Kein schlechter Tausch - Karen Witemeyer

Kein schlechter Tausch

Kleine Auszeit Roman

(Autor)

Buch | Hardcover
169 Seiten
2020 | 1. Auflage
Francke-Buch (Verlag)
978-3-96362-129-1 (ISBN)
5,00 inkl. MwSt
Texas, 1890: In der Hoffnung auf einen Neuanfang kommt die junge Ruth Fulbright mit ihrer Tochter nach Hope Springs. Die Anstellung als Köchin in dem kleinen Kurort ist der erste Lichtblick seit dem Tod ihres Mannes und dem Verlust ihres Zuhauses. Doch wie soll sie als mittellose Witwe die Miete für eine Unterkunft in dem wohlhabenden Touristenstädtchen aufbringen?Zwar hat Ruth eine Idee für eine Art Tauschhandel, den sie dem Vermieter anbieten kann - doch wird der sich darauf einlassen? Schließlich ist Mr Azlin ein reicher Mann, der sich unübersehbar für etwas Besseres hält ...

Karen Witemeyer liebt historische Romane mit Happy-End-Garantie und einer überzeugenden christlichen Botschaft. Nach dem Studium der Psychologie beann sie selbst mit dem Schreiben. Zusammen mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt sie in Texas.

Kapitel 1 Oktober 1890 Hope Springs, Texas Ruth Fulbright hielt ihre schlafende siebenjährige Tochter im Arm und blieb erst einmal sitzen, nachdem die Postkutsche zum Stehen gekommen war. Die anderen Reisenden hingegen, die sich offensichtlich für etwas Besseres hielten, setzten alles daran, den Wagen so schnell wie möglich zu verlassen. Der modisch gekleidete Herr zu ihrer Linken, der eindeutig zu viel Pomade im Haar hatte, rempelte Ruth mit seinem Ellbogen an, als er aufstand. Um ihm auszuweichen, lehnte sie sich nach rechts – und stach sich beinahe das Auge an der Hutfeder der ältlichen Matrone aus, die gerade die Kutschentreppe hinunterstieg. Na wunderbar! Wer hätte gedacht, dass eine Reise mit der Postkutsche so gefährlich sein könnte? Sie hatte doch tatsächlich geglaubt, Banditen wären das Schlimmste, was ihr auf der gut dreißig Kilometer langen Reise vom Bahnhof in Weatherford hierher begegnen könnte. Doch da hatte sie ihre Rechnung ohne all die mitleidigen Blicke, das snobistische Schnauben und den spitzen Federschmuck gemacht. Niemals hätte sie sich träumen lassen, dass sich damit ein solcher Schaden anrichten ließe. Obwohl ihr das eigentlich nichts anhaben sollte. Als Frau, die nach dem Ende des Bürgerkrieges in den verwüsteten Südstaaten aufgewachsen war, hatte sie gelernt, sich auf jedem gesellschaftlichen Parkett zu behaupten. Ihr Kleid mochte fadenscheinig sein, das Leder ihrer Schuhe hauchdünn und an ihrem Finger fehlte der Ring, doch sie war sauber, unbescholten und hatte nicht den geringsten Grund, sich zu schämen. Jetzt schob sich der Herr mit der vielen Pomade im Haar an ihr vorbei und rempelte dabei ihre Tochter an. »Entschuldigung«, murmelte er, doch sein Blick verriet, dass er in Wahrheit ihr die Schuld dafür gab, dass Naomi ihm im Weg gewesen war. Ein echter Gentleman hätte ihnen den Vortritt gelassen und gewartet, bis Ruth und Naomi ausgestiegen waren. Oder er hätte ihnen seine Hilfe angeboten. Doch offensichtlich sah er sie nur als Hindernis an, nicht als eine echte Dame. »Mama?« Naomi hob den Kopf von ihrer Brust und öffnete ihre wunderschönen braunen Augen, die Ruth so sehr an die ihres Mannes erinnerten. Augenblicklich fuhr ihr ein Stich durchs Herz. Stephen war nun schon seit zwei Jahren tot. Seit zwei Jahren, drei Monaten und neun Tagen. Ach, sie sollte wirklich aufhören zu zählen. Es brachte schließlich nichts, ihre Zeitrechnung nach ihrem Verlust auszurichten. Es war nur schon so lange her, dass sie etwas wirklich Positives erlebt hatte … Aber genug davon. Ruth richtete sich auf und lächelte ihre Tochter an. »Guten Morgen, Schlafmütze.