Alma Mater

Buch | Softcover
555 Seiten
2020 | 1. Auflage
Francke-Buch (Verlag)
978-3-96362-157-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Alma Mater - Birthe zur Nieden
15,95 inkl. MwSt
Marburg in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges:
Georg Kammann hätte sich nie träumen lassen, dass ausgerechnet er einmal Theologie studieren würde. Doch ein Überfall auf sein Heimatdorf, ein erhörtes Gebet und die Großzügigkeit seiner adeligen Patentante führen ihn in die Universitätsstadt Marburg. Hier eröffnen sich dem einfachen Lehrerssohn ungeahnte Möglichkeiten. Doch dann wird Marburg immer mehr zum Spielball der Mächtigen. Der Streit zwischen den Hessen-Kasselischen und den Hessen-Darmstädtischen entflammt neu und wird schonungslos auf dem Rücken der einfachen Bevölkerung ausgetragen. Während die Kanonen donnern, muss Georg plötzlich selbst kämpfen: um seine Zukunft, seine Berufung, seinen Glauben und um das Mädchen, das er liebt.

Birthe zur Nieden hat in Marburg Geschichte studiert, weil sie die Geschichten hinter den Jahreszahlen faszinieren. Danach blieb sie einfach dort und lebt und arbeitet bis heute in ihrer Wahlheimat. Ihre Freizeit verbringt sie am liebsten mit Schreiben, Lesen, Träumen oder im Pferdestall.

1. Kapitel 1641 »… und darum kehrt um von euren schlechten Wegen, kehrt euch ab von Unzucht und Habgier, von Aufbegehren und Zorn, und tragt das Kreuz willig, das uns unser Herr auferlegt hat durch diese verderblichen Zeiten.« Georg schob sich eine braune Strähne aus den Augen und unterdrückte zum fünften Mal an diesem Sonntagmorgen ein Gähnen. Die Predigten des Pfarrers ähnelten einander in letzter Zeit wie ein Ei dem anderen. »Macht euch nichts vor – es ist eine Prüfung, aus der wir geläutert hervorgehen sollen oder aber in ihr vergehen. Darum sage ich es noch einmal: Tut Buße, weint und fleht unseren Herrn Jesus Christus an, dass er sich unser erbarme und Krieg, Gewalt und Hunger von uns nehme.« Pfarrer Eysold hob beide Hände, woraufhin die weiten Ärmel seines Talares daran hinabrutschten und die Löcher in seinem verschlissenen Hemd sichtbar wurden, und rief mit Nachdruck sein übliches »Amen, amen – amen« in den Günsendorfer Kirchenraum hinaus, bevor er mit wenig Stimmgewalt einen Choral anstimmte. Sein Atem stand dabei in kleinen Wölkchen vor ihm in der kalten Luft. Georg setzte nur zögerlich ein und sang ohne große Lust. Vor ihm steckten zwei der anderen Jungen des Dorfes, Hans Rüppell und Friedrich Werner, die Köpfe zusammen. Sie taten es leise, aber er konnte an ihren zuckenden Rücken sehen, dass sie kicherten. Wie albern und kindisch – dabei waren beide schon fast sechzehn und damit sogar mehrere Monate älter als er selbst. Der Gemeindegesang war dünn und nach dem Segen endete der Gottesdienst. Vor der Kirche empfing Georg heller Sonnenschein, der nach dem Dämmerlicht in der Kirche in den Augen stach. Der Schnee unter seinen Füßen knirschte noch vor Kälte, aber das Licht begann langsam, nach Frühling auszusehen. Trotz der eisigen Temperaturen blieben die meisten Gottesdienstbesucher noch einen Augenblick lang vor der Kirche stehen. Es fanden nicht viele Unterhaltungen statt, man schwieg mehr miteinander. Wie es den anderen ging, wusste man so oder so längst und brauchte nicht danach zu fragen. Gut ging es niemandem, schließlich war die Ernte im Herbst spärlich ausgefallen, nachdem sich vorbeiziehende Heere immer wieder an den Feldern bedient hatten. Aber man kam durch. »Na, Georg, büßest du schon oder verschiebst du das auf nachmittags?