Aus der Welt der Waldeinsamkeiten - Karl Klostermann

Aus der Welt der Waldeinsamkeiten

Buch | Hardcover
317 Seiten
2005 | Neuaufl.
Morsak (Verlag)
978-3-86512-014-4 (ISBN)
18,80 inkl. MwSt
In Pürstling, einer entlegenen, unfruchtbaren und kalten Einöde in Böhmen, nördlich des Lusen, spielt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dieser klassische Roman.
Kurze Sommer und lange, kalte Winter, in denen die Bewohner eingeschlossen und monatelang auf sich allein gestellt sind, prägen die Menschen. Öde und Langeweile sind der Fluch und das Schicksal derer, die es in diese Einsamkeit verschlagen hat.
Die Anstrengungen, sich gegen Unglücke, Naturkatastrophen und die Mitmenschen zu behaupten, um in einer untwirtlichen Gegend überleben zu können, bestimmen das Leben. In diesem beständigen, fast alles überlagernden Kampf gelingt es nur wenigen, ihrem Leben einen Inhalt, Sinn und Zukunft zu geben und glücklich zu sein.
Vor diesem Hintergrund schildert Karl Klostermann sensibel aber in packenden, realistischen Bildern die kurze, heftige Liebe zweier junger Menschen. Der nach Pürstling versetzte, unerfahrene Forstadjunkt und Kathi, die Tochter des Hegers, finden und verlieren sich.

"Freund, ich begreife, das Ihnen diese Sache nahe geht. Sie sind, nach meinem Gefühl, aus einem anderen Holz geschnitzt als wir hier. Doch überlegen Sie. Es ist gut, daß es so gekommen ist. Das Mädchen hat nicht zu Ihnen gepaßt, was hätten Sie dort mit ihm angefangen? Sie wären beide unglücklich geworden. Der Sinnrausch wäre bald verflogen, dann wären Leid und Reue gekommen. Und das Mädchen genau so!"

Durch eine Hochebene, durch sattes Grün, stellenweise mit grauem Moose überwachsen, schlängelt sich in weitem Bogen ein Bach dahin – die junge Wottawa. Aus dem Inneren des Lusen kommend, spiegelt sich ihr Wasser in granatroter Farbe, und ihre Quelle, die Gold enthalten soll, wie aus längst vergangener Zeit berichtet wird, gibt einfach von ihrem Rest an kostbarem Metalle dem „krummen“ Fluß mit auf seinen Weg. Von diesem goldenen Überschuß ist jetzt wohl nichts mehr zu sehen. Trittst du aus der Türe des Forsthauses, steht vor dir der Lusen, den struppigen Kopf in weiße Nebel oder in schwarze Wolken eingehüllt, in südlicher Richtung die Ebene abschließend. Unbeweglich steht er da, im ewigen Schweigen, als würde er trauern über die Veränderungen der letzten Jahrzehnte. Auf der rechten, westlichen Seite begrenzt die Ebene der Plattenhausen, der Große und der Kleine Spitzberg, auf der linken, östlichen Seite, der Moorkopf und der Marberg, alle dicht mit Wald bewachsen bis hinauf zu den Gipfeln. Zwischen den Bergen findet man keine tiefe Schlucht, keinen Abgrund, nur ein enges Tal am Fuße des sanften Abhanges. Überall moorige Einöde, unbewegt, einförmig bis zur Verzweiflung, elender Wald, den Kälte und Feuchtigkeit nicht zum Wachsen kommen lassen, nur Knie- und Krummholz, durch das kein Fußpfad führt. Unzählige Stämme liegen umher und faulen. Unter ihnen und rundherum rinnen faule, schwarze Wasser, die sich hier und dort zu tiefen Pfützen stauen. Kein Laut, kein Lebenszeichen, kein Vogel, nicht einmal ein Insekt – und selbst die stechenden Mücken, die weiter unten so lästig sein können, hier würdest du sie umsonst suchen. Das war das Reich, das der Revierförster Korán beherrschte. Hier war er unumschränkter Herr, ein Herrscher, dessen Untertanen ihm keine Schwierigkeiten bereiteten, sich seinen Gesetzen ganz unterwarfen. Ich sehe ihn vor mir, über ein