« Sie strich Naomis Pony zurück und küsste sie auf die Stirn. »Wir sind da.« Naomis Augen wurden groß und sie grinste. »In unserem neuen Zuhause?« Ruth nickte. Sofort machte ihre Tochter sich von ihr los und sprang auf. Gott sei gelobt für den Optimismus der Jugend. Ruth wusste nicht, wie sie die letzten Monate ohne Naomi hätte überstehen sollen, die selbst durch die dunkelsten Wolken hindurch noch die Sonnenstrahlen sah. Und dunkle Wolken hatte es wirklich mehr als genug gegeben. Doch das schien nun fast vergessen, als ihre strahlende Tochter so aufgeregt vor ihr stand. »Komm schnell!« Dank ihrer geringen Körpergröße konnte Naomi selbst in der niedrigen Postkutsche ohne Probleme aufrecht stehen. Neugierig lief sie auf den Ausstieg zu. Dort wäre sie fast wieder mit dem wenig freundlichen Herrn zusammengeprallt. Doch im letzten Augenblick blieb sie stehen und wirbelte ungeduldig herum. »Jetzt komm endlich, Mama! Hope wartet auf uns!« »Hope Springs«, korrigierte Ruth, während sie sich allmählich von der Vorfreude ihrer Tochter anstecken ließ. Hope – die Hoffnung. Hier musste einfach Hoffnung auf sie warten. Denn es gab keinen anderen Ort mehr, an dem Ruth sonst danach hätte suchen können. Sobald der Pomadenmann zur Seite getreten war, sprang Naomi wie ein Kaninchen aus der Postkutsche. Ruth grinste und schüttelte den Kopf. Sollte das Mädchen nur laufen und springen. Schließlich war die Kleine den ganzen letzten Tag in Zugabteilen und der Postkutsche gefangen gewesen. Wäre Ruth nicht schon fast fünfundzwanzig gewesen, hätte sie es ihrer Tochter vermutlich gleichgetan. Eigentlich war es doch schade, dass die Gesellschaft einer erwachsenen Frau nicht zugestand, ihren Bedürfnissen und Emotionen zu folgen. Als Ruth den Haltegriff der Kutsche umklammerte und ausstieg – scheinbar hatte gerade keiner der anwesenden Gentlemen, pomadig oder nicht, Zeit, ihr zu helfen –, machte sich eine nervöse Unruhe in ihrem Magen breit. Was, wenn Mrs Lancaster es leid geworden war, auf sie zu warten, und eine andere Köchin eingestellt hatte? Zwar hatte Dorothea Ruth versichert, dass die Anstellung für sie, ihre Cousine, freigehalten würde. Aber Ruth hatte Wochen gebraucht, bis sie jemanden gefunden hatte, der bereit gewesen war, ihr einen angemessenen Preis für ihren Ehering zu zahlen, damit sie sich die Reise von Clarksville nach Hope Springs überhaupt hatte leisten können. Was, wenn ihre neue Arbeitgeberin das lange Warten als Vertragsbruch ansah? Einen Moment lang rieb Ruth über die nackte Stelle an ihrem Finger, wo bis vor Kurzem der goldene Ring gesteckt hatte, und betrauerte seinen Verlust. Dann schob sie die Schultern zurück und machte sich auf die Suche nach ihrem Gepäck. Sie hatte getan, was getan werden musste, um für sich und ihre Tochter ein neues Leben aufbauen zu können, eine Zukunft. Bedauern bildete da ein schlechtes Fundament. Stattdessen wollte sie sich lieber auf ihren Gott verlassen. Immerhin war er es, der sie nach Hope Springs geführt hatte. Da war sie sich sicher. Zu viele Puzzlestücke hatten sich genau zur rechten Zeit zusammengefügt, als dass es anders hätte sein können. Und wenn der Allmächtige sie hierher geleitet hatte, dann würde er sie auch jetzt nicht im Stich lassen. »Lasst euch genügen an dem, was da ist«, rief sie sich in Erinnerung, während sie geduldig darauf wartete, dass der Fahrer die letzten Gepäckstücke vom Dach hob. »Denn er hat gesagt: Ich will dich nicht verlassen und nicht von dir weichen.