Die Kunst des Liebens - Erich Fromm

Die Kunst des Liebens

Mit einem biographischen Nachwort von Rainer Funk

(Autor)

Buch | Hardcover
192 Seiten
2006
DVA (Verlag)
978-3-421-04239-2 (ISBN)
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Der Klassiker zum ewigen Thema Liebe


»Ist Lieben eine Kunst? Wenn es das ist, dann wird von dem, der diese Kunst beherrschen will, verlangt, dass er etwas weiß und dass er keine Mühe scheut. Oder ist die Liebe nur eine angenehme Empfindung, die man rein zufällig erfährt, etwas, was einem sozusagen ›in den Schoß fällt‹, wenn man Glück hat? Dieses kleine Buch geht davon aus, dass Lieben eine Kunst ist, obwohl die meisten Menschen heute zweifellos das letztere annehmen.«
Erich Fromm, Die Kunst des Liebens


Die Kunst des Liebens ist Erich Fromms meistgelesenes Buch. Für Fromm ist die Liebe – neben der Vernunft – die wichtigste seelische Triebfeder des Menschen. Sie wächst und entwickelt eine verändernde Kraft nur in dem Maße, wie sie praktiziert wird.


Erich Fromm, Psychoanalytiker und Sozialphilosoph, wurde am 23. März 1900 in Frankfurt am Main geboren. Nach seiner Promotion in Soziologie 1922 in Heidelberg kam er mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds in Berührung und wurde Psychoanalytiker. 1933 emigrierte er in die USA, wo er an verschiedenen Instituten lehrte, und anschließend, von 1950 bis 1974, an der Universität von Mexiko City unterrichtete. Er starb 1980 in Locarno in der Schweiz.

