Liebestölpel (eBook)
304 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31743-5 (ISBN)
Peter Wawerzinek wurde 1954 in Rostock geboren. Seine Mutter floh in den Westen als er drei Jahre alt war und ließ ihn und seine jüngere Schwester unversorgt zurück. Peter Wawerzinek wuchs daher im Kinderheim an der Ostsee auf. Seit 1988 freier Schriftsteller, Regisseur und Hörspielautor. Veröffentlichungen u.a.: Moppel Schappiks Tätowierungen (1991), Das Kind, das ich war (1994). Sein Roman Rabenliebe (2010) war ein sensationeller Erfolg, 2014 erschien der ebenfalls hochgelobte Roman Schluckspecht, 2019 folgte Liebestölpel. Peter Wawerzinek erhielt zahlreiche Stipendien, zuletzt das Autorenstipendium der deutschen Akademie Rom Villa Massimo 2019.
Peter Wawerzinek wurde 1954 in Rostock geboren. Seine Mutter floh in den Westen als er drei Jahre alt war und ließ ihn und seine jüngere Schwester unversorgt zurück. Peter Wawerzinek wuchs daher im Kinderheim an der Ostsee auf. Seit 1988 freier Schriftsteller, Regisseur und Hörspielautor. Veröffentlichungen u.a.: Moppel Schappiks Tätowierungen (1991), Das Kind, das ich war (1994). Sein Roman Rabenliebe (2010) war ein sensationeller Erfolg, 2014 erschien der ebenfalls hochgelobte Roman Schluckspecht, 2019 folgte Liebestölpel. Peter Wawerzinek erhielt zahlreiche Stipendien, zuletzt das Autorenstipendium der deutschen Akademie Rom Villa Massimo 2019.
Zöpfe
Zuerst sind da nur diese zwei kurzen schwarzen Zöpfe. Sie wippen an Lucretias Kopf lustig her und hin. Ich bin auf meinem Dreirad unterwegs, setze den Zöpfen nach. Feste Zöpfe. Glänzende Strippen an ihrem runden Kopf, wie bei hoppelnden Häschen. Sie läuft mir voraus mit ihrem Lachen. Die Zöpfe rufen mir zu: Fange uns ein! Wie hundert Münder nicht rufen. Wie die stärksten Hände mich nicht packen und lenken können, halten sie mich gefangen. Du kriegst mich nie!, ruft Lucretia. Läuft auf den großen, dicken Baum im Gespensterwald zu. Die Zunge ausgestreckt, auf nichts anderes fixiert, fahre ich den Zöpfen hinterher, fest entschlossen, atemlos. Bin dann beim dicken, hohen Baum, hinter dem Lucretia mit ihren beiden Zöpfen verschwunden ist. Eins, zwei, drei, vier Eckstein, alles muss versteckt sein. Hinter mir und vor mir gilt es nicht, an den Seiten auch nicht. Dreimal, viermal herum um den Baum ist da nichts mehr von den zwei Zöpfen zu sehen. Nicht vor, nicht hinter mir, zu den beiden Seiten auch nicht. Wie verhext nirgendwo. Vom Dickbaum geschluckt. Einfach nicht zu finden, nicht einmal nur für kurz zu sehen. Ich wechsle mit dem Dreirad die Fahrtrichtung. Pure Vergeblichkeit all meine Anstrengungen. Und dann wird energisch und laut mein Name gerufen. Die Erzieherin inmitten der Kindergruppe. Sie winkt mich heran mit heftigen Armbewegungen, die mir bedeuten, schleunigst zur Gruppe zurückzukehren. Und wer steht neben ihr? Lucretia. Ihr Händchen liegt fein in der großen Hand der Erzieherin. Ihren Kopf hat sie unschuldig zur Seite gelegt. Steht da, schwingt unmerklich ihren Körper. Das Kinn triumphierend erhoben, schaut sie mich an, sieht über mich hinweg, blickt mitten durch mich hindurch. Als wäre ich Luft für sie.
Es ist hier noch nicht Liebe, eher eine kleine Verschossenheit oder Ehrgeiz. Ich bin da nur überrascht, verblüfft, gelackmeiert und besiegt. Ich bin da eben nur nicht gut genug und auch nicht clever gewesen. Mehr ist dazu im Grunde nicht zu sagen. Und doch ist dies der Anfang vom Anfang. Lucretia hebt an, sich Richtung Planet zu bewegen, der ich bin, sie rückt auf mich zu. Sie wird auf mir landen und dann in meinem Leben sein, wie die Sommersprossen im Gesicht zu mir gehören.