« Es gab Hoffnung. Und Ruth würde nach ihr greifen. In diesem Augenblick segelte ein brauner Gegenstand auf ihren Kopf zu. Gerade noch rechtzeitig riss sie die Arme hoch und fing ihn auf. Gütiger Himmel! Fast wäre sie von ihrer eigenen Reisetasche erschlagen worden, so sehr war sie in Gedanken versunken gewesen. »Entschuldigen Sie, Ma’am.« Dem Kutscher stand die Scham ins Gesicht geschrieben, als er sich den Hut vom Kopf riss und oben auf dem Kutschendach auf die Knie fiel. Während er sich mit einer Hand am Geländer festklammerte, beugte er sich vor. »Ich dachte, Sie wären der alte Tom. Alles in Ordnung?« Zwar war es für eine Dame alles andere als schmeichelhaft, mit einem grauhaarigen Wachmann verwechselt zu werden, doch um ehrlich zu sein, hatte der ältere Herr, der die ganze Zeit über auf dem Kutschbock mitgefahren war, wenige Augenblicke zuvor noch genau an dieser Stelle gestanden. Die anderen Reisenden hatten ihn zur Seite gezogen, um sich bei ihm darüber zu beschweren, wie rau mit ihren Besitztümern umgegangen worden war, und Ruth war auf den frei gewordenen Platz getreten. Behutsam setzte sie die staubige Tasche ab und klopfte den gröbsten Schmutz von ihrem Kleid. Nachdem sie damit fertig war, warf sie dem Fahrer ein Lächeln zu. Seine Entschuldigung war aufrichtig gewesen und die freundlichen Worte hatten ihre Stimmung gehoben. »Es ist ja nichts passiert. Wenn Sie mir diese letzte Tasche dort etwas vorsichtiger herunterreichen, nehme ich sie Ihnen gerne mit mehr Gewandtheit ab.« Sie streckte die Arme nach oben, doch der Mann zuckte zurück. Ruth hätte schwören können, dass sie die Frage hörte, die in seinem Kopf herumschwirrte: Was war wohl schlimmer – einer Dame zu widersprechen oder sie körperliche Arbeit verrichten zu lassen? Ruth winkte auffordernd, um ihm seine Sorgen zu nehmen. »Ich bin stärker, als ich aussehe«, versicherte sie ihm. »Außerdem haben Sie doch bestimmt einen Zeitplan einzuhalten?« Der Kutscher warf hektisch einen Blick in Richtung der Fahrgäste, die auf dem Bürgersteig darauf warteten einzusteigen. »Tom!«, rief er laut und suchte ganz offensichtlich nach einem Ausweg. Doch entweder war der alte Tom außer Hörweite oder er wurde von den Reisenden zu sehr in Beschlag genommen, um reagieren zu können. Wie auch immer, der verzweifelte Ruf seines Kollegen blieb jedenfalls unerwidert. Leise vor sich hin schimpfend drückte sich der Kutscher seinen Hut wieder auf den Kopf und kroch zu Ruths zweiter Tasche. Er hob sie hoch, um besser abschätzen zu können, wie schwer sie war, dann beugte er sich so weit über den Rand des Kutschendaches, dass das Gepäckstück Ruths Finger berührte, bevor er es losließ. Da sie genau wusste, wie schwer die Tasche sein würde – nicht sehr, da ihr momentaner Besitz gerade einmal zwei Kleider umfasste –, bewältigte sie die Aufgabe ohne weitere Probleme. »Danke, Sir.« Der Mann auf dem Kutschendach tippte sich an den Hut und sah Ruth voller Bewunderung an. Sein Blick verlieh ihr neues Selbstvertrauen und die Zuversicht, dass sie alles schaffen konnte. Was auch immer sich ihr in den Weg stellte. Entschlossen nahm sie auch ihre andere Tasche in die Hand und suchte die Umgebung nach ihrer Tochter ab. Naomi entdeckte sie zuerst. »Mama, guck mal! Ein Kätzchen.« »Oje.« Ruth versuchte, nicht an die schmutzigen Pfotenspuren zu denken, die nun mit Sicherheit Naomis bestes Kleid zierten – geschweige denn an Flöhe oder Läuse. Rasch ging sie zu ihr hinüber, beugte sich hinab und betrachtete die in der Armbeuge ihrer Tochter baumelnde Katze. Das arme Tier schien beinahe erwürgt zu werden. Noch nie hatte Ruth eine streunende Katze gesehen, die sich so ruhig verhielt, wenn sie festgehalten wurde. Die meisten von ihnen fauchten und kratzten oder versuchten zu fliehen. Offensichtlich war dieser schwarz-weiße Tiger den Kontakt mit Menschen gewohnt. Vielleicht hatte er einmal einem Kurgast gehört. »Lass sie lieber los, Schätzchen. Sie gehört uns nicht.