Klafter hoch, im selben Verhältnisse auch stark, von der Sonne gebräunte, vom Frost und Wind zerfurchte Wangen, einen dunklen, kastanienbraunen Kinnbart, der fast zum Gürtel reichte. Füße wie Säulen, Hände wie Bärentatzen, in meinem ganzen Leben sah ich nie einen Menschen von solcher Kraft, dazu einen Adlerblick aus braunem Auge und eine wunderschöne, regelmäßige Nase. Wahrlich, wenn er auch schon über die Vierzig war, wenn sich auch hie und da schon ein Silberfaden aus seinem buschigen Haare stahl, nach meinem Ermessen mußte der Revierförster Korán ein Ideal aller Frauen gewesen sein. Herakles hatte mehr Glück als Phöbus Apollo. Als der Revierförster Korán in diese Gegend kam, war er unverheiratet. Eine alte Frau aus Außergefild führte ihm die Wirtschaft. Dies war aber keine leichte Sache. Fünfzehn bis zwanzig Stück Vieh standen im Stalle und dann das Einwirtschaften im Spätherbst für den Winter, ehe die Schneeverwehungen das Forsthaus von aller Welt trennten, jede Verbindung unterbrachen. So wirtschaften, daß die Vorräte nicht ausgingen, daß sie vom Oktober bis Mai reichten, daß man jeden Tag genug zu essen und zu trinken hatte. Was wurde da an Speck zusammengetragen! Wieviele Mutterkälber sind da geopfert worden, was alles wurde eingesalzen und im Kamin geräuchert! Im Keller befand sich ständig ein ganzer Bottich geronnener Milch, diese Gottesgabe, die zum Schluß schon wie scharfer Essig schmeckte, doch, was sage ich – wie Essigsäure. Nichts wuchs in Pürstling, rein gar nichts, Gott bewahre, nicht einmal der Segen anderer Berge, die Gabe von Drake, die Kartoffel. Nur hohes Gras gab es, dann eine schmackhafte Laubgattung, Brombeeren, Himbeeren und Schwarzbeeren. Mehl, Kartoffeln, Erbsen, alles, was der Mensch braucht, vier bis fünf Meilen weit mußte man es holen, auf kostspielige Weise heimbringen. Und früher war es noch ärger. Nirgends führte eine Straße her, höchstens ein halsbrecherischer Weg, vom Wasser durchnäßt, von Gras verwachsen, denn es waren keine Menschenhände da, um so einen Weg zu pflegen. Neben dem Revierförster gab es hier auch einen Heger mit Frau und Kindern. Seine Behausung stand und steht heute noch, vielleicht hundert Schritte unterhalb des Jägerhauses in südlicher Richtung. Damals lebte dort ein Heger namens Vavruch. Er war ein kleiner, untersetzter Mensch, düster wie rundherum die Wälder. Die Holzhauer erzählten sich von ihm schauerliche Geschichten. Er lebte hier schon von zarter Jugend auf, gemieden von den anderen Menschen, und so verhärtete sich langsam sein Herz. Ein Menschenleben galt ihm rein gar nichts, wagte er doch täglich sein eigenes Leben, das schätzte er nicht hoch ein – wieviel weniger da noch ein fremdes! Der frühere Revierförster war ein gestrenger Herr. Für jeden Rehbock mußte Vavruch bürgen und Rechenschaft ablegen über das ausgedehnte Revier. Seine Pflicht war es, im Frühjahre, wenn der Schnee schmolz, sich mit dem Moor vermengte und so zu einem teigigen, beweglichen Brei wurde, zu zeigen, wo ein Pfad zu dem Verstecke eines Auerhahnes führte, damit der Fürst und seine Gäste bei ihrer Einkehr in diesem Kreis frühmorgens zum Schuß geführt werden konnten. Um dies aber zu ermöglichen, war es notwendig, die Wege, die durch Wald und Sumpf führten, durch kleine Holzprügel gangbar zu machen, so, daß das Holz nebeneinander in drei- bis vierfacher Schichtung gelegt werden mußte. Zu dieser Arbeit gab es aber nur wenig Leute. Bei all dem legte der frühere Revierförster nirgends Hand an. Ab und zu schritt er das Revier ab und wehe, wenn einmal etwas nicht in Ordnung war! Da gab es den ganzen Tag Gewitter, jenen ähnlich, die sich über dem Lusen entluden. „Vavruch! Haderlump! Das ist alles, was Sie geschlagen haben? Fortjagen werde ich Sie samt Ihrem ganzen Gesindel! Daß es nicht mehr sein konnte? Noch eine solche Bemerkung und morgen sind Sie aus dem Hegerhaus draußen!