Unterwegs ins Morgenland (eBook)
320 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30439-8 (ISBN)
Bernd Brunner, 1964 geboren, schreibt vielbeachtete, höchst unterhaltsame Bücher an der Schnittstelle von Kultur und Wissenschaftsgeschichte. Bei Galiani sind Die Kunst des Liegens (2012), Ornithomania (2015), Als die Winter noch Winter waren (2016) und Die Erfindung des Nordens (2019) erschienen. Seine Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. Er lebt in Berlin.
Bernd Brunner, 1964 geboren, schreibt vielbeachtete, höchst unterhaltsame Bücher an der Schnittstelle von Kultur und Wissenschaftsgeschichte. Bei Galiani sind Die Kunst des Liegens (2012), Ornithomania (2015), Als die Winter noch Winter waren (2016) und Die Erfindung des Nordens (2019) erschienen. Seine Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. Er lebt in Berlin.
Der Geist weht, wo er will – Wie heilig sind heilige Orte?
Gibt es Orte, die heiliger sind als andere? Die frühen Christen haben dazu eine recht eindeutige Auffassung: Nur in gläubiger Gemeinschaft erweise Gott seine Präsenz, sie ist nicht an einen bestimmten Ort gebunden. Jesus war auferstanden und in den Himmel aufgestiegen; den Orten, an denen er lebte und starb, maßen sie keine besondere Bedeutung bei. »Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt, da bin ich mitten unter ihnen« heißt es nach Matthäus, Kapitel 18. Man denke auch an die Worte des 354 in Nordafrika geborenen heiligen Augustinus von Hippo, dass Gott überall gegenwärtig sei. In seinen Confessiones schreibt er: »Menschen gehen in die Fremde und bewundern die Höhe der Berge, die mächtigen Wellen im Meer, die breiten Flüsse, den Umfang der Meere und den Kreislauf der Sterne – und gehen doch gedankenlos am Geheimnis ihres eigenen Lebens vorbei.« Neugier, die für die Pilgerreise, wenn auch kaum ausgesprochen, immer eine Rolle spielte, galt Augustinus als eine Untugend.
Der heilige Hieronymus versucht in einem um 395 verfassten Brief dem heiligen Paulinus von Nola von einer Wallfahrt nach Jerusalem abzuraten: »Ich wage nicht, die Allmacht Gottes in enge Grenzen einzuschließen und den auf einen kleinen Landstrich zu beschränken, den der Himmel nicht faßt. Die Gläubigen werden jeder für sich nicht nach der Verschiedenheit ihres Wohnortes, sondern nach dem Verdienste des Glaubens gewogen; und die wahrhaftigen Anbeter beten den Vater weder zu Jerusalem noch auf dem Berge Garizim an. Denn Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten. Der Geist weht, wo er will; die Erde ist des Herrn und was darinnen ist … Sowohl von Jerusalem wie von Britannien aus steht der Himmel gleichermaßen offen; dass das Reich Gottes ist inwendig in euch.« Angesichts dieses leidenschaftlichen Plädoyers mag es überraschen, dass der heilige Hieronymus diesen Brief ausgerechnet in Bethlehem schreibt, wo er sich schon seit 386 aufhielt und dann den Rest seines Lebens verbracht hat.
Zumindest im Sinne der Evangelien hätten sich die Gläubigen gar nicht auf den Weg zu heiligen Stätten machen müssen – weder zu in der Nähe ihrer Heimat gelegenen noch ins weit entfernte Heilige Land. Aus diesem Denken heraus hätte es auch keine Kreuzzüge geben müssen, denn wer nun gerade in Jerusalem an der Macht ist, das war für diese Gläubigen ebenfalls nicht von Bedeutung. Doch es kam anders: Ungezählte Pilgerscharen sind nach Jerusalem gezogen – trotz des immer wieder beklagten Volksgewühls und der Zerstreuungen, denen die Menschen vor Ort begegneten.
