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Die Diktatoren

Hitlers Deutschland, Stalins Rußland

(Autor)

Buch | Hardcover
1068 Seiten
2005 | 2. Auflage
DVA (Verlag)
9783421054661 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Diktatoren - Richard Overy
19,95 inkl. MwSt
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Adolf Hitler und Josef Stalin verkörpern die dunkelsten Kapitel der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Unter ihrer Herrschaft wurden Millionen von Menschen grausam getötet, der blutigste Krieg ausgefochten und gigantische Systeme von Terrorlagern ausgebaut. Der renommierte britische Historiker Richard Overy analysiert diese beiden großen diktatorischen Regime des vergangenen Jahrhunderts. Er führt den Leser zu den persönlichen und historischen Wurzeln ihrer Macht, untersucht nicht nur die Lebenswege der Diktatoren, sondern auch ihre Regierungs- und Propagandaapparate, ihre Wirtschafts- und Militärpolitik sowie die Unterstützung durch die Bevölkerung Deutschlands und der Sowjetunion.


Richard Overy, geboren 1947, ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität von Exeter. Er hat zahlreiche Bücher zum Zweiten Weltkrieg und Nationalsozialismus veröffentlicht. Bei DVA erschienen »Die Wurzeln des Sieges. Warum die Alliierten den Zwe

EINLEITUNG Der Vergleich von Diktaturen »In Rußland und in Deutschland - und wo immer der Totalitarismus eingedrungen ist - wurden Menschen von einem fanatischen Glauben entflammt, von einer absoluten, bedingungslosen Gewißheit, welche die skeptische Einstellung des modernen Menschen ablehnte. Der Totalitarismus in Rußland und Deutschland durchbrach die Deiche der Zivilisation, die das neunzehnte Jahrhundert für dauerhaft gehalten hatte.« Hans Kohn, 1949 DER VERGLEICH VON DIKTATUREN Stalin und Hitler gelten als die Zwillingsdämonen des 20. Jahrhunderts, aus unterschiedlichen Gründen und auf unterschiedliche Weise verantwortlich für den gewaltsamen Tod so vieler Menschen wie niemand vor ihnen in der Geschichte. Sie lassen sich nur schlecht mit anderen Diktatoren ihrer eigenen oder einer früheren Zeit vergleichen. Stalin und Hitler nebeneinander zu stellen heißt, sich in die Gesellschaft von zwei der historischen Giganten der Neuzeit zu begeben, deren Diktaturen im größten und verlustreichsten Kriege der Weltgeschichte aufeinandertrafen. Zwei Fragen stellen sich: Kann man die Diktaturen Stalins und Hitlers miteinander vergleichen? Und sollte man sie überhaupt vergleichen? Tzvetan Todorov hat beide Fragen mit Ja beantwortet und dies damit begründet, daß beide Diktaturen die Merkmale ein und derselben politischen Gattung - des Totalitarismus - geteilt hätten. Diese Ansicht hat eine lange Tradition. In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als der Westen so kurz nach dem gemeinsamen Kampf gegen Hitler Front gegen den Sowjetkommunismus machte, fiel es leicht, in beiden Männern »totalitäre« Führer zu sehen, Herrscher über Systeme, die bestrebt waren, eine absolute und unbarmherzige Macht über die Bevölkerungen zu gewinnen, die ihrer zentralen Kontrolle unterworfen waren. Westliche Politikwissenschaftler gingen der Frage nach, wie es kam, daß westliche Demokratien eine ungeheuerliche Diktatur besiegt hatten, nur um anschließend einer zweiten, anscheinend noch abscheulicheren und unbeugsameren als der ersten gegenüberzustehen. Doch die Erarbeitung eines idealtypischen Modells eines totalitären Regimes blendete ganz reale Unterschiede zwischen Systemen aus, die als »totalitär« eingestuft wurden. Der Begriff selbst wurde schließlich als eine Kennzeichnung des Macht- und Unterdrückungsapparats angesehen, ohne die sozialen, kulturellen und moralischen Ziele des Regimes zu berücksichtigen, die der Begriff ursprünglich umfaßt hatte, als er in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts im Italien Mussolinis geprägt worden war; in den sechziger Jahren kehrten die Historiker in der Regel der Idee eines spezifischen »totalitären« Systems den Rücken und zogen es vor, sich einer Geschichtsschreibung zuzuwenden, die den besonderen Charakter jeder nationalen Diktatur betonte. Die Ähnlichkeiten zwischen