« Friedrich grinste breit und hatte die Arme in die Hüften gestemmt. Hans neben ihm tat es ihm gleich. Georg wunderte sich wieder einmal, dass sein schlaksiger Körper in letzter Zeit derart in die Höhe gewachsen war, dass er auf die beiden stämmigeren Jungen hinunterschauen konnte, und schüttelte den Kopf. »Ihr nehmt aber auch wirklich gar nichts ernst, oder? Gekicher in der Kirche! Ihr benehmt euch kindischer als meine kleinen Geschwister.« »Ach, der wohlgelehrte Herr Kammann weilt mal wieder unter uns«, sagte Hans in geziertem Tonfall. »Du bist wahrscheinlich der Einzige im Dorf, der den Herrn Pfarrer noch mit Ehrfurcht anschaut. Na, du wirst bestimmt sowieso selbst mal Pfarrer und predigst dann auch, dass wir selber schuld sind am Krieg und allem, weil wir so schlechte Menschen sind.« Georg zog es vor, nicht darauf zu antworten, obwohl er ganz bestimmt niemals Pfarrer werden wollte. Schon gar nicht in diesen Zeiten. Dass Pfarrer Eysold viel von seinem ehrwürdigen Ansehen verloren hatte, lag nur zum Teil daran, dass er früher noch breite Schultern und einen runden Bauch gehabt hatte, während ihm jetzt sein Talar um die mageren Glieder schlackerte. Das Hauptproblem war, dass es einfach lächerlich wirkte, wie er versuchte, den Anschein seiner früheren Stellung aufrechtzuerhalten, während seine Frau sich in mehrere Lagen ihrer inzwischen fadenscheinigen Kleider hüllte, weil sie ebenfalls ganz knochig geworden war und seitdem ständig fror. Und man konnte nicht anders, als sich zu fragen, ob er mit all dem Gerede von der Schlechtigkeit seiner Gemeinde nicht auf die spärlicher werdenden Zahlungen an ihn abzielte und ihren zunehmenden Unwillen, ihm den unterwürfigen Respekt zu zollen, der ihm seiner Meinung nach gebührte. Ja, es war schwer, ihn noch ernst zu nehmen. Aber das würde er vor Friedrich und Hans niemals zugeben. »Aha. Kein Kommentar ist auch ein Kommentar.« Friedrich grinste wieder und wechselte dann das Thema. »Was ist – kommst du mit zum Eislaufen?« Georg schüttelte den Kopf. Die Kufen, die er sich vor einem Jahr aus den Fußknochen des letzten Schweines der Familie gebastelt hatte, waren bisher kaum zum Einsatz gekommen, aber es zog ihn auch heute nichts aufs Eis des Dorfteiches. Hans knuffte Friedrich in die Seite. »Warum fragst du überhaupt noch? Los, gehen wir. Soll er sich doch in seinen Büchern vergraben, bis seine Schielaugen ihm wieder Kopfschmerzen machen.« Genau das hatte Georg vor, allerdings hoffentlich abzüglich der Kopfschmerzen. Diesmal würde er aufpassen, dass er nicht wieder zu lange las. Während die Jungen des Dorfes nach Hause liefen, um sich ihre Kufen unter die Schuhe zu schnallen, kehrte er vor dem Rest seiner Familie in das schmale Fachwerkhaus mit dem Strohdach zurück. Im Flur zögerte Georg kurz, zog seinen alten, fleckigen Mantel dann aber doch von den Schultern. Das lockere Kleidungsstück aus verblichenem dunkelbraunen Wollstoff, das ihn eigentlich bis zu den Oberschenkeln hinab wärmen sollte, reichte ihm inzwischen gerade einmal bis über den Po. Er war viel zu sehr gewachsen in den letzten anderthalb Jahren. »Zwei Bohnenstangen«, sagte seine Mutter oftmals kopfschüttelnd und meinte damit Georg und seinen Vater, dessen Körpergröße er schon fast erreicht hatte. Er legte den Mantel ab und beeilte sich, die hölzerne Stiege zum ungeheizten Obergeschoss hinaufzukommen. Von dem Bett, das er sich mit seinem kleinen Bruder Christoph teilte, griff er sich als Ersatz für den Mantel eine Decke und betrat dann die Kammer im hinteren Teil des Hauses. Sein Vater, der Schulmeister, Küster und Glöckner des Dorfes, hatte sich diesen Rückzugsraum eingerichtet, um sich ungestört seinen Studien widmen zu können und um die wertvollen Bücher vor den frechen Fingern seiner Schüler zu schützen. Als Georg vor dem Regal stand und über die teilweise in feste Pappe, teilweise aber auch in Leder gebundenen Rücken der Bücher strich, floss ihm ein warmes Gefühl durch den Körper. Wieso