“ Hunderte und Hunderte von Stämmen sollten im ärgsten Schneegestöber bis zum Vogelsteiner-Reservoir geschleppt werden. Hier sollten sie bereit liegen zum Abschwemmen nach Mader, damit im Frühjahr die mächtig gewordenen Zuflüsse, die das Wehr bedrohten, beim Öffnen der Schleuse die Stämme in ihrem rasenden Laufe mit sich rissen. Für alle die Blöcke und Hölzer war der Heger verantwortlich, ob sie in dem trüben Wasser schwammen, sich ins Ufer bohrten, im Wirbel stecken blieben oder sich häuften und ansammelten. Er hatte die Leute aufzunehmen, die ihm helfen sollten, die Stämme weiter zu schwemmen, ehe das Wasser wieder sank. Welch gefahrvolle Arbeit war dies, hinter den schwimmenden Balken im reißenden Wasser einher zu sein, wo unzählige Wurzeln den Schritt behinderten, wo der Fuß ausglitt im schlüpfrigen Schlamm, wo im Hinterhalt zwischen den Steinen tiefe Löcher gähnten, heimtückisch vom Moos überwachsen. Weiter und weiter jagte er dahin auf diesem halsbrecherischen Wege. Die sausenden, künstlich mächtig gewordenen Wasser warteten nicht, und wenn die Stämme am Trockenen hängen blieben, was war dies für eine Arbeit, sie loszubekommen und oft war sie umsonst, denn es fehlte an Händen, es waren ihrer zu wenig. Bei der Schleuse stand der Revierförster und zählte die Stämme, zweihundert, die ins Wasser geschleudert wurden, nach Mader kamen nur hundert: So eine Nachlässigkeit – Warte nur Vavruch! – Im Winter zogen die Hirsche bis zum letzten in das benachbarte Bayern, wo der Wald höher liegt, wo sie in tiefen Schluchten und Tälern besser geschützt waren. Sobald das Frühjahr kam, brachte es sie wieder zurück zu ihrer Weide. Vavruch spähte Tag und Nacht umher, um auszukundschaften, welchen Weg sie überschritten, wo sie sich verbargen. Aber ihren Fersen folgten ihre schwersten Feinde, die bayerischen Wilddiebe. Waghalsig waren sie, unbarmherzig und sie fürchteten nichts. Zwischen ihnen und dem Heger entstand langsam eine Feindschaft auf Leben und Tod. Wenn die Wilderer einen Rehbock schossen, beschuldigte der Revierförster, ohne lange zu fragen, den Heger. Er selber mischte sich nicht in diese Sache, für ihn gab es keine Wilderer. Der arme Vavruch geriet dadurch zwischen zwei Feuer, einerseits drohten die Kugeln der Wilddiebe, andererseits hing das Damoklesschwert über seinem Kopfe, die Entlassung aus dem Dienst. Es war ein guter herrschaftlicher Dienst, den ihm die reichsten Rehberger Bauern neideten. Anfangs hatte er sich fest vorgenommen, nichts mehr zu melden, auch wenn er einen neuen Wildfrevel entdecken sollte. Doch der Herr Revierförster hörte jeden Schuß, der im Walde fiel. In diesen schweigenden, öden Wäldern hört man so einen Schuß zwei Stunden weit. Was aber noch ärger war, der Herr Revierförster hatte einen Aufpasser in Gestalt eines Holzhauers, der ihm alles zutrug. Bei diesem mühevollen Dasein, bei dieser Feindschaft rundherum, verhärtete sich das Herz des armen Hegers. Er führte seinen Kampf mit den Wilderern auf Leben und Tod, kannte ihre Spuren und Wege und verfolgte sie bei Tag und bei Nacht, wenn sie es am wenigsten erwarteten. Er