Egeria war nicht die erste Pilgerin im Heiligen Land. Unter den reichen und zu Askese neigenden Frauen, die sich dorthin begaben, gilt die christliche kaiserliche Schutzpatronin Helena in dieser frühen Phase als Leitfigur, sie machte die Wallfahrtsbewegung gewissermaßen hoffähig. Schon 326/327 bricht sie ins Heilige Land auf, also mehr als ein halbes Jahrhundert vor Egeria. Der Legende nach soll sie Grabungen veranlassen, in deren Zuge Überbleibsel des Kreuzes Christi einschließlich der Nägel, der Ort des Heiligen Grabes sowie der Geburtskirche gefunden werden. Im späten vierten Jahrhundert bestimmt Konstantin der Große einige Örtlichkeiten, die angeblich in Kontakt mit dem Körper von Christus gewesen sein sollen, bevor er in den Himmel aufgestiegen ist, als heilig und veranlasst den Bau der Grabeskirche, der Basilika über der Geburtskirche in Bethlehem sowie der Basilika auf dem Ölberg. Die ursprünglichen Orte des Evangeliums waren verlorengegangen, seitdem Hadrian das alte Jerusalem 135 nach dem Bar-Kochba-Aufstand dem Erdboden gleichgemacht hatte. Es mussten also neue, an bestimmte Orte gebundene Ursprungsmythen geschaffen werden. Hinzu kamen Heiligen- und Märtyrerkulte, die ebenfalls mit bestimmten Gräbern bzw. Orten in Verbindung gebracht werden.
Das Heilige Land bot den westeuropäischen Pilgern nun etwas, das man zu Hause nicht finden konnte, und wie ein Magnet zog es sie an. Ab 451 war es der Sitz des Patriarchen. Das Heilige Land wurde für eifrige Christen das »irdisch-himmlische Vaterland«, wie der Schweizer Kulturhistoriker Jacob Burckhardt in Die Zeit Constantins des Großen (1853) schreibt. »In zahllosen Gläubigen aber erwachte unwiderstehlich der natürliche Drang, Orte, die dem Gemüte heilig waren, in Person zu besuchen.«
Im Jahre 614 wurde Jerusalem von den Persern, 638 vom zweiten Kalif Omar erobert und in der Folge umgestaltet. Juden durften fortan den alten Tempelplatz nicht mehr betreten; die westliche Umfassungsmauer des Platzes, die Klagemauer, wurde als letzter Rest des einstigen Tempels Symbol der Hingabe an Jerusalem und zum Ziel jüdischer Pilger. Obwohl die Eroberer erhebliche Repressionen ausübten, konnten sich die christlichen Gemeinschaften halten, und auch Pilger kamen weiterhin ins Land, wenn auch häufig der Verdacht im Raum stand, es handele sich bei ihnen um Spione. In dieser Zeit waren es vorwiegend Adlige aus Frankreich und Lothringen, auch aus Skandinavien, die das Heilige Land meist auf dem Landweg und über Konstantinopel erreichten. Das brachte für sie den Vorteil, dass sie dann auch die Bauwerke von Byzanz besuchen konnten – obgleich diese Stadt nicht als Wallfahrtsort galt.
Über die Reise des fränkischen Bischofs Arculf ist bekannt, dass sie mindestens zwei Jahre gedauert hat und lange Aufenthalte in Jerusalem, Alexandria und Konstantinopel umfasste. Arculf kommt nach Jerusalem, nachdem es erobert worden war, aber noch bevor der Felsendom erbaut wurde (687–691). Er wird für die Präzision seiner Beschreibungen der Kirchen gelobt, so erwähnt er etwa das im Grab über das Haupt des Herrn gelegte Schweißtuch und die Lanze des Soldaten, mit der dieser die Seite des am Kreuz hängenden Jesus durchbohrt hatte. Man mag sich aus heutiger Sicht wundern, dass Arculf nicht näher auf den Islam oder die Muslime einging, im Zuge seiner Schilderung Jerusalems findet sich jedoch diese Erwähnung: »Übrigens haben an dem berühmten Ort, wo vorzeiten der Tempel prächtig errichtet war, in der Nähe der östlichen Mauer gelegen, die Sarazenen jetzt ein viereckiges Bethaus gebaut, das sie mit aufrecht stehenden Brettern und großen Balken über einigen Trümmerresten aufgeführt haben; sie besuchen es fleißig, und das Haus kann – wie berichtet wird – etwa 3000 Menschen fassen.« Wegen der Bezeichnung »Bethaus« ist davon auszugehen, dass es sich um eine Moschee handelte – »Sarazenen« galt damals als Sammelbegriff für die islamisierten sesshaften Völker des östlichen und südlichen Mittelmeerraums. Es folgt ein Hinweis auf »die unzählbare Menge verschiedener Völkerschaften«, die »alljährlich am 12. September von überallher in Jerusalem zusammenkommen, um Handel mit Wechselgeschäften, Verkäufen und Käufen zu treiben«.
