einen traumhaft-schönen Luftballon geschenkt bekam. Es war der 23. Mai 1949, ein traumhaft-schöner Maientag. Nur wegen dieses blauen Luftballons kann ich mich so genau an diesen Tag erinnern. Es war der erste Luftballon meines Lebens, und er war so blau, wie nichts in meinem späteren Leben jemals blauer war. Doch vielleicht ist einer der Gründe für die blaue Unauslöschlichkeit meiner Erinnerung auch die Ohrfeige, die mir dieser Ballon dann einbrachte, und der darauf folgende Blues. Wir gingen an jenem Sonnentag in den Rehbergen im Norden Berlins spazieren. Wir, also meine Mutter und mein Onkel Willy, der mir dieses Wunderding von seinen spärlichen Groschen gekauft hatte, und der Ballon und ich. Der Ballon hatte mich fest an der Strippe. Und als wir am Entengrützenteich entlang flanierten, mitten in dieser Herrlichkeit eines Frühlingstages, ließ der blaue Ballon mich plötzlich los und ich ihn. Und er schwebte davon, höher und höher. Und er wurde immer durchsichtiger und unsichtbarer - bis sich sein Blau dann verlor im Strahlen des wolkenlosen, hohen Frühlingshimmels. Und ich stand da und schwebte mit. Versunken im Blau. Womöglich würde ich noch heute dort stehen, traumaugenblickend in irgendwelche blaue Ewigkeiten, wenn dieser zauberische, endlose Augenblick nicht schlagartig doch geendet hätte. Eine Ohrfeige von Onkel Willy holte mich zurück auf den Boden der einsichtigen Realitäten. "Zwanzig Pfennig hat mich das Ding gekostet. Und du lässt es einfach los."Einschlägig von Onkel Willy belehrt über den Wert der Dinge, stapfte ich niedergeschlagen, aber trotzig weiter. Ein sanft triumphierender Gedanke verband mich mit dem längst entschwebten Ballon. Ich dachte, und ich denke es noch immer: "Aber geplatzt ist er nicht."Warum erzähle ich Ihnen das. Deshalb: Es war, wie gesagt, der 23. Mai 1949. Ein Tag, an dem nichts wirklich Weltbewegendes passiert ist, außer zwei Dingen, die mein weiteres Leben beeinflusst haben. Die eine Sache war der blaue Luftballon, der meine frühe Phantasie beflügelt hat. Und die andere Sache war wahrlich keine Nebensache: An jenem 23. Mai 1949 wurde die Bundesrepublik gegründet - und begründet: Die Grundlage ihrer Existenz war eine grundsätzliche Vereinbarung, nämlich das "Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland". Ein Versuchsballon war da losgelassen worden - ein Versuch, wieder ein irgendwie menschliches Deutschland zu schaffen. Ein Ballon allerdings, der nicht ins Blaue hinein davon schweben sollte. Er wollte und sollte sich dennoch deutlich abheben vom damals noch ziemlich braun gedüngten Boden der deutschen Wirklichkeit.Ein gewagtes Luftschiff in jener Zeit, zumal viele meinten, das sei nur eine Aufgeblasenheit voll heißer Luft.Ich will die Metapher jetzt nicht weiter strapazieren, doch während ich dies schreibe, summt in meinem Gedächtnishintergrund ein Song aus späterer Zeit: "Would you like to ride in my beautiful balloon."Und so sehr ich auch in diesem Buch beklage, wie viele gute, demokratisch-frische Luft inzwischen aus diesem beautiful balloon, dem Grundgesetz, entwichen ist und wie so mancher reaktionäre Furz das Ganze ersatzweise aufbläht, so bleibt mir doch meine blauäugige Hoffnung. Egal, wie entschwebt dieser Ballon auch manchmal zu sein scheint, ich weiß allem Anschein zum Trotz: Geplatzt ist er nicht!2019 - 70 Jahre späterViele Jahre sind seit jenem 23. Mai 1949 ins Land gegangen, genau genommen: in die deutschen Länder, die alten und die neuen. (Allerdings sind es gerade die neuen Bundesländer, die zuweilen ziemlich alt aussehen.) Ich hacke gerade die letzten Korrekturen in die elektronische Tastatur, und eine blasse Wintersonne schaut mir durchs Fenster dabei zu. Ende Januar 2019.Das Grundgesetz wird am 23. Mai dieses Jahres 70 Jahre alt. Ich bin dann 77 Jahre und elf Tage lang am deutschen Leben. Dieses

Erscheinungsdatum
Mitarbeit Cover Design: Boris Buchholz
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Maße 140 x 240 mm
Gewicht 260 g
Themenwelt Literatur
Schlagworte AfD • Asyl • Asylgesetze • Brehms Tierleben • Gleichberechtigung • Grundgesetz • Grundrecht • Herrenchiemsee • Hobby-Wähler • Lobby • Notstandsgesetzgebung • Parlamentarischer Rat • Pegida • Reichsbürger • Re-Nazifierung • Stammzelle • Verfassung
ISBN-10 3-932916-73-5 / 3932916735
ISBN-13 978-3-932916-73-1 / 9783932916731
Zustand Neuware
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