belauerte sie, wo er nur konnte, wußte aber schlau ihrer Rache zu entgehen. Er war einer gegen so viele und wußte genau, Gnade würde er keine finden, wenn sie ihn erwischten. Es ereignete sich, daß im tiefen Wald ein Schuß fiel, ein scharfer Schuß, hell, weithin hörbar. Der Revierförster kannte deutlich Vavruchs Büchse. Wenn er sie vernahm, bemerkten die Holzhauer oder die Dienstleute, wie er schweigend mit dem Kopfe nickte, mit den Fingern knallte. In den Wäldern gab es damals keine Waldblößen, keine Weiden. Hatten die undurchdringlichen Wälder ein Geheimnis aufgenommen, so bewahrten sie es auch! Es gab damals keine Leute, die auf Suche gingen nach Himbeeren oder Schwarzbeeren, was sich da im Walde ereignete, es blieb ein Geheimnis, in dunkle Schleier gehüllt. An gewissen Stellen sammelten sich Krähen, schwarze Raben kreisten dort mit heiserem Gekrächze. Doch wem wäre es eingefallen, nachzusehen? Der Blick des Hegers wurde stechend wie der der Kreuzotter, wie wenn er sagen wollte: „Bleibe und lösche nicht, was dich nicht brennt! Was ich verbrochen habe, verantworten werde ich es vor meinem eigenen Gewissen!“ Das Moos sank ein, das Wasser unterwusch, das Gras wuchs, das Heidekraut schoß üppig empor und es verschwanden die Spuren. Was heute noch an der Erdoberfläche war, in einer Woche hatte die Natur es begraben, es in Sicherheit gebracht. Im Bayerischen aber wurde bald der, bald jener vermißt, sei es ein Knecht oder der Sohn eines Häuslers. Man ging in die Wälder auf Suche. Ab und zu fand man einen, still wurde er heimgebracht. Oft aber war alles Suchen vergeblich, oft wagten sie sich auch nicht über die Grenze! Unter die niederen, von großen Steinen beschwerten Dächer der Holzhütten zogen Leid und Kummer ein, es weinten Witwen und jammerten Waisen. Schauerliche Gerüchte verbreiteten sich allmählich um die Wälder des Plattenhausen, zogen ihre weiteren Kreise und erzählten von nächtlichem Spuk in den schweigenden Wäldern. Die Seelen der Vermoderten fanden nicht Ruhe in den Wäldern, jammerten und wehklagten durch die nächtliche Finsternis. Züngelnde Flammen krochen wie Irrlichter am Boden hin, empor zu den morschen Wipfeln, durchzuckten krachend die alten Fichten, sprangen von einem Baum zu dem anderen, einen langen, bläulichen Schweif hinter sich herziehend. Jemand sah sie in den Nächten des Spätherbstes, sah sie und bekreuzigte sich. Er trug die Kunde davon zu den Bewohnern der Gegend. Ein solcher Schrecken verbreitete sich überall, daß nicht einmal die bayerischen Wilddiebe der Angst widerstehen konnten, mehr den nächtlichen Spuk im Walde fürchteten als ihren erbitterten Feind, den Vavruch. Von da an aber hatten die Rehböcke endlich Ruhe. II. So sah es aus, als der Tod den Vorgänger Koáns holte. Sie führten ihn über die halsbrecherischen Wege fort nach dem alten Rehberger Friedhof und in kurzer Zeit hatte der neue Förster die Lücke ausgefüllt. Von dieser Zeit an begann für Vavruch ein neues Leben. Der Herr Revierförster verlangte, was im Dienste notwendig war, er inspizierte nicht nur selbst fleißig; wo es sein mußte, legte er mit Hand an. Die Gruppe der vier Holzhauer wurde um zwei vermehrt. Zur Zeit der Holzschwemme wurden noch zehn bis zwölf Leute dazu genommen und zwar aus Langendorf, Buchwald und aus Fürstenhut. Dadurch war niemand mehr überbürdet, die Arbeit ging, sie flog nur so. Daß dabei die herrschaftliche Verwaltung nicht schlecht fuhr, war ersichtlich. Damals klangen noch Tag und Nacht die Sägewerke von Mader zur Herstellung der Resonanzbretter. Es wurden dort hundertjährige Urwaldstämme geschwemmt, die allein brauchbar waren, da die Faser durch den langjährigen Wuchs überaus dicht war. Der Revierförster Korán war ein braver Mann mit weichem Herzen. Er wußte von den vergangenen Kämpfen des Hegers. Einmal sprach er sich mit ihm in dieser Angelegenheit aus. „Sie sind auf sie losgegangen wie auf ein Wild?