ihnen wurden bagatellisiert. Seit dem Zusammenbruch des europäischen Kommunismus in den Jahren 1989-1991 kam es in der Diskussion der beiden Diktaturen zu einer Neuorientierung. Man entwickelte eine stärker historisch gesättigte Definition des Totalitarismus, die ihr besonderes Augenmerk darauf richtete, in welchem Umfang die untersuchten Systeme von einer positiven Vision einer exklusiven sozialen und kulturellen Utopie (häufig als »politische Religion« bezeichnet) angetrieben wurden, während zugleich stärker ins Blickfeld geriet, daß die politischen und sozialen Praktiken des Regimes mit seinen utopischen Bestrebungen häufig wenig zu tun hatten. Wir sind heute nicht mehr auf ein grobes politikwissenschaftliches Modell eines »Totalitarismus« angewiesen, um die beiden Diktaturen zu definieren; im Lauf der letzten zehn, zwölf Jahre ist unser historisches Detailwissen von beiden Regimes stark erweitert worden. Das verdanken wir auf der einen Seite den neuen Quellen, die in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten im Zuge von Glasnost zugänglich wurden, und auf der anderen Seite einer ganzen Reihe kritischer wissenschaftlicher Veröffentlichungen in Deutschland, die viele Aspekte des Hitlerregimes erschlossen haben, über die bislang ein Mantel des Schweigens gebreitet war. Aufgrund dieser Forschung können wir mit Bestimmtheit sagen, wie Todorov es tut, daß die beiden Systeme sich »in wesentlicher Hinsicht voneinander unterschieden«, auch wenn ihnen eine totalitäre Prägung gemeinsam war. Die Aufdeckung des gesamten Ausmaßes und des vorsätzlichen Charakters der Stalinschen Massenmorde hat zu der Ansicht beigetragen, daß Stalin nicht besser gewesen sei als Hitler. »Nazismus und Kommunismus, beide gleich verbrecherisch« lautete 1997 der Titel eines Artikels von Alain Besancon. Man hat sogar vermutet, es könnte ein Rechenverfahren existieren, mit dessen Hilfe sich mit größerer wissenschaftlicher Genauigkeit feststellen ließe, welcher der beiden Männer der Bösartigere war, auch wenn dies nicht in der Absicht Besancons lag. Der Schock bei ehemaligen Marxisten und Sympathisanten des Sowjetkommunismus, als sie entdeckten, daß das Regime Stalins in Wirklichkeit durch gewissenloses Blutvergießen und bis zur Unkenntlichkeit entstellte Ideale errichtet worden war, löste eine starke Gegenreaktion aus. Die Veröffentlichung des Schwarzbuchs des Kommunismus (1997) durch ehemalige französische Marxisten verdeutlichte den langen Weg, den die Linke zurückgelegt hatte, bis sie erkannte, daß die Diktatur Stalins auf ein barbarisches Verbrechertum gegründet war. Eine neuere Untersuchung gelangte zu dem Ergebnis, Stalin sei ein Psychopath gewesen; im Zentrum von Studien zu Hitlers »Denken« steht die Pathologie des Bösen. Die unausgesprochene Annahme, daß Stalin und Hitler blutrünstige Brüder im Geiste gewesen seien, hat alle realen Unterschiede zwischen ihnen verwischt. Doch die Suche nach derartigen Parallelen ist intellektuell ebenso unergiebig wie der frühere Versuch, alle Diktaturen im Licht eines undifferenzierten Totalitarismus zu sehen. Niemand bezweifelt die Schrecken im Innersten der beiden Diktaturen, doch es ist müßig, die Gewalt und das Verbrecherische der beiden Regimes miteinander zu vergleichen, nur um sie auf diese Weise ähnlicher erscheinen zu lassen, oder Statistiken zu bemühen, um festzustellen, welches der beiden Regimes das mörderischere war. Die Aufgabe des Historikers besteht nicht darin zu beweisen, welcher der beiden Männer der größere Schurke oder Psychopath war, sondern in dem Bemühen, die unterschiedlichen historischen Prozesse und Denkarten zu verstehen, die diese beiden Diktaturen dazu brachte, Morde in einem so ungeheuren Ausmaß zu begehen. Dieses Buch will zu einem solchen Verständnis beitragen. Neben all den Versuchen, die Diktaturen Hitlers und Stalins als Modelle eines gemeinsamen totalitären Impulses oder einer gemeinsamen Amoralität zu definieren, in gleicher Weise unaussprechlicher Verbrechen schuldig, gab es bemerkenswert wenige Beispiele für einen unpolemischen, direkten historischen Vergleich. An dieser Stelle sollte ich darauf hinweisen, um was es in diesem Buch nicht