sollte er sinnloses Herumrutschen auf dem Eis all dem Wissen vorziehen, das hinter diesen Rücken schlummerte? Vorsichtig, ja, zärtlich zog er einen Band über antike Redekunst heraus. Als er sich in die Decke gehüllt am Pult seines Vaters niederließ und das Buch aufschlug, war das leise Rascheln der Seiten beim Umblättern wie die Begrüßung eines Freundes. Georg schaute nur kurz von seinem Buch auf, als er unter sich seine Familie aus der Kirche zurückkommen hörte. Der sechsjährige Christoph war wie immer am lautesten und erzählte von einer Schneeballschlacht und seinem liebsten Holzpferd. Der kleine Martin ließ sich anstecken und krähte unverständliche Worte. Nur von Georgs einziger Schwester Klara hörte man gar nichts. Das Geplapper verklang in der Küche, die gleichzeitig der hauptsächliche Wohnraum der Familie war, und Georg wollte sich gerade weiter Cicero und der Rhetorik widmen, als er durch die Dielen die Stimme seiner Mutter hörte: »Sie wird immer stiller, Friedrich. Und sie ist kaum größer als Christoph, dabei wird sie doch bald acht. Ich weiß einfach nicht, was ich noch tun soll – sie bekommt doch schon den größten Teil des bisschen Fettes, das wir haben.« »Ich weiß. Es ist, als ob das wenige, was sie in den Magen bekommt, einfach durch sie hindurchfließt und kaum Kraft und Fett hinterlässt.« Georg hörte seinen Vater tief durchatmen. »Ich wünschte, ich könnte meine Familie besser ernähren. Ich bin kein guter Hausvater.« »Unsinn! Der Krieg ist schuld, nicht Ihr.« »Ich könnte aber nachdrücklicher sein und meinen vollen Lohn verlangen. Aber das bringe ich einfach nicht fertig. Die anderen haben doch auch nichts. Sie würden dann wohl nur ihre Kinder nicht mehr zur Schule schicken.« »Ja.« Einen Augenblick herrschte Stille und Georg dachte schon, seine Eltern wären in die Küche gegangen, aber dann hörte er noch einmal die Stimme seines Vaters, leise und zaghaft: »Ich hätte mich Gundlach anschließen sollen, als der sich vor drei Wochen den Marodeuren entgegenstellen wollte, anstatt dafür zu stimmen, in den Wald zu flüchten. Dann hätten wir den Käse noch und die gefrorene Butter in dem Fass auf dem Hof, die sie mitgenommen haben. Ich bin ein Feigling.« »Ihr seid, wie Ihr seid. Und diese Bande von entlaufenen Soldaten hätte Euch doch nur niedergemacht und wir stünden jetzt allein da. Was hättet Ihr damit gewonnen?« »Meine Söhne bräuchten sich wenigstens nicht für mich zu schämen.« »Ach, Friedrich.« Georgs Mutter seufzte und Georg begriff, dass sie keine Kraft mehr hatte, ihren Mann zu ermutigen. »Ich muss die Eicheln für das Brot vorbereiten, damit wir wenigstens etwas zwischen die Zähne bekommen.« Die Tür klappte und kurz darauf hörte Georg ein leises Plätschern, als sie im Hof das braun verfärbte Wasser aus der Schale abgoss, in der die Eicheln mehrere Tage einweichen mussten, bevor sie zu Mehl verarbeitet werden konnten, weil Brot und Brei sonst ungenießbar bitter wurden. Gleichzeitig knarrte die Stiege. Georg senkte den Kopf und tat, als hielte er sich die Ohren zu, damit sein Vater dachte, er habe das Gespräch nicht mit angehört. Aber der Vater kam gar nicht in die Kammer, sondern ließ sich schwer auf eines der Betten fallen, Georg hörte es am Knistern des Strohsacks. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er hinausgehen und versuchen sollte, seinen Vater zu trösten, ihm zu sagen, dass er sich keineswegs für ihn schämte – aber dann presste er die Hände richtig auf seine Ohren und verkroch sich lieber in der Welt der gedrechselten Sprache. Was würden seine armseligen Worte schon ändern? Am nächsten Tag prasselte Regen an die Sprossenfenster, ab und zu durchsetzt mit einigen Graupelkörnern. Von der Bank aus, auf der Georg saß, konnte er nur den grauen Nachmittagshimmel sehen, aber es war nicht schwer, sich auszumalen, was der Regen aus dem gestern noch knietiefen Schnee machte. Die anderen Jungen hatten also womöglich die letzte Gelegenheit zum Schlittschuhlaufen genutzt. Bald würde das Eis nicht mehr tragen. Der Frühling kündigte sein Kommen auf die unfreundlichste Art und Weise an, aber immerhin kam er endlich. Vielleicht würde es dann auch wieder mehr zu essen geben, bald, im Sommer. Falls es dieses Jahr möglich sein würde, eine Ernte einzubringen, ohne dass eine Armee vorbeikam und alles mitnahm oder niedertrampelte. Georg sah zum anderthalbjährigen Martin hinüber, der in der Ecke vor dem Herd mit Holzklötzen spielte. Er war zwar noch pausbäckig, aber Georg wusste, dass das nichts heißen musste. Schließlich war Martin ein Kleinkind, die wirkten immer rundlich. Klara hingegen sah längst ganz anders aus – mit den Worten seiner Eltern im Ohr hatte er zum ersten Mal bewusst wahrgenommen, wie blass und durchscheinend seine Schwester geworden war … Georg starrte auf das Stück Holz, an dem er gerade herumschnitzte, und wünschte sich von der Arbeit und den bedrückenden Gedanken weg in Vaters Kammer hinauf, auch wenn er längst alle Bücher gelesen hatte, die dort standen. Er wollte mehr. Wenn er doch nur studieren könnte – aber das würde nie geschehen, so viel hatte er längst begriffen. Selbst sein Vater hatte nicht studiert, obwohl damals noch kein Krieg gewesen war. Und jetzt, wo man sich glücklich schätzen konnte, wenn man den Winter überlebt hatte, war es erst recht unmöglich, das Geld für die Universität aufzubringen. Trotzdem träumte er davon, genauso wie von einem Festmahl mit Fleisch, und zwar nicht von toten Mardern oder Eichhörnchen, sondern von Schweinen oder Kühen, und echtem Brot ohne Eichel- oder Wickenmehl, von dem man richtig satt werden konnte. Er stellte sich vor, wie es sein musste, lernen zu dürfen, nachdenken und nachforschen zu können in einer richtigen Bibliothek mit ganzen Wänden voller Bücher – satt zu werden vom Wissen und dann mit diesem Wissen die Welt zu verändern, ein wenig besser zu machen, die Gedanken der Menschen in eine neue Richtung zu lenken … »Georg Nicolaus Kammann! Hörst du schlecht?« Georg schreckte hoch. »Nein, Mutter. Ich habe nur nachgedacht.« Seine Mutter seufzte tief. »Und zwar nicht über den Hackenstiel in deinem Schoß. Dadurch, dass du das Messer nur in der Hand hältst, werden wir im Frühjahr keine Rüben säen können.« »Tut mir leid«, murmelte Georg und begann lustlos, weiter an dem Stück Holz herumzuschnitzen. Seine Mutter ließ die Stricknadeln sinken. »Wenn du ja über deine Zukunft nachdenken würdest, anstatt in Philosophie, Mathematik und all dem anderen Bücherwissen herumzuträumen! Es wird wirklich Zeit, dass du dir eine Lehrstelle suchst, Georg. Du kannst nicht sehr viel länger zur Schule gehen, du bist fast erwachsen und musst dein eigenes Brot verdienen!« Georg erstarrte. Eine Lehrstelle? Darüber wollte er nicht einmal nachdenken! Er wollte nicht weg von zu Hause, von der Schule und von Vaters Büchern. Wenn er ehrlich mit sich war, nicht einmal, um auf eine Universität zu gehen. »Deine Mutter hat recht«, mischte sich sein Vater in das Gespräch ein. »Ich wünschte, ich könnte dir ein Studium ermöglichen, du hast den Verstand und den Wissensdrang dafür, aber das geht nun einmal nicht. Selbst ein einfacher Dorfschulmeister wie ich zu werden, ist keine gute Idee. Wissen sollte eigentlich kein Luxus sein, aber in diesen Zeiten ist es leider so.