“ „Es war notwendig – beim Ersten habe ich mich nur verteidigt.“ „Aber die anderen?“ „Sie kamen sich rächen, ich mußte ihnen zuvorkommen.“ „Und wieviele sind es …?“ Der Revierförster fürchtete sich zu vollenden, er hielt das Wort zurück. Vavruch schüttelte verdrießlich den Kopf, hob einen Augenblick den stechenden Blick, senkte ihn aber sofort wieder und antwortete fast im Flüstertone: „Was weiß ich? Einige liegen dort!“ Er deutete nach der Richtung vom Plattenhausen. – „Sie haben mich ja hin- und hergejagt wie einen Hasen … zweimal haben sie mich verwundet … was mit ihnen?“, vollendete er nach einer Weile. Der Revierförster dachte nach und ging schweigend neben dem Heger dahin. Es verging vielleicht eine Viertelstunde, als er wieder anfing zu sprechen. „Mensch – Sie haben eine große Schuld auf dem Gewissen, fühlen Sie das nicht? Ist denn der Mensch eine Waldbestie? Sagen Sie mir nicht, daß es Wilddiebe waren, die das Wild töteten! Hundert Rehböcke wiegen nicht ein Menschenleben auf. Solange sich Ihnen einer entgegenstellt mit der Waffe in der Hand, in der Absicht, Ihnen nach dem Leben zu trachten, sind Sie im Rechte, und ich würde ebenso handeln. Es ist auch Ihre Pflicht, das Eigentum dessen zu schützen, der Ihnen das Brot gibt. Aber einen Menschen verfolgen, ihn beschleichen, ihm von Versteck zu Versteck nachstellen, selbst wenn er ein Verbrecher wäre, das ist Mord, gemeiner Meuchelmord. Das haben Sie nicht gewußt?“ Vavruch blickte finster wie ein Waldstier. „Der Herr Revierförster hat befohlen, ich soll die Luft reinigen“, brummte er, „jeden Tag fast hat er mir gedroht, mich aus dem Dienst zu jagen.“ „Ich aber verbiete Ihnen ein solches Treiben“, antwortete der Förster, jedes Wort fest betonend. „Hören Sie, ich verbiete es Ihnen, und geschieht noch einmal etwas Ähnliches, zeige ich Sie selbst bei Gericht an.“ „Leicht kann geschehen, was der Herr Revierförster befiehlt“, antwortete er, „um so eher, da sich keiner mehr herwagen wird.“ „Sei es wie es sei, Sie haben gehört, was ich Ihnen aufgetragen habe. Zu bereuen haben nur Sie, was Sie begangen haben, mich geht das weiter nichts an.“ Der alte Zorn und Trotz beherrschte die Seele des Hegers. Möglich, daß sich das eigene Gewissen bitter rührte, daß er in der Bitterkeit seiner Gedanken die anklagte, durch die ihm diese Bedrängnis wurde. „Der Herr Revierförster kennt dieses Barbarenvolk nicht“, brummte er in den Bart, „die ärgsten Spitzbuben auf der Welt, rohe Wildlinge. Aber, wenn sie erfahren werden, wie der Herr Revierförster denkt, werden sie uns bald mit ihrem Besuch beehren. Dann soll sich der Herr Revierförster die Sache nur selber richten.