« Naomi stieß ein Seufzen aus, dann küsste sie das Tier auf den Kopf und setzte es vorsichtig ab. »Mach’s gut, Kätzchen.« Augenblicklich schoss das Fellknäuel davon. Schnurstracks rannte es zur dreistöckigen Hotelanlage auf der anderen Straßenseite. Dort erklomm es den Baum, der den Bürgersteig beschattete. Beeindruckt beobachtete Ruth den flinken Abgang des graziösen Tieres, bis die Zweige es vor ihrem Blick verbargen. Dafür erregte eine andere Bewegung ihre Aufmerksamkeit. Direkt über dem Baum sah sie einen Mann auf einem Balkon. Er hatte dunkles Haar und trug einen schwarzen Anzug. Einen teuren Anzug. Selbst aus der Entfernung konnte Ruth sehen, dass das gute Stück maßgeschneidert war. Die Finger seiner linken Hand tippten müßig auf das hölzerne Geländer, während der Mann seinen Blick über das Treiben auf der Straße schweifen ließ. Beinahe wie ein Lehnsherr, der sein Volk betrachtet, dachte Ruth kopfschüttelnd. Und in diesem Moment richtete der Lehnsherr seine Augen direkt auf sie. Rasch senkte Ruth den Blick. Wer auch immer er war, ganz bestimmt würde sie nicht herumstehen und ihn anstarren, als hätte sie keine Manieren – selbst wenn er genau dasselbe tat. Wahrscheinlich war er einer der gut betuchten Hotelgäste. Schließlich genossen es die Reichen, von oben herab auf das Fußvolk zu schauen. Plötzlich näherte sich Ruth ein junger Mann von vielleicht sechzehn Jahren und lächelte sie freundlich an. »Sind Sie als Kurgast hier, Miss?« Er trug eine dunkelgrüne Uniform, auf die in goldenen Lettern Hope Springs Resort gestickt war. »Ich helfe Ihnen sehr gerne mit Ihrem Gepäck.« Bereitwillig griff er nach ihrer Tasche, doch Ruth schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, aber nein, ich wohne nicht im Hotel.« Es freute sie, dass er sie genauso höflich behandelte wie eine der besser gekleideten Damen. Wer auch immer ihn ausgebildet hatte, hatte seine Sache gut gemacht. »Ich bin Mrs Lancasters neue Köchin. Könnten Sie mir wohl sagen, wie ich zum Homespun Café komme?« »Sehr gerne.« Ihr Gegenüber strahlte sie mit einem so ehrlichen und ansteckenden Lächeln an, dass Ruths Unsicherheiten und Zweifel wie weggeblasen waren. Stattdessen sprudelte jetzt ein Gefühl der Vorfreude in ihr hoch. Der junge Portier führte sie um die anderen Reisenden herum und zeigte die Straße hinunter in Richtung eines schlichteren Gebäudes am Ende des Blocks. »Das Café ist das letzte Haus auf der rechten Seite, bevor Sie zum Gerichtsplatz kommen. Falls Sie Myrtle Lancaster nicht im Inneren finden, gehen Sie ruhig ums Haus. Sie hat Hühner und einen Gemüsegarten – vielleicht ist sie dort.« »Vielen Dank.« Ruth wünschte, sie hätte eine Münze, die sie ihm für seine Hilfe geben könnte. Stattdessen konnte sie ihm nur ein strahlendes Lächeln schenken. »Sie haben mir sehr geholfen.« »Die Freude ist ganz meinerseits, Miss.« Der junge Mann tippte sich an den Hut, dann widmete er sich wieder seinen Aufgaben. »Komm, Naomi«, sagte Ruth und hob ihr Kinn. »Lass uns schauen, wo Mama ab jetzt arbeitet!« Begeistert hüpfte Naomi neben ihrer Mutter auf und ab, während sie sich auf den Weg die Straße hinunter machten. »Hast du gehört, was er gesagt hat, Mama? Sie haben Hühner! Glaubst du, ich darf vielleicht ein paar Eier sammeln? Ich bin richtig gut im Eiersammeln, weißt du noch?