Der Schiffsverkehr der venezianischen und byzantinischen Flotte intensivierte sich erst, nachdem die Araber ihre Stützpunkte in Italien und in Frankreich verloren hatten – in der Schlacht von Tours und Poitiers 732 besiegten die Franken die Mauren und begrenzten deren Expansion von der Iberischen Halbinsel nach Norden. Und als das strategisch besonders wichtig gelegene Emirat von Kreta 961 an die Byzantiner zurückfiel, wurde der Seeverkehr in diesem Teil des Mittelmeeres sicherer. Kreta, später Teil der Republik Venedig, wurde erst in der Mitte des 17. Jahrhunderts von den Osmanen erobert.
Als die größte Massenwallfahrt für die Zeit kurz vor den Kreuzzügen galt jene, die Gunther von Bamberg, der Bischof dieser Stadt, mit dem Erzbischof Siegfried von Mainz sowie den Bischöfen Wilhelm von Utrecht, Otto von Regensburg und anderen religiösen Würdenträgern während der Jahre 1064 und 1065 unternahm – gemeinsam mit ihnen sollen mehr als 10.000 Menschen ins Heilige Land gereist sein. Von Bamberg hat der Nachwelt eine Beschreibung der Torturen dieser Reise hinterlassen, die er im syrischen Lakatia, also noch kurz vor dem Ziel, zu Papier brachte: »Wir gingen durch Feuer und Wasser, beängstigt von den Ungarn, attackiert von den Bulgaren, von den Türken in die Flucht geschlagen, wir mussten allerlei Unbilden seitens der arroganten Griechen in Konstantinopel erfahren und Wutanfälle der Bewohner von Kilikien dulden … Aber ich fürchte, dass das Schlimmste uns noch erwartet.« Womit er Recht behalten sollte, denn die Pilgergruppe wurde kurz vor dem Ziel, unweit von Caesarea, von Arabern überfallen. Zwar erreichte der Bischof Jerusalem, verstarb dann allerdings – offenbar eines natürlichen Todes – auf der Rückreise und sah seine Heimat nie wieder.
Genau um diese Zeit war es, dass sich die Christen Jerusalems, die immer Bedrängnissen ausgesetzt waren, im Christenviertel, dort, wo auch der Patriarch zu Hause war, konzentrierten. Kalvarienberg und Grabeskirche galten nun als die heiligen Stätten erster Ordnung. Eine einschneidende Wendung vollzog sich, als die Seldschuken 1071 siegreich aus der Schlacht von Manzikert (dem heutigen Malazgirt im Osten der Türkei) hervorgingen und Byzanz den überwiegenden Teil Kleinasiens einbüßte. Der byzantinische Kaiser Alexios Komnenos rief bei Papst Urban II. nach militärischer Hilfe und das Konzil von Clermont, das 1095 stattfand, zog dann den Ersten Kreuzzug, eine Art bewaffnete Wallfahrt, nach sich – eine Folge von Ereignissen, mit denen der Kaiser sicherlich nicht gerechnet hatte. Vier Jahre später, 1099, wurde Jerusalem von den Kreuzrittern erstürmt und ein Teil der Bevölkerung massakriert....
Erscheint lt. Verlag | 7.3.2024 |
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Zusatzinfo | 8 S. farbiger Bildteil, zahlreiche s/w Vignetten |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik |
Schlagworte | Abenteuer • Anthologie • Bernd Brunner • Christentum • Das Buch der Nacht • Die Erfindung des Nordens • Die Kunst des Liegens • Heiliges Land • Islam • Israel • Jerusalem • Judentum • Kultur-Geschichte • Mittelalter • Morgenland • Orient • orientalisch • Ornithomania • Palästina • Pilger-Reise • Reise-Bericht |
ISBN-10 | 3-462-30439-9 / 3462304399 |
ISBN-13 | 978-3-462-30439-8 / 9783462304398 |
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Größe: 5,6 MB
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