“ „Richte mir sie auch“, antwortete Korán entschieden und gab dem Heger nun Befehle, die sich auf seinen Dienst bezogen, worauf sie auseinandergingen. Der Revierförster lebte im ersten Jahr seines Aufenthaltes in seinem geräumigen Forsthause allein mit seiner Wirtschafterin. Er überstand den langen, öden Winter, welcher wie ein Alp auf dieser weltverlassenen Landschaft liegt. Fast die ganze Zeit hier leben, zwischen vier gleichen Wänden, wo die Sonne selten scheint, nur hie und da schönes Wetter ist, das sofort zum Fortschleppen der gefällten Bäume ausgenützt werden muß. Einförmiger Nebel überall und schaurig liegt alles in einem ewigen Halbdunkel. Wirbelwinde kommen, treiben die Schneeflocken zu einem solchen Gestöber zusammen, daß menschliche Kraft oft nicht widerstehen kann. Der Mensch soll sich vorstellen, was das für ein Leben ist! Und dann, wenn jemand krank wird, wo findet er einen Arzt? Wo bahnt sich der Seelsorger einen Weg, um dem Sterbenden die letzte Tröstung zu bringen? – Es kommt vor, daß sechs bis sieben Wochen verstreichen, ehe sie den Leichnam des Verstorbenen zur ewigen Ruhe bestatten können. Der Revierförster saß allein an den langen Winterabenden, erledigte seine Kanzleiarbeiten, schrieb Verzeichnisse, Rechnungen, zeichnete Pläne, studierte, solange es ging, las auch, soweit seine bescheidene Bibliothek reichte, durchstöberte alte Zeitungsartikel, wie es die Kaufleute in Nischni Kolymsk Verchnojansk, im östlichen Sibirien tun, wohin die Zeitungen nur höchstens einmal im Jahre gelangen. Öfters überfiel ihn die Langeweile wie ein drückender Alp. Da geschah es, daß sich die alte Wirtschafterin zu ihm setzte, um von vergangenen Zeiten zu sprechen. Anfangs verstand er schwer den ungewohnten deutschen Dialekt der zahnlosen Alten, aber bald gewöhnte er sich und verstand. Es waren eigentümliche Spukgeschichten von bereits ausgerotteten Waldraubtieren, von Bären und Luchsen, an die sie sich noch erinnerte, von Waldgeistern, die die Herden auf der Weide erschreckten, von der „wilden Jagd“, geführt vom gespenstischen Jäger. Dieser treibt sich in den finsteren Herbst- und Winternächten herum, vom Gipfel des Lusen über die Abgründe und Abhänge, über Schluchten und ausgebreitete Sümpfe, zu den Füßen der dortigen Berge und von dort über die ewig schlummernden Wälder, hier über die Gipfel der Bäume, dort auf der Erde, von Hügel zu Hügel, von einem vermoderten Stamm zum anderen – bis zu dem mit Knieholz überwachsenen Gipfel des Marberges. Eingehüllt in einen Wolkenschleier kommt er mit donnerndem Getöse daher, hinter ihm das Gekläffe zweier Hündinnen, eine licht, die andere dunkel – grob – wie sie sich ausdrückte. – Sie erzählte von Leuten aus der Umgebung von vier Meilen – alle kannte sie. Sie wußte, wer brav und wer böse war, wußte von allen, was sie angestellt hatten, was ihnen geschehen war, welches Schicksal sie heimgesucht, was sie verbrochen hatten. Von allem wußte sie zu berichten, nur nicht von einer Not um Brot, die gab es damals nicht bei aller Bescheidenheit. Wie sie so erzählte mit ihrer gleichen, eintönigen Stimme, ähnlich einer sprudelnden Quelle, senkte sich der Schlaf auf die Augen des Försters, der Kopf sank ihm auf die Brust herab. Da unterbrach sie ihre Erzählungen und fragte: „Der gnädige Herr will schlafen gehen? Das ist kein Wunder, es ist ja schon spät, ach – sehr spät – acht Uhr schon!“ Und der Revierförster ging zu Bett. Zur selben Abendzeit ging es hundert Schritte weiter, in der geräumigen Wohnstube des Hegers, anders zu. Ruhiger war es, man hörte nur Summen, ruhiger, wenn Vavruch im Kreise seiner Familie war. Die kleineren Kinder gingen frühzeitig schlafen, der Vater setzte sich zum großen Ahorntisch, die Frau brachte eine mit Stroh umwickelte Flasche Prachatitzer Kornbranntwein und stellte ein Gläschen daneben. Vavruch zündete sich eine Pfeife an. Die Ringe des scharfriechenden Rauches hüllten ihn wie in einen grauen