« »Ja, das bist du.« Ruth erinnerte sich gut daran, wie sehr Naomi es geliebt hatte, sich um die Hühner auf ihrer Farm zu kümmern. Sie hatte die Tiere gefüttert und mit heller Begeisterung ihre Eier eingesammelt. Jeden Morgen war sie ihrer Mutter in den Stall gefolgt – bis die Bank die Zwangsvollstreckung durchgeführt hatte. Naomi war zu diesem Zeitpunkt erst fünf gewesen. Trotzdem hatte sie die Eier immer mit großer Vorsicht behandelt und nie auch nur ein einziges zerbrochen. »Wir müssen schauen, bei welchen Aufgaben Mrs Lancaster unsere Hilfe benötigt, Liebes.« Ruth hoffte inständig, dass ihre neue Arbeitgeberin ein gutes Herz hatte und Kinder mochte. Ihre Tochter war so ein liebes Mädchen, artig und gehorsam. Nur an Zurückhaltung mangelte es ihr gänzlich. Aufgrund ihres neugierigen Naturells und ihrer übersprudelnden Lebenslust konnte man sie nicht gerade als ruhig bezeichnen. Schon bald sollte Ruth merken, dass sie sich diese Sorge hätte sparen können. Denn in dem Augenblick, als sie das Café betraten und die heimelige Atmosphäre sie umfing, wurden sie beide von einem Wirbelwind überrollt, der niemand anderes als Myrtle Lancaster sein konnte. Noch während das kleine Glöckchen über der Tür klingelte, sprang die Frau mittleren Alters von einem der Tische am Fenster auf. Sie trug eine zerknitterte Schürze in einem leuchtenden Fuchsia-Farbton und hatte gerade bei einer Tasse Tee in einem Modemagazin geblättert. »Hallo! Willkommen im Homespun Café.« Ihre blauen Augen funkelten fröhlich. Während sie auf Mutter und Tochter zulief, schwang ihr kanariengelbes Kleid raschelnd hin und her und bildete einen scharfen Kontrast zu der Farbe der Schürze. Ruth hatte das Gefühl, in ein Kaleidoskop geraten zu sein. »Ich fürchte, ich kann Ihnen nur eine begrenzte Auswahl an Speisen anbieten, da meine neue Köchin noch nicht eingetroffen ist. Aber Sie finden hier auch eine schöne Auswahl an Quilts und lokalen Produkten, die Ihre wunderbaren Erinnerungen an den Besuch in Hope Springs wachhalten werden.« Mit dem Arm machte sie eine ausladende Geste und zeigte auf die genannten Gegenstände, die dekorativ auf Tischen und in Regalen drapiert worden waren. »Ich hoffe, ich werde etwas länger bleiben können als nur auf Besuch.« Ruth stellte ihre Taschen ab und streckte die Hand aus. »Ruth Fulbright. Ich bin die Köchin, auf die Sie gewartet haben.« Mrs Lancaster jauchzte vor Freude laut auf. Sie ignorierte Ruths Hand und zog sie stattdessen in eine feste Umarmung. Die überraschende Willkommensgeste überrum-pelte Ruth und sie wusste nicht recht, wie sie mit dieser überschäumenden Begeisterung umgehen sollte. Doch das schien ihre Chefin nicht im Geringsten zu stören. Ebenso schnell, wie sie sie sich geschnappt hatte, entließ sie Ruth wieder aus ihren Armen. Daraufhin schwankte diese wie ein Wetterfähnchen im Wind. »Oh, Mrs Fulbright, Sie haben keine Ahnung, wie sehr ich mich freue, Sie zu sehen!« Mrs Lancaster beugte sich vor und stützte die Hände auf die Oberschenkel. »Und dieser kleine Käfer muss wohl Naomi sein. Dorothea hat mir alles über Sie erzählt.« Naomi grinste die ihr fremde Dame freundlich an. »Der Mann beim Hotel hat gesagt, dass Sie Hühner haben. Ich bin eine wirklich gute Eiersammlerin.« »Bist du das? Na, da trifft es sich ja wunderbar, dass ich gerade auf der Suche nach einer erfahrenen Eiersammlerin bin. Kannst du gleich morgen anfangen zu arbeiten, Schätzchen? Ich zahle einen Penny die Woche.« »Sie müssen nicht …« Ruths Protest erstarb, als Myrtle abwinkte und ihr so zu verstehen gab, dass jeder Widerspruch zwecklos war. Naomi klatschte derweil schon begeistert in die Hände und richtete ihren Bettelblick auf Ruth. »Darf ich, Mama? Bitte?