Das Museum der Welt (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2020 | 2. Auflage
400 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-43723-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Museum der Welt -  Christopher Kloeble
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Ein indischer Waisenjunge auf der Reise seines Lebens Bartholomäus ist ein Waisenjunge aus Bombay, mindestens zwölf Jahre alt und er spricht fast ebenso viele Sprachen. Daher engagieren ihn die deutschen Brüder Schlagintweit, die 1854 mit Unterstützung Humboldts zur größten Forschungsexpedition ihrer Zeit aufbrechen, als Übersetzer für ihre Reise durch Indien und den Himalaya. Bartholomäus folgt ihnen fasziniert, aber misstrauisch: Warum vermessen ausgerechnet drei Deutsche das Land, sammeln unzählige Objekte, wagen sich ins unbekannte Hochgebirge, riskieren ihr Leben? Es ist doch seine Heimat - und er will der Mann werden, der das erste Museum Indiens gründet.

Christopher Kloeble ist ein vielfach ausgezeichneter Autor von Romanen, Erzählungen und Drehbüchern. Als Gastprofessor lehrte er u.a. in Cambridge (GB) und den USA. Kloeble lebt in Berlin und Delhi.

Christopher Kloeble ist ein vielfach ausgezeichneter Autor von Romanen, Erzählungen und Drehbüchern. Als Gastprofessor lehrte er u.a. in Cambridge (GB) und den USA. Kloeble lebt in Berlin und Delhi.

BEMERKENSWERTES OBJEKT NO. 1


Das Museum der Welt


Mein Name ist Bartholomäus, ich bin mindestens zwölf Jahre alt und heute, am 20. Oktober 1854, habe ich das erste Museum Indiens gegründet. Ich nenne es das Museum der Welt. Smitaben sagt, es sollte vielmehr das Museum der Armseligkeit heißen. Aber was weiß eine Köchin aus dem fernen Gujarat schon von solchen Dingen. Ich will nichts Schlechtes über sie schreiben (auch wenn sie nicht lesen kann), doch überrascht sie mich immer wieder damit, wie wenig sie versteht, und zwar in mehr als einer Hinsicht. Nach mehr als zehn Jahren in Bombay spricht sie kaum ein Wort Marathi oder Hindi. Ohne meine Hilfe wüsste niemand im Glashaus, welche Speisen sie uns auftischt, und Smitaben könnte dem Sabzi-Wallah unmöglich mitteilen, welches Gemüse sie benötigt. Wenn er in den frühen Morgenstunden mit seinem Karren vor dem Tor hält, ist sie längst wach und putzt eines der vielen Fenster, denen Sankt Helena seinen Beinamen verdankt. Smitaben steht von uns allen immer als Erste auf, ich bin nicht einmal sicher, ob sie überhaupt schläft. Abends, wenn das Licht im Schlafsaal gelöscht wird, hören wir sie noch unten in der Küche, wie sie Töpfe schrubbt und Schaben jagt. Sie hat keine Familie, jedenfalls keine leibliche. Alle Waisen nennen sie Maasi, auch wenn sie von niemandem die richtige Tante ist. Ihr Haar ist weiß, nicht grau wie das anderer Maasis, sondern so weiß wie der Teig des portugiesischen Brotes, das sie uns manchmal backt. Mit dem Geschmacksinn kennt sich Smitaben aus. Ihr salzig-süßes Handvo ziehe ich fast allen, nein, allen Speisen Bombays vor. Leider sind ihre anderen Sinne weniger entwickelt. Sie hat so viel Lebenszeit damit verbracht, Gewöhnliches zu sehen, dass alles Bemerkenswerte für sie unsichtbar ist. Wie einfältig von mir, das nicht zu bedenken! Smitaben reagierte auf das erste Museum Indiens entsprechend ihrer bäuerlichen Natur: Sie gab mir einen Klaps auf den Hinterkopf, der aber nicht wehtat, und verschwand wieder in ihrem Territorium, der Küche.

Ich machte mich auf nach draußen, um das Museum Devinder zu zeigen. Devinder ist unser Gärtner. Er stammt aus dem Punjab. Obwohl er kein Sikh ist, lässt er sein Haar wachsen. Überall, hat er mir einmal zugeflüstert. Er behauptet, sich die Haare zu schneiden oder gar zu rasieren, wie etwa Vater Fuchs, entbehre jeglicher Männlichkeit. Ich behaupte, Devinder ist zu faul und auch zu arm, um einen Barber aufzusuchen. Ersteres lässt sich eindeutig am Zustand der Pflanzen rund ums Glashaus ablesen: Die Palmen beugen sich, als würden sie sich vor der Sonne verneigen, der Rasen ist in die Erde zurückgekrochen und die Blüten von Mogra verwelken, bevor sie richtig aufgegangen sind. Vater Fuchs bringt es dennoch nicht übers Herz, Devinder zu entlassen. Daher weiß ich, dass Devinder arm ist. Denn Vater Fuchs behandelt alle, die er als arm betrachtet, viel zu freundlich. Er muss einer der freundlichsten Menschen in ganz Bombay sein.