« Georgs Mutter nickte traurig. »Solange dieser Krieg wütet, gilt vieles nicht, was sonst richtig und gut ist. Was sein sollte, hat keine Bedeutung mehr. Wir müssen mit dem leben, was ist. Und ich glaube langsam nicht mehr, dass es jemals wieder anders wird. Wenn sich unser gnädiger Landgraf Georg von Hessen-Darmstadt irgendwann nicht mehr mit seinen Vettern in Kassel streitet, fallen gewiss trotzdem die Schweden über uns her, und wenn die nicht kommen, sind es die Kaiserlichen, die Bayern, die Sachsen oder die Franzosen. Wer auch immer davon mit wem oder gegen wen kämpft, für uns bleibt sich das doch gleich. Du kannst froh und dankbar sein, dass du einen Schulmeister zum Vater hast, Georg, und bisher mehr lernen konntest als die meisten Knaben in deinem Alter. Aber jetzt wird es Zeit, dass du etwas lernst, womit du dich ernähren kannst.« Georg schluckte und schnitzte mit einem kräftigen Druck auf das Messer einen viel zu dicken Span von dem zukünftigen Hackenstiel ab. Er wusste, dass seine Eltern recht hatten. Sie konnten ihn nicht ewig durchfüttern. Aber die Vorstellung, irgendwo anders zu leben und im besten Fall Kleider zu nähen oder Möbel zu schreinern, im schlimmsten Fall Häute in stinkenden Gruben zu gerben oder sich als Knecht auf einem Hof zu verdingen, fühlte sich einfach fremd und falsch an. »Georg macht den Stiel ganz krumm!«, krähte Christoph in diesem Moment. Georg hielt inne und schaute auf die Delle hinunter, die er auf der einen Seite in das Holz geschnitzt hatte. Mutter seufzte wieder tief. »Junge!« »Da seht Ihr’s doch, Mutter, ich bin viel zu ungeschickt! Was für ein Handwerksmeister wird mich denn nehmen wollen?« »Du bist nicht ungeschickt, du bist unaufmerksam, Georg, das ist ein entscheidender Unterschied. Du bemühst dich nicht. Außerdem sagt ja auch keiner, dass du Handwerker werden sollst. Vielleicht nimmt dich der Thomasmüller als Lehrling an. Müller ist ein guter Beruf, die werden immer gebraucht und du bist nah dran an den Lebensmitteln. Und falls doch noch einmal Frieden kommen sollte, Gott gebe es, hättest du sogar die besten Möglichkeiten, es zu einem bescheidenen Reichtum zu bringen.« »Müller betrügen ja auch immer. Das will ich aber nicht.« »Wer sagt das denn? Der Thomasmüller ist ein guter Mann, der betrügt niemanden. Du solltest nicht auf das Dorfgeschwätz hören.« Georg spürte, wie er rot wurde. Es war tatsächlich nur Geschwätz und normalerweise glaubte er niemals, was die Dorfkinder sagten, ohne es nachzuprüfen. Er presste die Lippen aufeinander und nickte. Es hatte sowieso keinen Zweck, Mutter auseinanderzusetzen, wie sehr er die Vorstellung hasste, in einer Tag und Nacht lärmenden Mühle wohnen zu müssen und ständig im Mehlstaub zu stehen. Vielleicht verwarfen seine Eltern die Idee ja auch wieder, wenn er nicht darauf einging. Er beugte sich über seine Arbeit und versuchte, die Delle durch Abschnitzen an den anderen Seiten auszugleichen. Als er fertig war, war der Stiel viel zu dünn für die Hacke. Er würde noch einmal von vorn anfangen müssen. Es klopfte. Erleichtert über die Ablenkung sprang Georg auf und warf den verunglückten Stiel im Vorbeigehen in den Kamin. Vor der Tür stand die Löberin. Das wollene Tuch, das sie sich gegen den eisigen Regen um den Kopf gelegt hatte, war löchrig und triefte vor Nässe, obwohl der Löberhof direkt gegenüber dem Schulhaus lag und sie nur die Dorfstraße hatte überqueren müssen. Ihr Gruß war so leise, dass Georg ihn kaum verstehen konnte. »Kommt rein«, sagte er schnell und trat beiseite, damit sie den schmalen Flur betreten konnte, der im hinteren Teil als Verschlag für die Ziegen diente. Es war eiskalt hier. Die Löberin schlug mit zitternden Händen das Tuch zurück und in dem gedämpften Licht, das durch die angelehnte Stubentür fiel, sah Georg ihre Augen feucht aufglänzen. Seine Mutter trat aus der Stube. »Löberin! Ihr seid ja völlig durchnässt! Kommt doch herein und wärmt Euch für einen Moment.