Es bleibt mein Leben lang so. Zöpfe wippen mir voraus. Zum Greifen nahe enteilen sie mir immer und immer wieder. Vom Erdboden verschluckt ist Lucretia weg, taucht urplötzlich und unerwartet an anderen Orten und Plätzen wieder auf. Wie die Katze die Maus, die Schlange ihr armes Opfer fixiert, geht das mit Lucretia und mir los. Ich sehe nur ihre schwarzen strammen Zöpfe, und schon bin ich ihr hörig. Sie legt ihren Kopf nur leicht zur Seite und sieht mich unschuldig an, schon ist alles gesagt. Von Kindesbeinen an lockt, verführt und linkt sie mich. Taucht auf und wieder ab. Winkt mit ihren Zöpfen. Folge ich ihr, löst sie sich vor meinen Augen in Nichts auf. Ruft und lacht von weit her. Singt inmitten der Nacht: Petkowitsch, Feinstliebster du. Schon erwache ich, richte mich in meinem Bettchen auf und schlafwandle ihr hinterher, die Arme ausgestreckt über den Scheitel des Daches, wenn es so sein soll. Ohne Angst davor, abzustürzen und zu fallen. Ich erliege ihr, was auch geschieht. Sie trägt bald keine Zöpfe mehr, ihr Aussehen verändert sich, sie ist dann nicht mehr so pummelig und bunt gekleidet. Und sie versetzt und verletzt mich immer und immer wieder. Kleine Kratzer am Anfang, die zu tiefen Wunden werden. Ich soll ihr nur weiter folgen, ruft sie mir von irgendwoher entgegen. Wir sollen Blutsgeschwister bleiben. Ich soll nur immer schön auf sie warten. Alles wird gut. Und schickt mich in einen unheilvollen Tunnel, lässt mich dann in dieser Düsternis auf verlorenem Posten zurück. Ihr Lachen verstummt. Ihre Rufe, die mir eben noch galten, Mut zugesprochen haben, ersterben. Ich bibbere. Ich irre. Ich finde in mein Bett zurück, weine ins Kissen. Und dann ist Lucretia plötzlich hinter mir, hält mir von hinten die nassen Augen zu und fragt so süß: Rate, wer ich bin?
Und ich will ihren Namen freudig ausposaunen. Sie drückt mir den Mund zu, beschwört mich, ihn nicht auszusprechen. Im Kopf nur sollst du ihn dir denken, Petkowitsch. Sie nennt mich Petkowitsch. Niemand darf meinen Namen wissen, hörst du. Wir wollen ihn beide fleißig verschweigen. Ich will ohne meinen Namen sein. Es gibt tausend Arten von Lärm, aber nur eine wirkliche Stille. Diese. Wenn du den Namen weißt und ihn nicht aussprichst.
Ich bleibe der ewige kleine Junge auf dem Kinderdreirad.
So richtig zusammen bringt uns mein Kreisel. Wenn er sich dreht und dreht, rennen wir beide hinter ihm her, suchen ihn in Bewegung zu halten – tollkühn über Gehsteine, Ritzen, Asphalt, Erdspalten, Grasnarben, Sandhügel, Glassplitter, Dreck hinweg. Ein geschundenes Holzstück ist mein Kreisel, mein großer Zeitvertreib in jenen Tagen. Die Farben meines Kreisels sind nicht mehr zu erkennen, so abgedroschen, wie er ist.
Ihn zu beherrschen hat mir Lucretia beigebracht. So geht das, sieh her!, Petkowitsch. Wickle die Peitschenschnur um den Kreisel, stelle das Bündel auf den Boden, reiße an der Peitsche, schon spult der Faden ab, setzt den Kreisel in Bewegung. Sieh nur, sieh, wie er auf seiner Kreiselspitze schwirrt und sich dreht. Versuch es, nur zu. Du schaffst es. Und so halte ich eines Tages den Kreisel mit meiner Peitsche aufrecht in Bewegung. Straßendreck wirbelt auf. Steinchen fliegen durch die Luft. Laut die Peitschenschnur knallt und wischt. Frisch, tummle dich, tummle dich, Kreisel, immerzu. Du hast vor meiner Peitsche nicht Rast noch Ruh. Dreh dich im Kreise vom Schlagen meiner Peitsche. Ei, tummle dich hurtiglich, sollst schnurren und surren, hau ich dich immer und immer wieder. Schau, wie die Peitsche um dich schwirrt. Ich bin es von uns beiden, der nimmer müde wird, bis du es hältst nicht länger aus. Dann wollen wir beide gehen nach Haus.
Ich trage meinen Kreisel überallhin. Er wohnt in meiner Hosentasche. Der Peitschenfaden ist um den Kreisel gewickelt. Er endet an einem kleinen Stöckchen, nicht größer als meine Hand.