« »Nur wenn du Mrs Lancasters Anweisungen bis ins kleinste Detail befolgst.« »Das mache ich, versprochen!« Die Antwort zischte ein wenig durch die Lücke ihrer fehlenden Schneidezähne. Das Leuchten in ihren Augen erwärmte Ruths Herz. »Dann ist es abgemacht«, sagte Myrtle und richtete sich wieder auf. »Warum gehst du nicht schon mal nach hinten und begrüßt meine gefiederten Damen, während ich deiner Mutter hier alles zeige?« Naomi sah fragend zu Ruth. Sobald sie nur den Ansatz eines Nickens gesehen hatte, zischte die Kleine auch schon schnell wie der Blitz davon. »Ihre Tochter erinnert mich an meine Enkelinnen Edna und Ethel. Zwillinge, man mag es kaum glauben.« Myrtle schnappte sich ihre Teetasse und das Modemagazin und machte sich auf den Weg in den hinteren Teil des Gebäudes, wo vermutlich die Küche lag. Ruth folgte ihr in der Hoffnung, dass ihre Arbeitgeberin genau das von ihr erwartete. »Die beiden Energiebündel werden dieses Jahr neun. Aber sie leben zwei Countys entfernt, weshalb wir sie leider nicht so oft zu Gesicht bekommen.« Myrtle warf ein verschmitztes Grinsen über ihre Schulter. »Deshalb muss ich jetzt wohl Ihr kleines Mädchen verhätscheln.« »Das ist sehr freundlich von …« »Hier ist die Küche«, verkündete Myrtle und trat durch eine Schwingtür. »Der Ofen ist erst drei Jahre alt, am Waschbecken gibt es eine Wasserpumpe und die Speisekammer ist direkt angeschlossen. Abends kommt ein Mädchen und macht die vorderen Räume des Cafés sauber, also sind Sie nur für diesen Bereich hier verantwortlich. Machen Sie eine Liste mit allen Lebensmitteln, die Sie brauchen. Mr Lancaster besorgt sie dann für Sie. Die Speisekarte können Sie so gestalten, wie Sie wollen. Aber ich möchte bitte nichts Ausgefallenes. Die Leute, die nobel speisen wollen, essen meist im Hotel. Hier im Homespun Café dagegen erwartet man normale, leckere Hausmannskost. Auf jeden Fall muss es nachmittags immer Kuchen geben und morgens Pfannkuchen. Die Arbeiter in der Stadt lieben das.« In Gedanken machte Ruth sich Notizen. Stephen war von ihrem Essen immer begeistert gewesen und bei den Veranstaltungen ihrer Kirchengemeinde waren ihre mitgebrachten Leckereien oft als Erstes verputzt worden. Aber sie hatte noch nie professionell gekocht. Was würde passieren, wenn sie nicht genug Essen zubereitete? Was, wenn es den Gästen nicht schmeckte? Oder was, wenn …? »Und schließlich habe ich mich für Sie um ein kleines Cottage am Stadtrand gekümmert. Es ist zwar sehr rustikal, fürchte ich, aber durchaus wohnlich. Dorothea hat mir anvertraut, dass Sie momentan finanziell nicht sehr gut dastehen. Deshalb habe ich gar nicht erst in einem der Gästehäuser nachgefragt. Bei all den Kurgästen, die wegen der Mineralbäder und Anwendungen kommen, sind die Preise mittlerweile regelrecht durch die Decke gegangen. In Azlins Resort verlangen sie sage und schreibe vier Dollar pro Nacht! Können Sie sich das vorstellen? Das ist doch skandalös, so etwas! Aber die Leute lassen sich dadurch nicht abschrecken.« Frustriert schüttelte Myrtle den Kopf, während sie um einen kleinen Tisch herumlief. »Sie und der kleine Käfer können hier essen – natürlich erst, nachdem die Gäste versorgt wurden. Wir haben montags bis samstags von sieben bis neunzehn Uhr geöffnet. Sonntags ist geschlossen. Ich selbst führe den Andenkenladen und eine Bedienung kümmert sich um die Tische. Zwischen den Mahlzeiten dürfen Sie gerne die Küche verlassen und sich um persönliche Angelegenheiten kümmern.