Schleier ein. Glas um Glas stürzte er hinunter, schweigend, ohne ein Wort zu sprechen. In der Mitte der Stube brannte über einem Schaff voll Wasser ein Buchenspan. Zeitweise aufgeschüttelt, drang der flackernde Schein durch den Tabakqualm und gab seinen Reflex an den gläsernen Blick zurück, der ins Leere starrte. In einem Riesenherde prasselte ein mächtiges Feuer, eine schreckliche Hitze ging davon aus. Wie Geister bewegten sich zwei Frauengestalten, hier und dort sich beschäftigend, im schwachen Licht des Spanes, die Frau des Hegers und seine junge Tochter. Die Hegerin ging in dicken Wollstrümpfen herum, die jeden Laut ihrer Schritte dämpften. Das junge Mädchen barfuß, hochgeschürzt, berührte mit seinen elastischen Füßen kaum den Boden. Das Licht des Spanes, die rote Glut des Ofens beleuchteten zeitweise Gesicht und Gestalt der beiden Frauen. Bleich und unbeweglich war das Gesicht der Mutter, gebeugt ihre Gestalt, die Tochter aber war eine ungewöhnliche, dämonische Schönheit. Aus den dunklen Augen sprühten Flammen, purpurfarben war der halbgeöffnete Mund, wie wenn der heiße Atem ihn entflammt hatte. Eine schlanke Gestalt, eine volle Brust, etwas gerundete, gebräunte Arme, eine königliche, kurz erblühte Rose in dieser Einöde. Wen wird sie beglücken? Sicher kannte dieses in der Einsamkeit aufgeblühte Mädchen weder Liebesglück noch Liebesschmerz. Die Holzhauer, die allein hierherkamen und bald wieder gingen, waren durchwegs verheiratete Leute – ihnen ging es um andere Dinge als um die Liebe. Der verstorbene Herr Revierförster war ein alter Herr, ein kinderloser Witwer. Der jetzige war ein ernster Mann, der sich wohl selbst um Mädchen nicht kümmerte. Ein junger Mann war, solange man sich erinnern konnte, nicht mehr hier, außer ein ungehobelter Sprößling aus der Nachkommenschaft der Holzhauer, den man hier oder dort erblickte. Auf dem rauchgeschwärzten Balken schlug rasselnd die Schwarzwälderuhr die achte Stunde. Die Frauen legten sich auf das breite Bett gegenüber dem Ofen zur Ruhe. Vavruch klopfte zuletzt sein Pfeifchen aus, legte den Rock ab und wortlos, mit unsicherem Schritte, legte er sich in das andere Bett. Es zischte das letzte Stückchen des Spanes ins Wasser, vollständige Finsternis verbreitete sich rundherum. Es gab jedoch wieder Tage, wo es hier lärmender zuging. Es trafen sich die Holzhauer hier, fünf, sechs kamen ihrer, jeder brachte sich eine Flasche Branntwein mit. Sie setzten sich um den runden Tisch, tranken sich zu, fingen zu erzählen an und Vavruch mit ihnen. Die Reden gingen hin und her. „Und ich sage euch“, fing ein einäugiger Mensch an, „ich erlebe es nicht mehr, aber ihr seid jünger, ihr werdet es sehen. Es wird ein Unglück kommen und was für eines! Von der Westseite, wo der Wind herweht, woher die Stürme kommen, haben wir angefangen den Wald zu schlagen. Erinnert euch, daß dort die dicksten Bäume gestanden sind, was hinter ihnen ist, ist lauter Kleinzeug?…“

Zusatzinfo mit Lesebändchen
Sprache deutsch
Maße 130 x 195 mm
Gewicht 505 g
Einbandart gebunden
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Schlagworte Böhmen • Böhmerwald • Böhmerwald, Geschichte; Romane/Erzählungen • Hardcover, Softcover / Belletristik/Hauptwerk vor 1945 • HC/Belletristik/Hauptwerk vor 1945 • Karl Klostermann • Karl Klostermann; Waldeinsamkeit; Böhmerwald; Böhmen • Waldeinsamkeit
ISBN-10 3-86512-014-8 / 3865120148
ISBN-13 978-3-86512-014-4 / 9783865120144
Zustand Neuware
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