Aber ich wollte von Devinder erzählen. Auch ohne Vater Fuchs wüsste ich, dass Devinder arm ist. Alle Menschen, die ich kenne, sind arm. Wir besitzen nicht mehr als unsere Kleidung und Hoffnung. Darauf, dass wir eines Tages vielleicht nicht reich, aber zumindest weniger arm sein werden. Es gibt nämlich nur ein reich und viele Formen von arm. Das Problem ist, gerade Hoffnung kann ein dämonischer Besitz sein. Devinder ist geradezu von ihr besessen. Was niemanden erstaunen wird, lebt er doch mit seiner Großmutter und seinen Eltern und seiner Frau und ihren Eltern und seinen Kindern in einem Chawl in Blacktown. Dort teilen sie ein Zimmer. Auf ein und derselben Matte schlafen sie, essen sie und werden mehr. Devinders Familie stirbt viel langsamer als sie wächst. An einem langen, rostigen Nagel in der Wand des Zimmers hängt ein Stuhl. Dieser Stuhl wird nur heruntergeholt, wenn sie Besuch haben. Besuch von respektablen Gästen wie Vater Fuchs. Vor einigen Jahren hat Devinder den Stuhl in einer Bucht gefunden und vor dem Salzwasser gerettet. Die Parsis, Banias, Portugiesen und natürlich die Vickys* können es sich leisten, Eigentum ins Meer zu werfen. Sie besitzen weitaus mehr Möbelstücke als Familienmitglieder.

Wahrscheinlich ist Devinder gar nicht faul, eher müde. Es kostet ihn Kraft, die Hoffnung am Leben zu halten. Das macht er am liebsten hinter dem Gartenschuppen, im Schatten eines Feigenbaumes. Buddha hat unter einem solchen Weisheit erlangt, Devinder dagegen flößt sich Hoffnung ein. Er tut das wie die meisten von uns, indem er schläft. Vor allem in den Mittagsstunden, wenn die dicke Luft Bombays den Schweiß aus den Menschen presst wie Smitaben den Saft aus einer reifen Imli.

Die Gegenstände meines Museums waren beim Transport in den Garten verrutscht. Bevor ich Devinder weckte, musste ich sie neu hinrichten. Dann stupste ich ihn mit dem Fuß.

Devinder bat mich, ihn weiterschlafen zu lassen.

Ich versprach ihm, so etwas wie mein Museum habe er noch nie gesehen.

Damit ließ er sich locken. Anders als Smitaben ist Devinder noch hungrig auf Bemerkenswertes. Er rieb sich die Augen.

Vorsichtig stellte ich das Museum neben ihm ab. Devinder blinzelte einige Male, betrachtete es, dann mich, dann wieder es und schließlich erneut mich.

Ich fragte ihn, was er sehe.

Eine alte Holzkiste, sagte er.

Eine Ausstellungsfläche, sagte ich und fragte ihn, was er darin sehe.

Unrat, sagte er.

Meine Sammlung, sagte ich.

Du sammelst Unrat?, fragte er mich.

Ich wollte nicht gleich aufgeben.

Meine Sammlung ist eine holistische, sagte ich.

Seine Miene war ausdruckslos.

Ich sagte: Holistisch bedeutet das Ganze betreffend. Es baut auf der Idee, dass alles mit allem zusammenhängt. Jedes Objekt, wie wertlos es auch erscheinen mag, ist auf seine Art bemerkenswert und kann uns helfen, die Welt zu verstehen.

Selbst ein Stein?

Besonders ein Stein.

Jetzt lächelte er durch seinen dichten Bart.

Damit stehe ich in der Tradition von Humboldt, sagte ich.

Er wollte wissen, was ein Humboldt ist.

Der größte Wissenschaftler unserer Zeit!

Der größte Wissenschaftler unserer Zeit sammelt Unrat?

Das war mir dann allerdings doch zu viel, ich nahm mein Museum und ging.

Ich hatte noch etwas nicht bedacht: Um etwas Bemerkenswertes zu erkennen, braucht es nicht nur Hunger, sondern eine gewisse Schärfe im Blick.