« Ruths Kopf schwirrte förmlich von all den Informationen, die auf sie einprasselten. Die bei Weitem Furcht einflößendste davon war, dass ein Zimmer im Hotel vier Dollar kostete. Man hatte ihr einen Lohn von acht Dollar die Woche in Aussicht gestellt. Selbst, wenn sie die Mahlzeiten hier einnehmen konnte, würde es wahrscheinlich schwer werden, in einer so teuren Stadt über die Runden zu kommen. »Dieses Cottage, das Sie erwähnt haben«, warf Ruth ein, als Myrtle endlich einmal Luft holen musste, »sagen Sie, wie hoch ist denn die Miete?« Myrtle winkte ab, als wäre die Summe unerheblich. Aber jede Summe war erheblich, wenn man nur noch einen Dollar und dreiundzwanzig Cent besaß. »Es ist eine Anzahlung von einer Monatsmiete zu leisten, aber danach sind es nur noch zwanzig Dollar im Monat.« Beinahe hätten Ruths Knie unter ihr nachgegeben. Zwanzig Dollar im Monat! Wie sollte sie da Naomi mit Kleidung und Schuhen versorgen? Außerdem würden sie jetzt, wo der Winter vor der Tür stand, einen ausreichenden Vorrat an Kohle brauchen. Ganz zu schweigen von Schulbüchern, Kerosin und einer Grundausstattung für das Häuschen. Im Augenblick hatten Naomi und sie nicht einmal einen Teller, von dem sie essen konnten. Und all diese Dinge würden sie sich ohnehin erst leisten können, wenn sie einen oder zwei Monate gearbeitet hatte. Eine Vorauszahlung war also vollkommen unmöglich. »Gibt es noch eine andere Wohnmöglichkeit? Vielleicht ein einzelnes Zimmer? Naomi und ich brauchen gar nicht viel Platz.« Das Gesicht ihrer neuen Chefin wurde mitfühlend. »Ich fürchte nicht. Die meisten Einwohner vermieten ihre Zimmer zu hohen Preisen an Kurgäste. Auch unser freies Zimmer hat Mr Lancaster vermietet. Es ist die nächsten drei Monate ausgebucht. Vielleicht kann ich mit ihm reden, ob wir es danach zu einem geringeren Preis an Sie und Ihre Tochter vermieten könnten. Aber eigentlich brauchen wir die zusätzlichen Einnahmen, um regelmäßig unsere Enkelinnen zu besuchen …« »Und so sollte es auch bleiben.« Ruth würde diese gutherzige Frau auf keinen Fall anbetteln. Irgendwie würde sie es schon schaffen. »Ich bin mir sicher, dass uns das Cottage sehr gut gefallen wird. Es war sehr freundlich von Ihnen, dass Sie sich darum gekümmert haben.« Vielleicht könnte sie den Eigentümer davon überzeugen, dass sie wöchentlich einen Abschlag zahlte und nicht die Summe als Ganzes. Ganz bestimmt würde sich irgendeine Lösung finden lassen. »An wen soll ich mich wegen der Vermietung wenden?« Erleichterung strahlte ihr aus Myrtles Gesicht entgegen. »Dafür ist Mr Azlins Geschäftsführer, Mr Palmer, zuständig. Sie finden ihn im Hotel.« »Das Cottage gehört Mr Azlin?« In Ruths Magen machte sich Angst breit. Reiche Männer waren ihr nicht gerade die sympathischsten. »Natürlich, Liebes. Fast alles hier in der Stadt gehört Mr Azlin.«

Kapitel 1Oktober 1890 Hope Springs, TexasRuth Fulbright hielt ihre schlafende siebenjährige Tochter im Arm und blieb erst einmal sitzen, nachdem die Postkutsche zum Stehen gekommen war. Die anderen Reisenden hingegen, die sich offensichtlich für etwas Besseres hielten, setzten alles daran, den Wagen so schnell wie möglich zu verlassen. Der modisch gekleidete Herr zu ihrer Linken, der eindeutig zu viel Pomade im Haar hatte, rempelte Ruth mit seinem Ellbogen an, als er aufstand. Um ihm auszuweichen, lehnte sie sich nach rechts - und stach sich beinahe das Auge an der Hutfeder der ältlichen Matrone aus, die gerade die Kutschentreppe hinunterstieg.Na wunderbar! Wer hätte gedacht, dass eine Reise mit der Postkutsche so gefährlich sein könnte? Sie hatte doch tatsächlich geglaubt, Banditen wären das