VORWORT Man darf von diesem Buch keine simple Anleitung zur Kunst des Liebens erwarten; tut man es doch, wird man enttäuscht sein. Das Buch möchte ganz im Gegenteil zeigen, dass die Liebe kein Gefühl ist, dem sich jeder ohne Rücksicht auf den Grad der eigenen Reife nur einfach hinzugeben braucht. Ich möchte den Leser davon überzeugen, dass alle seine Versuche zu lieben fehlschlagen müssen, sofern er nicht aktiv versucht, seine ganze Persönlichkeit zu entwickeln, und es ihm so gelingt, produktiv zu werden; ich möchte zeigen, dass es in der Liebe zu einem anderen Menschen überhaupt keine Erfüllung ohne die Liebe zum Nächsten, ohne wahre Demut, ohne Mut, Glaube und Disziplin geben kann. In einer Kultur, in der diese Eigenschaften rar geworden sind, wird die Fähigkeit zu lieben nur selten voll entwickelt. Jeder mag sich selbst die Frage stellen, wie viele wahrhaft liebende Menschen er kennt. Dass die Aufgabe schwer ist, sollte uns jedoch nicht davon abhalten zu versuchen, uns die Schwierigkeiten klarzumachen und die Voraussetzungen, die man braucht, um diese Schwierigkeiten zu überwinden. Um die Sache nicht zu komplizieren, habe ich mich bemüht, in einer einfachen, klaren Sprache zu schreiben. Aus eben diesem Grunde habe ich auch möglichst wenig auf Fachliteratur verwiesen. Für ein weiteres Problem habe ich allerdings keine voll befriedigende Lösung gefunden. Ich konnte es nicht immer vermeiden, Gedanken aus meinen früheren Veröffentlichungen zu wiederholen. Leser, die mit meinen Büchern, insbesondere mit ›Die Furcht vor der Freiheit‹ (1941a), ›Psychoanalyse und Ethik‹ (1947a) und ›Wege aus einer kranken Gesellschaft‹ (1955a) vertraut sind, werden hier viele Gedanken wieder finden. Trotzdem ist das vorliegende Buch keine Wiederholung. Es enthält viele neue Gedanken, und natürlich gewinnen Überlegungen, auch wenn sie bereits in anderen Zusammenhängen angestellt wurden, dadurch, dass sie sich alle auf ein einziges Thema – die Kunst des Liebens – konzentrieren, neue Perspektiven. Erich Fromm I IST LIEBEN EINE KUNST? Ist Lieben eine Kunst? Wenn es das ist, dann wird von dem, der diese Kunst beherrschen will, verlangt, dass er etwas weiß und dass er keine Mühe scheut. Oder ist die Liebe nur eine angenehme Empfindung, die man rein zufällig erfährt, etwas, was einem sozusagen »in den Schoß fällt«, wenn man Glück hat? Dieses kleine Buch geht davon aus, dass Lieben eine Kunst ist, obwohl die meisten Menschen heute zweifellos das letztere annehmen. Nicht als ob man meinte, die Liebe sei nicht wichtig. Die Menschen hungern geradezu danach; sie sehen sich unzählige Filme an, die von glücklichen oder unglücklichen Liebesgeschichten handeln, sie hören sich Hunderte von kitschigen Liebesliedern an – aber kaum einer nimmt an, dass man etwas tun muss, wenn man es lernen will zu lieben. Diese merkwürdige Einstellung beruht auf verschiedenen Voraussetzungen, die einzeln oder auch gemeinsam dazu beitragen, dass sie sich am Leben halten kann. Die meisten Menschen sehen das Problem der Liebe in erster Linie als das Problem, selbst geliebt zu werden, statt zu lieben und lieben zu können. Daher geht es für sie nur darum, wie man es erreicht, geliebt zu werden, wie man liebenswert wird. Um zu diesem Ziel zu gelangen, schlagen sie verschiedene Wege ein. Der eine, besonders von Männern verfolgte Weg ist der, so erfolgreich, so mächtig und reich zu sein, wie es die eigene gesellschaftliche Stellung möglich macht. Ein anderer, besonders von Frauen bevorzugter Weg ist der, durch Kosmetik, schöne Kleider und dergleichen möglichst attraktiv zu sein. Andere Mittel, die sowohl von Männern als auch von Frauen angewandt werden, sind angenehme Manieren, interessante Unterhaltung, Hilfsbereitschaft, Bescheidenheit und Gutmütigkeit. Viele dieser Mittel, sich liebenswert zu machen, sind die gleichen wie die, deren man sich bedient, um Erfolg zu haben, um »Freunde zu gewinnen«. Tatsächlich verstehen ja die meisten Menschen unseres Kulturkreises unter Liebenswürdigkeit eine Mischung aus Beliebtheit und Sex-Appeal. Hinter der Einstellung, dass man nichts lernen müsse, um lieben zu können, steckt zweitens die Annahme, es gehe bei dem Problem der Liebe um ein Objekt und nicht um eine Fähigkeit. Viele Menschen meinen, zu lieben sei ganz einfach, schwierig sei es dagegen, den richtigen Partner zu finden, den man selbst lieben könne und von dem man geliebt werde. Diese Einstellung hat mehrere Ursachen, die mit der Entwicklung unserer modernen Gesellschaft zusammenhängen. Eine Ursache ist die starke Veränderung, die im zwanzigsten Jahrhundert bezüglich der Wahl des »Liebesobjektes« eingetreten ist. Im Viktorianischen Zeitalter war die Liebe – wie in vielen traditionellen Kulturen – kein spontanes persönliches Erlebnis, das hinterher vielleicht zu einer Heirat führte. Ganz im Gegenteil: Ein Heiratsvertrag wurde entweder zwischen den beiden Familien oder von einem Heiratsvermittler oder auch ohne eine derartige Vermittlung abgeschlossen; der Abschluss erfolgte aufgrund gesellschaftlicher Erwägungen unter der Annahme, dass sich die Liebe nach der Heirat schon einstellen werde. In den letzten Generationen ist nun aber die Vorstellung von der romantischen Liebe in der westlichen Welt fast Allgemeingut geworden. Wenn in den Vereinigten Staaten auch Erwägungen herkömmlicher Art nicht völlig fehlen, so befinden sich doch die meisten auf der Suche nach der »romantischen Liebe«, nach einer persönlichen Liebeserfahrung, die dann zur Ehe führen sollte. Diese neue Auffassung von der Freiheit in der Liebe musste notwendigerweise die Bedeutung des Objektes der Liebe – im Gegensatz zu ihrer Funktion – noch verstärken. In engem Zusammenhang hiermit steht ein weiterer charakteristischer Zug unserer heutigen Kultur. Unsere gesamte Kultur gründet sich auf die Lust am Kaufen, auf die Idee des für beide Seiten günstigen Tauschgeschäfts. Schaufenster anzusehen und sich alles, was man sich leisten kann, gegen bares Geld oder auf Raten kaufen zu können, in diesem Nervenkitzel liegt das Glück des modernen Menschen. Er (oder sie) sieht sich die Mitmenschen auf ähnliche Weise an. Der Mann ist hinter einem attraktiven jungen Mädchen und die Frau ist hinter einem attraktiven Mann her. Dabei wird unter »attraktiv« ein Bündel netter Eigenschaften verstanden, die gerade beliebt und auf dem Personalmarkt gefragt sind. Was einen Menschen speziell attraktiv macht, hängt von der jeweiligen Mode ab – und zwar sowohl in körperlicher wie auch in geistiger Hinsicht. In den zwanziger Jahren galt ein junges Mädchen, das robust und sexy war und das zu trinken und zu rauchen wusste, als attraktiv; heute verlangt die Mode mehr Zurückhaltung und Häuslichkeit. Ende des neunzehnten und Anfang unseres Jahrhunderts musste der Mann ehrgeizig und aggressiv sein – heute muss er sozial und tolerant eingestellt sein, um als attraktiv zu gelten. Jedenfalls entwickelt sich das Gefühl der Verliebtheit gewöhnlich nur in Bezug auf solche menschlichen Werte, für die man selbst entsprechende Tauschobjekte zur Verfügung hat. Man will ein Geschäft machen; der erwünschte Gegenstand sollte vom Standpunkt seines gesellschaftlichen Wertes aus begehrenswert sein und gleichzeitig auch mich aufgrund meiner offenen und verborgenen Pluspunkte und Möglichkeiten begehrenswert finden. So verlieben sich zwei Menschen ineinander, wenn sie das Gefühl haben, das beste Objekt gefunden zu haben, das für sie in Anbetracht des eigenen Tauschwerts auf dem Markt erschwinglich ist. Genau wie beim Erwerb eines Grundstücks spielen auch bei diesem Geschäft oft noch entwicklungsfähige, verborgene Möglichkeiten eine beträchtliche Rolle. In einer Kultur, in der die Marketing-Orientierung vorherrscht, in welcher der materielle Erfolg der höchste Wert ist, darf man sich kaum darüber wundern, dass sich auch die menschlichen Liebesbeziehungen nach den gleichen Tauschmethoden vollziehen, wie sie auf dem Waren- und Arbeitsmarkt herrschen. Der dritte Irrtum, der zu der Annahme führt, das Lieben müsste nicht gelernt werden, beruht darauf, dass man das Anfangserlebnis, »sich zu verlieben«, mit dem permanenten Zustand »zu lieben« verwechselt. Wenn zwei Menschen, die einander fremd waren – wie wir uns das ja alle sind –, plötzlich die trennende Wand zwischen sich zusammenbrechen lassen, wenn sie sich eng verbunden, wenn sie sich eins fühlen, so ist dieser Augenblick des Einsseins eine der freudigsten, erregendsten Erfahrungen im Leben. Besonders herrlich und wundervoll ist er für Menschen, die bisher abgesondert, isoliert und ohne Liebe gelebt haben. Dieses Wunder der plötzlichen innigen Vertrautheit wird oft dadurch erleichtert, dass es mit sexueller Anziehung und sexueller Vereinigung Hand in Hand geht oder durch sie ausgelöst wird. Freilich ist diese Art Liebe ihrem Wesen nach nicht von Dauer. Die beiden Menschen lernen einander immer besser kennen, und dabei verliert ihre Vertrautheit immer mehr den geheimnisvollen Charakter, bis ihr Streit, ihre Enttäuschungen, ihre gegenseitige Langeweile die anfängliche Begeisterung getötet haben. Anfangs freilich wissen sie das alles nicht und meinen, heftig verliebt und »verrückt« nacheinander zu sein, sei der Beweis für die Intensität