Der Kreisel macht, dass Lucretia mein Mittelpunkt wird, die Sonne, die ich umkreise. Bin ihr ach so zugetan und hörig, ihr untertan. Bin ihr ergeben, mein, nein, ihr Leben lang. Sehe bei allem, was sie mir ist im Leben, immer und immer das süße, kleine Mädchen von einst, mit diesen zwei geflochtenen schwarzen Zöpfen, wie sie vor meinen Augen wippen. Werde ich von ihr erfreut, angeschoben, zu Boden gerissen, bin ich stinksauer und ihr viel zu schnell stets wieder gut, stets meine ich, mit dem kleinen Mädchen von damals zu tun zu haben, dieser pummeligen Kleinen in hellbrauner, über den Knien gestopfter dicker Strumpfhose und darüber dieser ach so rote Rock an Lederträgern. Das wilde Mädchen mit der klobigen Brille, ein Brillenglas von innen her mit Heftpflaster zugeklebt.
Jene Lucretia sehe ich, meine erste richtig gute Freundin. Das Mädchen, das mit mir um die Wette läuft, robbt, springt, singt. Sie bringt mich zum Lachen. Sie bringt mich in Rage, sagt sie zu mir Petkowitsch. Und dann gewöhne ich mich daran, mag sogar von ihr so genannt werden. Ich verbringe die ganze Zeit nur mit ihr. Laufe mit ihr durch die ersten Monate, Jahre unserer Kindertage. Fühle mich geborgen an ihrer Seite, hoffnungslos verloren allein, so richtig zu zweit eins mit ihr, nie allein. Bin stark mit ihr in einer Gruppe und zweisam. Und einsamer nie, bin ich von ihr verlassen. Die da mein Leben ist, mein Herzblut, lebenslang, mit der mich ein gemeinsames Aufwachsen verbindet. Die mit mir das Schicksal teilt, das uns beide lenkt.
Das Kinderheim ist nicht groß, nicht klein. Es kommt nur uns so riesig vor. Wir leben da in einem Bienenstock. Ein Maschinenhaus ist so ein Heim, gibt dir jeden Tag den Takt vor. Takt, Tag, Tagestakt. Reih und Glied sind Waschraum, Wasserhähne, Kloschüsseln. Die Duschen noch nicht nach Geschlecht getrennt, trinken wir aus einem Becher, essen von einem Tellerchen. Und gehen zusammen den schmalen Weg hinunter zum Gespensterwald. An Sommerblumen, Herbstlaub, Schnee- oder Maiglöckchen vorbei, Waldmeister, Sumpfdotter.
Manchmal plätschert der kleine Waldbach frohgemut. Manchmal begleitet uns nur ein Rinnsal. Und ist der Winter vorbei, stürmt uns zur Schneeschmelze ein wilder Bach voran, eilt uns voraus zur Steilküste, sich über den Strand zu ergießen, sein breites Bett in den Sand zu fräsen – dem Meer zu, um in ihm aufzugehen. Stocktrocken ist jenes Bett im Heißsommer. Der Schlickgrund in einzelne Erdlappen aufgeteilt, deren Ecken sich nach oben krümmen. Dann gleicht es dem langen Hals einer Giraffe.
Wir sind in diesem Kinderheim gefangen, in einem Schließfach verwahrt. Wir Elternlosen behalten uns im Blick. Im Guten, im Bösen halten wir Kontakt zueinander, sehen die elterlich gebundenen Kinder um uns herum nicht. Das Heimleben trennt uns, eint uns, reißt uns auseinander, fügt uns auf sonderliche Weise wieder zusammen. Brüderchen, komm, tanz mit mir, beide Hände reich ich dir. Für kurz und länger sind wir getrennt. Einmal hin, einmal her, rundherum, das ist nicht schwer. In Zeiten noch, da wir bereits älter sind, nichts mehr miteinander zu schaffen haben, benehmen wir uns wie Heimkinder, die sich aus den Augen, nicht aus dem Sinn verlieren. Verlorene sind wir von Beginn an. Mit den Füßen tapp, tapp, tapp. Mit den Händen klapp, klapp, klapp. Mit dem Köpfchen nick, nick, nick. Mit den Fingern tick, tick, tick. Dieser und jener, weg ist er, plötzlich. Das Bett verlassen, kalt. Dann wird das Bett neu bezogen. Ein anderes Kind ist plötzlich da und schläft in ihm. Das Kind, dem das Bett davor...
Erscheint lt. Verlag | 12.9.2019 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Autobiografie • Bachmannpreis • Berlin • Beziehung • Familie • Femme fatale • Liebestölpel • Prenzlauer Berg • Rabenliebe • Selbstmord • Suizid • Trilogie |
ISBN-10 | 3-462-31743-1 / 3462317431 |
ISBN-13 | 978-3-462-31743-5 / 9783462317435 |
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Größe: 1,2 MB
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