Schlimmste, was ihr auf der gut dreißig Kilometer langen Reise vom Bahnhof in Weatherford hierher begegnen könnte. Doch da hatte sie ihre Rechnung ohne all die mitleidigen Blicke, das snobistische Schnauben und den spitzen Federschmuck gemacht. Niemals hätte sie sich träumen lassen, dass sich damit ein solcher Schaden anrichten ließe. Obwohl ihr das eigentlich nichts anhaben sollte. Als Frau, die nach dem Ende des Bürgerkrieges in den verwüsteten Südstaaten aufgewachsen war, hatte sie gelernt, sich auf jedem gesellschaftlichen Parkett zu behaupten.Ihr Kleid mochte fadenscheinig sein, das Leder ihrer Schuhe hauchdünn und an ihrem Finger fehlte der Ring, doch sie war sauber, unbescholten und hatte nicht den geringsten Grund, sich zu schämen.Jetzt schob sich der Herr mit der vielen Pomade im Haar an ihr vorbei und rempelte dabei ihre Tochter an.»Entschuldigung«, murmelte er, doch sein Blick verriet, dass er in Wahrheit ihr die Schuld dafür gab, dass Naomi ihm im Weg gewesen war. Ein echter Gentleman hätte ihnen den Vortritt gelassen und gewartet, bis Ruth und Naomi ausgestiegen waren. Oder er hätte ihnen seine Hilfe angeboten. Doch offensichtlich sah er sie nur als Hindernis an, nicht als eine echte Dame.»Mama?« Naomi hob den Kopf von ihrer Brust und öffnete ihre wunderschönen braunen Augen, die Ruth so sehr an die ihres Mannes erinnerten.Augenblicklich fuhr ihr ein Stich durchs Herz. Stephen war nun schon seit zwei Jahren tot. Seit zwei Jahren, drei Monaten und neun Tagen. Ach, sie sollte wirklich aufhören zu zählen. Es brachte schließlich nichts, ihre Zeitrechnung nach ihrem Verlust auszurichten. Es war nur schon so lange her, dass sie etwas wirklich Positives erlebt hatte ... Aber genug davon. Ruth richtete sich auf und lächelte ihre Tochter an. »Guten Morgen, Schlafmütze.« Sie strich Naomis Pony zurück und küsste sie auf die Stirn. »Wir sind da.«Naomis Augen wurden groß und sie grinste. »In unserem neuen Zuhause?«Ruth nickte. Sofort machte ihre Tochter sich von ihr los und sprang auf. Gott sei gelobt für den Optimismus der Jugend. Ruth wusste nicht, wie sie die letzten Monate ohne Naomi hätte überstehen sollen, die selbst durch die dunkelsten Wolken hindurch noch die Sonnenstrahlen sah. Und dunkle Wolken hatte es wirklich mehr als genug gegeben. Doch das schien nun fast vergessen, als ihre strahlende Tochter so aufgeregt vor ihr stand.»Komm schnell!« Dank ihrer geringen Körpergröße konnte Naomi selbst in der niedrigen Postkutsche ohne Probleme aufrecht stehen. Neugierig lief sie auf den Ausstieg zu. Dort wäre sie fast wieder mit dem wenig freundlichen Herrn zusammengeprallt. Doch im letzten Augenblick blieb sie stehen und wirbelte ungeduldig herum. »Jetzt komm endlich, Mama! Hope wartet auf uns!«»Hope Springs«, korrigierte Ruth, während sie sich allmählich von der Vorfreude ihrer Tochter anstecken ließ.Hope - die Hoffnung. Hier musste einfach Hoffnung auf sie warten. Denn es gab keinen anderen Ort mehr, an dem Ruth sonst danach hätte suchen können.Sobald der Pomadenmann zur Seite getreten war, sprang Naomi wie ein Kaninchen aus der Postkutsche. Ruth grinste und schüttelte den Kopf. Sollte das Mädchen nur laufen und sp

Erscheinungsdatum
Übersetzer Rebekka Jilg
Sprache deutsch
Original-Titel Gift of the heart
Maße 125 x 187 mm
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Behinderung • Erbstück • Familie • Gottvertrauen • Liebesgeschichte • Neuanfang • Roman • Romanze • Texas
ISBN-10 3-96362-129-X / 396362129X
ISBN-13 978-3-96362-129-1 / 9783963621291
Zustand Neuware
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