ihrer Liebe, während es vielleicht nur beweist, wie einsam sie vorher waren. Diese Auffassung, nichts sei einfacher als zu lieben, herrscht noch immer vor, trotz der geradezu überwältigenden Gegenbeweise. Es gibt kaum eine Aktivität, kaum ein Unterfangen, das mit so ungeheuren Hoffnungen und Erwartungen begonnen wurde und das mit einer solchen Regelmäßigkeit fehlschlägt wie die Liebe. Wäre das auf irgendeinem anderen Gebiet der Fall, so würde man alles daransetzen, die Gründe für den Fehlschlag herauszufinden und in Erfahrung zu bringen, wie man es besser machen könnte – oder man würde es aufgeben. Da letzteres im Falle der Liebe unmöglich ist, scheint es doch nur einen richtigen Weg zu geben, um ein Scheitern zu vermeiden: die Ursachen für dieses Scheitern herauszufinden und außerdem zu untersuchen, was »lieben« eigentlich bedeutet. Der erste Schritt auf diesem Wege ist, sich klarzumachen, dass Lieben eine Kunst ist, genauso wie Leben eine Kunst ist; wenn wir lernen wollen zu lieben, müssen wir genauso vorgehen, wie wir das tun würden, wenn wir irgendeine andere Kunst, zum Beispiel Musik, Malerei, das Tischlerhandwerk oder die Kunst der Medizin oder der Technik lernen wollten. Welches sind die notwendigen Schritte, um eine Kunst zu erlernen? Man kann den Lernprozess in zwei Teile aufteilen: Man muss einerseits die Theorie und andererseits die Praxis beherrschen. Will ich die Kunst der Medizin erlernen, so muss ich zunächst die Fakten über den menschlichen Körper und über die verschiedenen Krankheiten wissen. Wenn ich mir diese theoretischen Kenntnisse erworben habe, bin ich aber in der Kunst der Medizin noch keineswegs kompetent. Ich werde erst nach einer langen Praxis zu einem Meister in dieser Kunst, erst dann, wenn schließlich die Ergebnisse meines theoretischen Wissens und die Ergebnisse meiner praktischen Tätigkeit miteinander verschmelzen und ich zur Intuition gelangen, die das Wesen der Meisterschaft in jeder Kunst ausmacht. Aber abgesehen von Theorie und Praxis muss noch ein dritter Faktor gegeben sein, wenn wir Meister in einer Kunst werden wollen: Die Meisterschaft in dieser Kunst muss uns mehr als alles andere am Herzen liegen; nichts auf der Welt darf uns wichtiger sein als diese Kunst. Das gilt für die Musik wie für die Medizin und die Tischlerei – und auch für die Liebe. Und hier haben wir vielleicht auch die Antwort auf unsere Frage, weshalb die Menschen unseres Kulturkreises diese Kunst nur so selten zu lernen versuchen, obwohl sie doch ganz offensichtlich daran scheitern: Trotz unserer tiefen Sehnsucht nach Liebe halten wir doch fast alles andere für wichtiger als diese: Erfolg, Prestige, Geld und Macht. Unsere gesamte Energie verwenden wir darauf zu lernen, wie wir diese Ziele erreichen, und wir bemühen uns so gut wie überhaupt nicht darum, die Kunst des Liebens zu erlernen. Halten wir vielleicht nur das für der Mühe wert, womit wir Geld verdienen oder was unser Prestige erhöht, und ist die Liebe, die »nur« unserer Seele nützt und die im modernen Sinne keinen Gewinn abwirft, ein Luxus, für den wir nicht viel Energie aufbringen dürfen? Wie dem auch sei, wir wollen uns im folgenden mit der Kunst des Liebens beschäftigen und wollen dabei folgendermaßen vorgehen: Zunächst soll die Theorie der Liebe erörtert werden (was den größten Teil dieses Buches ausmachen wird), und an zweiter Stelle wollen wir uns mit der Praxis der Liebe beschäftigen – wenn sich auch hier (wie auf allen anderen Gebieten) nur wenig über die Praxis sagen lässt. II DIE THEORIE DER LIEBE a) Liebe als Antwort auf das Problem der menschlichen Existenz Jede Theorie der Liebe muss mit einer Theorie des Menschen, der menschlichen Existenz beginnen. Wenn wir die Liebe – oder, besser gesagt, etwas der Liebe Ähnliches – auch bei Tieren finden, so sind doch deren Liebesbeziehungen hauptsächlich ein Bestandteil ihres Instinktapparats, während beim Menschen nur noch Überreste seiner Instinktausstattung zu beobachten sind. Das Wesentliche an der Existenz des Menschen ist ja, dass er sich über das Tierreich und seine instinktive Anpassung erhoben hat, dass er die Natur transzendiert hat, wenn er sie auch nie ganz verlässt. Er ist ein Teil von ihr und kann doch nicht in sie zurückkehren, nachdem er sich einmal von ihr losgerissen hat. Nachdem er einmal aus dem Paradies – dem Zustand des ursprünglichen Einsseins mit der Natur – vertrieben ist, verwehren ihm die Cherubim mit flammendem Schwert den Weg, wenn er je versuchen sollte, dorthin zurückzukehren. Der Mensch kann nur vorwärts schreiten, indem er seine Vernunft entwickelt, indem er eine