geht. Das Buch ist keine Doppelbiographie. Alan Bullock hat in seiner monumentalen Doppelbiographie Hitler und Stalin. Parallele Leben (1991) die persönlichen Geschichten der beiden Diktatoren ineinander verwoben, und diese Herangehensweise an das Thema muß nicht wiederholt werden. Es gibt inzwischen hervorragende Einzelbiographien beider Männer, deren Autoren jeden Aspekt ihrer Lebensgeschichte sorgfältig im Detail rekonstruiert haben. Die Lebensgeschichten Hitlers und Stalins wurden wahrscheinlich eingehender untersucht als die der meisten historischen Persönlichkeiten. Ebensowenig handelt es sich bei Die Diktatoren um eine einfache narrative historiographische Darstellung der Systeme. Über beide gibt es zahlreiche fundierte Untersuchungen, die das Thema erschöpfend behandelt haben. Dieses Buch verfolgt zwei Ziele: erstens soll eine empirische Grundlage für jede Erörterung der Frage, was die Ähnlichkeiten und die Unterschiede der beiden Systeme ausmacht, geschaffen werden; und zweitens soll eine komparative »operative« Geschichte der beiden Systeme vorgelegt werden, um die umfassende historische Frage beantworten zu können, auf welche Weise eine persönliche Diktatur eigentlich funktionierte. Die Antwort auf letztere Frage ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis, wie die beiden Diktaturen entstanden und was sie bis zum Tod der beiden Diktatoren am Leben erhielt. Einige Bereiche einer Konvergenz sind deutlich sichtbar, auch wenn die Unterschiede nicht weniger auffallend sind. Der Zeitpunkt der Entstehung der Diktaturen ist von großer Wichtigkeit. Die historischen Kräfte wiederum, die zu dieser Entstehung beigetragen haben, kann man mit Gewinn einem Vergleich unterziehen. Beide vertraten in extremer Form die Idee vom »Übermenschen«, die auf den deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche zurückgeht. Beide zeigten offensichtliche Ähnlichkeiten in ihrem praktischen Vorgehen: im Aufbau des staatlichen Sicherheitsapparats, der Errichtung von Konzentrationslagern in großem Maßstab, der vollständigen Kontrolle über die kulturelle Produktion und der Errichtung einer sozialen Utopie auf einem Berg von Leichen. Das sind keine zufälligen Parallelen. Die beiden Systeme waren sich der Existenz des jeweils anderen bewußt und reagierten auf dieses Wissen. Hitlers Diktatur entfesselte schließlich einen Vernichtungskrieg, um Stalins Diktatur auszulöschen. Beide Diktatoren machten sich auch kurzzeitig Gedanken darüber, was gewesen wäre, wenn sie kooperiert hätten, statt sich gegenseitig zu bekämpfen. »Gemeinsam mit den Deutschen«, soll Stalin gesagt haben, »wären wir unbesiegbar gewesen.« Hitler sagte im Februar 1945, als er die Optionen einschätzte, von denen er in der Vergangenheit hätte Gebrauch machen können, eine dauerhaftere Entente zwischen Rußland und Deutschland sei unter bestimmten Umständen durchaus vorstellbar gewesen. Die Menschheit wurde gnädig vor dieser grausigen Koalition bewahrt, da die Ambitionen der beiden Männer letztlich mehr Trennendes als Gemeinsames hatten. Die Diktaturen wurden nicht von diesen Männern allein errichtet und gelenkt, wie schrankenlos die theoretische Basis ihrer Macht auch gewesen sein mochte. Die Erkenntnis, daß die Diktaturen auf dem Boden eines verbreiteten Einverständnisses gediehen, das von den vielfältigsten Motiven zwischen Idealismus und Furcht genährt wurde, macht es nachvollziehbarer, daß sie sich so lange an der Macht halten und ungehindert Schreckenstaten solch riesigen Ausmaßes begehen konnten. Beide Regimes hatten einen breiten Rückhalt in der Bevölkerung, und beide suchten nach Sündenböcken, um diese zu verfolgen. Es waren Systeme, die innerhalb einer außerordentlich kurzen Zeit die Werte und gesellschaftlichen Bestrebungen ihrer Bevölkerungen tiefgreifend veränderten. Es waren beides revolutionäre Systeme, die enorme soziale Energien und eine furchtbare Gewalttätigkeit entfesselten. Die Beziehung zwischen Herrscher und Beherrschten war komplex und mehrdimensional und beruhte nicht einfach nur auf Unterwerfung oder Terror. Heute besteht kein Zweifel, daß beide Diktatoren darauf angewiesen waren, die Unterstützung oder