Ich trug das Museum zum Papierzimmer. Die Wände, Böden, Regale und der Schreibtisch dort sind von so vielen Lagen Schriftrollen und Depeschen und Briefen überzogen, dass man meinen könnte, der Raum sei aus Papier gebaut. In ihm hält sich meist der Herr der Existenz auf. Das ist die Bedeutung von Hormazds Namen, die er niemandem vorenthält. Sie ist auch zutreffend, denn er ist für die Finanzen vom Glashaus verantwortlich. Im Gegensatz zu Smitaben oder Devinder kann Hormazd lesen und schreiben. Als Parsi wurde er schon im Mutterleib mit Zahlen und Buchstaben gefüttert. An guten Tagen liest mir Hormazd aus der Bombay Times vor, was in der Welt geschieht. An schlechten Tagen trinkt er zu viel Pale Ale und verbringt die Nacht im Papierzimmer, weil er eine, wie er stets sagt, elaborierte Debatte mit seiner Frau hatte. Nach solchen elaborierten Debatten hat er oftmals ein blaues Auge und trägt sein Topi schief auf dem Kopf. Smitaben hat mir erzählt, um welches Thema diese Debatten kreisen. Obwohl Hormazd die am wenigsten arme Person ist, die ich kenne (er lebt im Fort und nicht in Blacktown), fehlt es ihm doch wesentlich an einem: Nachkommen. Hormazd und seine Frau missen, was Devinder im Überschuss hat. Woran das liegt? An Hormazd, sagt seine Frau. An seiner Frau, sagt Hormazd. An seinem falschen Glauben, sagen Devinder und Smitaben. Die beiden teilen selten eine Meinung, aber in einem sind sie sich einig: Hormazd hätte längst Kinder gezeugt, wenn er als Hindu auf die Welt gekommen wäre. Ich sage, Hormazds Lösung befindet sich doch direkt vor ihm. Er arbeitet schließlich in einem Waisenheim. Auf diese Idee sind auch schon andere gekommen. Einige Kinder sind ausnehmend freundlich zu ihm, bringen ihm eine Chiku, stellen ihm Fragen zum Zoroastrismus, als würden sie sich dafür interessieren. Sie verstehen nicht, dass er niemals einen von uns adoptieren wird. Ein Parsi nimmt nur Parsis in seine Familie auf (falls es Parsi-Waisenkinder gibt; ich bin noch nie einem begegnet). Ein Hindu, Moslem oder Christ würde nicht anders handeln. Darin liegt das Problem von Indien, sagt Vater Fuchs, Tausende unterschiedliche Bausteine wollen nicht für dasselbe Gebäude verwendet werden. Dabei könnten sie gemeinsam einen Palast erschaffen!

Als ich die Tür zum Papierzimmer öffnete, entstand ein Luftzug und die vielen losen Seiten raschelten. So, stelle ich mir vor, muss der Herbst in Vater Fuchs’ Heimat klingen. Eine Jahreszeit, die es bei uns nicht gibt. Wir haben immer Sommer. In Bombay wechselt der Hochsommer mit dem Monsun in einen Sommer, in dem es von unten und von oben regnet, bevor sich der Sommer gegen Jahresende ein wenig zurücknimmt, nur um bald darauf wieder mit aller Kraft zu brennen.

Im Papierzimmer ballte sich heiße Luft. Vor dem geöffneten Fenster hingen Tücher. Sie waren steif und trocken, Hormazd hatte sie lange nicht mehr in Wasser getaucht.

Ich stellte das Museum neben dem Schreibtisch ab, an dem er saß. Seine rot unterlaufenen Augen waren geöffnet, aber ich musste auch ihn wecken. Wenn er kalkuliert, verstopfen die Zahlen seinen Kopf.

Ich tippte ihm auf die Schulter.

Nicht jetzt, sagte er.

Aber das sagt er immer, es bedeutet: Gib dir mehr Mühe, damit ich weiß, dass du meine Zeit wert bist.

Hormazd Sir?...

Erscheint lt. Verlag 21.2.2020
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 19. Jahrhundert • Abenteuerroman • Alexander von Humboldt • Alex Capus • Bayern • Bergsteiger • Bombay • Botanik • Brüder • Daniel Kehlmann • East India Company • Eiszeit • Expedition • Forschungsreise • Forschungsreisender • Geographie • Humboldt • Indien • Landschaft • München • Naturforscher • Nepal • Reise • Sachbuch • Schlagintweit • Staatsmacht • Unabhängigkeitskrieg • Waisenjunge
ISBN-10 3-423-43723-5 / 3423437235
ISBN-13 978-3-423-43723-3 / 9783423437233
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