« Die Frau folgte ohne ein Wort. Vor dem Kamin blieb sie stehen. Im flackernden Licht des Feuers waren tiefe Schatten in ihrem Gesicht zu sehen. Georg erschrak. Sie waren alle dünn geworden, selbst Pfarrer Eysold und der reiche Gundlach, der längst nur noch so genannt wurde, weil Beinamen sich länger an einem Menschen hielten als Kletten, aber jetzt erst erkannte Georg, dass es ihm und seiner Familie immer noch viel besser ging als manchem anderen im Dorf. Warum hatte er das nicht früher bemerkt? »Ich …«, begann die Nachbarin und stockte wieder. Georgs Mutter hatte sich wieder gesetzt und das Strickzeug aufgenommen, ohne das schnelle, fast schon mechanisch wirkende Spiel der Stricknadeln in Gang zu setzen. »Was fehlt Euch?« Die Löberin senkte den Kopf und ihre Augen glänzten noch mehr. »Ich wollte eigentlich nicht betteln, es hat doch sonst auch keiner was übrig. Es ist auch nicht das Essen, wir kommen schon zurecht. Unsere Ziege ist letzte Nacht gestorben, also haben wir Fleisch. Sie war schon alt und krank, darum war es wohl gut so – aber jetzt fehlt uns das bisschen Milch, was sie noch gegeben hat. Was soll ich der Kleinen geben, ich selber kann sie doch auch nicht mehr stillen, ich habe schon seit zwei Monaten keine Milch mehr …« Hilflos brach sie ab und zog einen kleinen tönernen Topf unter ihrer Joppe hervor. Einen Augenblick lang war es still im Raum, dann atmete Mutter tief durch. »Es wird schon reichen. Georg, geh und melk die Ziegen für den Abend und füll als Erstes den Topf. Kommt auch in Zukunft morgens und abends zur Melkzeit und holt Euch die Milch, Löberin.« Jetzt lief der Nachbarin eine Träne über die Wange. »Danke«, sagte sie heiser. Mehr nicht, aber mehr war auch nicht nötig. Georg verließ das Zimmer mit einem Kloß im Hals. Auf dem Flur nahm er den Milcheimer und ging zum Verschlag der beiden übrig gebliebenen Ziegen, die in letzter Zeit dort viel Platz zur Verfügung hatten. Sie meckerten ihm bereits entgegen und sprangen von selbst auf das kleine Podest mit dem Futtertrog. Georg warf ihnen eine Handvoll Heu hinein und ließ sich von der Löberin ihr Gefäß geben, um direkt hineinzumelken. Während der dünne Strahl der Milch mit einem hellen Klingen in den Topf traf, dachte er an den schrumpfenden Heuvorrat auf dem Boden über ihm. Hoffentlich kam der Frühling wirklich bald. Letztes Jahr hatten sie gerade zur sowieso schon verregneten Heuernte vor einer der vielen durchziehenden Armeen fliehen müssen und das meiste Heu war auf den Wiesen verfault. Wenn der Vorrat nicht reichte, bis die Tiere draußen genug Futter finden konnten, würden Martin und Christoph am Ende keine Milch mehr bekommen und sie alle keinen Käse, keine Sauermilch, Butter und Sahne – und was würden sie dann essen, solange man noch nicht wieder aussäen und Brennnesseln und andere Kräuter sammeln konnte? Schweigend reichte er der Löberbäuerin den gefüllten Topf und sah ihr nach, wie sie mit gesenktem Kopf die paar Schritte bis zur Haustür ging und wieder in den prasselnden Regen hinaustrat. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, nahm er den Eimer und beeilte sich, den Rest Ziegenmilch hineinzumelken. Ihm war eiskalt hier im ungeheizten Teil des Hauses, aber wenn er in die Stube zurückkam, würde ein warmes Feuer auf ihn warten sowie etwas dünne, mit Milch versetzte Suppe – und mit einem Mal wurde ihm bewusst, was für ein Geschenk Gottes das in diesen Zeiten war.

Erscheinungsdatum
Sprache deutsch
Maße 135 x 205 mm
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte calvinisten • Christlicher Glaube • Dreißigjähriger Krieg • Geschichte Hessens • Hessenkrieg • Liebe • Lutheraner • Marburg • Reformation • Religionskriege
ISBN-10 3-96362-157-5 / 3963621575
ISBN-13 978-3-96362-157-4 / 9783963621574
Zustand Neuware
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