Mitarbeit der Mehrheit der von ihnen regierten Menschen zu gewinnen, und daß sie sich nicht allein durch die Verbreitung von Furcht und Schrecken behaupten konnten. Beide Systeme betonten die Legitimität des eigenen Handelns und Herrschens, und ein Großteil der Bevölkerung teilte diese Meinung; das Gefühl der Legitimität läßt sich nur verstehen, wenn man die Fäden des moralischen Gewandes aufzieht, das die beiden Systeme sich umgehängt hatten. Während der Arbeit an diesem Buch wurde zunehmend deutlich, wie wichtig es ist, so getreu wie möglich die Welt zu rekonstruieren, in der die beiden Diktatoren wirkten, so fremd oder phantastisch sie uns heute, sechzig Jahre später, auch anmuten mag. Hierfür müssen die Reden und Schriften der beiden Diktatoren untersucht werden. Bei den meisten historischen Persönlichkeiten ist diese Feststellung trivial, doch im Falle Hitlers und Stalins konnte man ein Widerstreben beobachten, sich mit den Ansichten von Menschen zu befassen, deren Handlungen eine deutlichere Sprache zu sprechen schienen als ihre Worte. Hitlers Mein Kampf wurde häufig als irrational, verworren oder unlesbar abgetan. Stalin wurde seit jeher als ein intellektueller Kleingeist betrachtet, der zur Hauptströmung des Marxismus wenig oder nichts beizutragen hatte. Doch beide Diktatoren sagten und schrieben eine ganze Menge, und zwar über ein überdurchschnittlich breites Spektrum an Themen. Beide sahen sich als Figuren auf einer breiten historischen Leinwand. Sie hatten ihre Ansichten zu Politik, Führung, Recht, Natur, Kultur, Wissenschaft, sozialen Strukturen, Militärstrategie, Technik, Philosophie und Geschichte. Diese Ideen müssen unter ihrem eigenen Blickwinkel verstanden werden, da sie in die von den beiden Männern getroffenen Entscheidungen einflossen und ihre politischen Prioritäten formten. Darüber hinaus beeinflußten diese Ideen den großen Kreis von Politikern und Beamten in Hitlers und Stalins Umgebung. Die beiden Diktatoren waren keine Intellektuellen (für die keiner der beiden viel übrig hatte - Hitler hielt sie für ganz und gar nutzlos und schädlich), aber sie definierten in jedem Fall die Parameter des öffentlichen politischen Diskurses und schlossen aus diesem die von ihnen mißbilligten Ideen und Einstellungen aus. Bei der Formung der Ideologie spielten sie eine zentrale und keine marginale Rolle, und ebenso zentral war die Rolle der Ideologie bei der Ausformung der Diktaturen. Diese Ideen entwickelten sich nicht im luftleeren Raum, sie stammten nicht von einem anderen Stern. Keine der beiden Diktaturen wurde von außen aufoktroyiert. Keine war eine historische Abirrung, einer rationalen Erklärung nicht zugänglich, auch wenn sie häufig so behandelt werden, als seien sie ganz spezielle, eigene Historien, ohne jeden Zusammenhang mit dem, was vor ihnen war und nach ihnen kam. Die Diktaturen müssen in ihren Kontext gestellt werden, um die Ideen, das politische Verhalten und die sozialen Ambitionen, von denen sie jeweils definiert wurden, zu verstehen. Dieser Kontext ist sowohl europäisch als auch, enger gefaßt, deutsch respektive russisch. Die Diktaturen waren das Produkt politischer, kultureller und intellektueller Kräfte, die den gemeinsamen Bestand Europas zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausmachten. Sie waren auch und unmittelbarer das Produkt bestimmter Gesellschaften, deren bisherige Geschichten den Charakter und die Ausrichtung der beiden Systeme zutiefst geprägt haben. Der gemeinsame Nenner waren die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs. Keiner der beiden Diktatoren hätte je die Macht in zwei der größten und mächtigsten Staaten der Welt an sich reißen können ohne diese Umwälzung. Der Krieg war für die europäische Gesellschaft ein schweres Trauma, doch für die deutsche und die russische Gesellschaft ein tieferer Umbruch als für die blühenden und politisch stabilen Staaten Westeuropas und Nordamerikas. Stalin war ein Geschöpf der bolschewistischen Revolution vom Oktober 1917, die das monarchistische Rußland innerhalb weniger Jahre umgestaltete; Hitlers radikaler Nationalismus entwickelte sich während der moralischen und materiellen Auflösung des