neue, eine menschliche Harmonie findet anstelle der vormenschlichen Harmonie, die unwiederbringlich verloren ist. Mit der Geburt (der menschlichen Gattung wie auch des einzelnen Menschen) wird der Mensch aus einer Situation, die so unbedingt festgelegt war wie die Instinkte, in eine Situation hineingeschleudert, die nicht festgelegt, sondern ungewiss und offen ist. Nur in Bezug auf die Vergangenheit herrscht Gewissheit, und für die Zukunft ist nur der Tod gewiss. Der Mensch ist mit Vernunft ausgestattet; er ist Leben, das sich seiner selbst bewusst ist. Er besitzt ein Bewusstsein seiner selbst, seiner Mitmenschen, seiner Vergangenheit und der Möglichkeiten seiner Zukunft. Dieses Bewusstsein seiner selbst als einer eigenständigen Größe, das Gewahrwerden dessen, dass er eine kurze Lebensspanne vor sich hat, dass er ohne seinen Willen geboren wurde und gegen seinen Willen sterben wird, dass er vor denen, die er liebt, sterben wird (oder sie vor ihm), dass er allein und abgesondert und den Kräften der Natur und der Gesellschaft hilflos ausgeliefert ist – all das macht seine abgesonderte, einsame Existenz zu einem unerträglichen Gefängnis. Er würde dem Wahnsinn verfallen, wenn er sich nicht aus diesem Gefängnis befreien könnte – wenn er nicht in irgendeiner Form seine Hände nach anderen Menschen ausstrecken und sich mit der Welt außerhalb seiner selbst vereinigen könnte. Die Erfahrung dieses Abgetrenntseins erregt Angst, ja sie ist tatsächlich die Quelle aller Angst. Abgetrennt sein heißt abgeschnitten sein und ohne jede Möglichkeit, die eigenen Kräfte zu nutzen. Daher heißt abgetrennt sein hilflos sein, unfähig sein, die Welt – Dinge wie Menschen – mit eigenen Kräften zu erfassen; es heißt, dass die Welt über mich herfallen kann, ohne dass ich in der Lage bin, darauf zu reagieren. Daher ist das Abgetrenntsein eine Quelle intensiver Angst. Darüber hinaus erregt es Scham und Schuldgefühle. Diese Erfahrung von Schuld und Scham im Abgetrenntsein kommt in der biblischen Geschichte von Adam und Eva zum Ausdruck. Nachdem Adam und Eva vom »Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen« gegessen haben, nachdem sie ungehorsam waren (Gut und Böse gibt es nur, wenn die Freiheit zum Ungehorsam besteht), nachdem sie dadurch menschlich wurden, dass sie sich von der ursprünglichen animalischen Harmonie mit der Natur emanzipierten, also nach ihrer Geburt als menschliche Wesen, erkannten sie, »dass sie nackt waren« (Gen 3, 7), und schämten sich. Ist tatsächlich anzunehmen, dass ein so alter und elementarer Mythos wie dieser von der prüden Moral des neunzehnten Jahrhunderts erfüllt ist und dass wir darauf hingewiesen werden sollen, dass sie sich genierten, weil ihre Genitalien sichtbar waren? Das ist doch kaum denkbar, und wenn wir die Geschichte im viktorianischen Sinn verstehen, entgeht uns das, worauf es doch offenbar ankommt: Nachdem Mann und Frau sich ihrer selbst und ihres Partners bewusst geworden sind, sind sie sich auch ihrer Getrenntheit und Unterschiedlichkeit bewusst, insofern sie verschiedenen Geschlechts sind. Sie erkennen zwar ihre Getrenntheit, bleiben sich aber fremd, weil sie noch nicht gelernt haben, sich zu lieben. (Dies geht auch sehr klar daraus hervor, dass Adam sich verteidigt, indem er Eva anklagt, anstatt dass er versucht, sie zu verteidigen.) Das Bewusstsein der menschlichen Getrenntheit ohne die Wiedervereinigung durch die Liebe ist die Quelle der Scham. Und es ist gleichzeitig die Quelle von Schuldgefühl und Angst. Das tiefste Bedürfnis des Menschen ist demnach, seine Abgetrenntheit zu überwinden und aus dem Gefängnis seiner Einsamkeit herauszukommen. Ein absolutes Scheitern bei diesem Versuch führt zum Wahnsinn, weil das panische Entsetzen vor einer völligen Isolation nur dadurch zu überwinden ist, dass man sich so völlig von der Außenwelt zurückzieht, dass das Gefühl des Abgetrenntseins verschwindet, und zwar weil die Außenwelt, von der man abgetrennt ist, verschwunden ist. Der Mensch sieht sich – zu allen Zeiten und in allen Kulturen – vor das Problem der Lösung der einen und immer gleichen Frage gestellt: wie er sein Abgetrenntsein überwinden, wie er zur Vereinigung gelangen, wie er sein eigenes einzelnes Leben transzendieren und das Einswerden erreichen kann.

Erscheint lt. Verlag 17.10.2014
Nachwort Rainer Funk
Sprache deutsch
Maße 135 x 215 mm
Gewicht 360 g
Einbandart gebunden
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie
Schlagworte Liebe
ISBN-10 3-421-04239-X / 342104239X
ISBN-13 978-3-421-04239-2 / 9783421042392
Zustand Neuware
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