besiegten Deutschlands, als die alte kaiserliche Ordnung zerfiel. Die beiden Staaten hatten vieles gemeinsam. Sie waren beide besiegt worden, in dem eingeschränkteren Sinn, daß sie um einen Waffenstillstand ersucht hatten, weil sie den Krieg nicht fortsetzen konnten. In beiden Staaten eröffnete diese Niederlage den Weg zu einer Umformung der politischen Landschaft. Rußland verwandelte sich innerhalb von neun Monaten von einem Zarenreich in eine kommunistische Republik, Deutschland innerhalb weniger Tage von einem autoritären Kaiserreich in eine parlamentarische Republik. Diese Veränderungen lösten politische Gewalttaten und eine Wirtschaftskrise aus. Den Bolschewiki gelang eine Konsolidierung ihrer Kontrolle über das ehemalige Zarenreich erst 1921, nach vier Jahren Bürgerkrieg und der Errichtung eines autoritären Einparteienstaats. Deutschland erlebte zwei unterschiedliche revolutionäre Bewegungen, die eine kommunistisch, die andere nationalistisch; die zweite wurde dazu benutzt, die erste in den frühen Jahren der deutschen Republik niederzuschlagen, wurde dann jedoch wieder unterdrückt, als die siegreichen Alliierten der republikanischen Regierung kurzzeitig bei der Stabilisierung des neuen Systems behilflich waren. Beide Staaten erlebten eine Hyperinflation, welche die Währung völlig vernichtete und alle Besitzer von Geldvermögen faktisch enteignete. In der Sowjetunion diente dies den Zwecken der Revolution, indem die Bourgeoisie ruiniert wurde; in Deutschland brachte die Inflation eine ganze Generation um ihre Ersparnisse. Die allgemeine Verbitterung angesichts dieses tatsächlichen oder befürchteten sozialen Abstiegs trug dazu bei, den späteren Aufstieg des Nationalismus Hitlerscher Prägung zu ermöglichen. Beide Staaten wurden von der übrigen internationalen Gemeinschaft als Pariastaaten angesehen, die Sowjetunion, weil sie kommunistisch war, Deutschland, weil man es für den Kriegsausbruch im August 1914 verantwortlich machte. Dieses Gefühl einer Isolation drängte beide Staaten zu einer extremeren Form revolutionärer Politik und führte schließlich zur Entstehung einer Diktatur. Deutschland und die Sowjetunion reagierten auf die seismischen Verschiebungen in Politik und Gesellschaft, die durch den Großen Krieg eingeläutet wurden, auf eine Weise, die durch ihren Entwicklungsstand bestimmt war. Deutschland war ein modernerer Staat, in dem zwei Drittel der Erwerbstätigen in der Industrie und im tertiären Sektor arbeiteten, es verfügte über eine entwickelte Bürokratie, ein effizientes nationales Bildungswesen und genoß in den Naturwissenschaften Weltruf. Rußland dagegen war überwiegend agrarisch geprägt, rund vier Fünftel der arbeitenden Bevölkerung lebten auf dem Land, wenn auch nicht alle als Bauern; Sozial- und Bildungswesen waren im Vergleich zum übrigen Europa zurückgeblieben, und regionale Unterschiede waren hier infolge starker klimatischer Unterschiede und des imperialen Charakters der russischen Expansion nach Asien im 19. Jahrhundert deutlich ausgeprägter. Doch in einigen wesentlichen Aspekten verführte die Klassifizierung Deutschlands als »moderner Staat« und Rußlands als »rückständiger Staat« zu Übertreibungen. Rußland verfügte über eine ausgedehnte moderne Bürokratie, eine hochentwickelte Kultur (Dostojewskij war vor 1914 in Deutschland besonders beliebt), eine schnell wachsende industrielle und kommerzielle Wirtschaft (mit der sie 1914 weltweit den 5. Platz einnahm) und einen kleinen, aber erstklassigen naturwissenschaftlichen und technischen Sektor, zu dessen Leistungen das erste, 1914 gebaute mehrmotorige Bombenflugzeug gehörte.

Übersetzer Udo Rennert, Karl Heinz Siber
Sprache deutsch
Original-Titel The Dictators
Maße 145 x 215 mm
Gewicht 1210 g
Einbandart gebunden
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte Diktatur • Drittes Reich • Drittes Reich / 3. Reich • Hitler, Adolf • Sowjetunion, Geschichte • Sowjetunion; Politik/Zeitgesch. • Stalinismus (Ideologie) • Stalin, Josef W. • Wolfson-Preis für Geschichte
ISBN-13 9783421054661 / 9783421054661
Zustand Neuware
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
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