Archiv - Macht - Wissen

Organisation und Konstruktion von Wissen und Wirklichkeiten in Archiven

Anja Horstmann, Vanina Kopp (Herausgeber)

Buch | Softcover
252 Seiten
2010
Campus (Verlag)
978-3-593-39146-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Archiv - Macht - Wissen -
42,00 inkl. MwSt
Nicht erst seit dem Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln sind Archive und ihre Rolle als Träger von Erinnerung, Repräsentation, Wissenskonstruktion und Herrschaftspraxis von Interesse. Die Autorinnen und Autoren beleuchten diese Zusammenhänge mithilfe eines erweiterten Archivbegriffs, der Akten, Sammlungen in Bibliotheken und Museen, aber auch Diskurse umfasst.
Nicht erst seit dem Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln sind Archive und ihre Rolle als Träger von Erinnerung, Repräsentation, Wissenskonstruktion und Herrschaftspraxis von Interesse. Die Autorinnen und Autoren beleuchten diese Zusammenhänge mithilfe eines erweiterten Archivbegriffs, der Akten, Sammlungen in Bibliotheken und Museen, aber auch Diskurse umfasst.

Anja Horstmann und Vanina Kopp sind Stipendiatinnen des Graduiertenkollegs "Archiv - Macht - Wissen" an der Universität Bielefeld.

Inhalt


Einleitung

Archiv - Macht - Wissen: Organisation und Konstruktion von Wissen und Wirklichkeiten in Archiven
Anja Horstmann, Vanina Kopp


Archive als Orte der Herrschaftspraxis

Simancas - Ein Archiv um die Welt zu regieren? Archivwissen und Verwaltungshandeln zur Zeit Philipps II.
Marc-André Grebe

Informationsverdichtung als Herrschaftsintensivierung?
Michael Aumüller

Königliche Archive und Herrschaftsinformation am Beispiel des spätmittelalterlichen Frankreichs
Vanina Kopp

Das Schweigen der Subalternen - Die Entstehung der Archivkritik im Postkolonialismus
Hubertus Büschel


Archive als Orte der Wissenskonstruktion

Offenbaren und Verheimlichen "vor dem Archiv" - Schriftlichkeit, Sichtbarkeit und Öffentlichkeit im spätmittelalterlichen Lüneburg
Andreas Litschel

Die Schrift der Sterne - Das ›astro-politische‹ Archiv der Bibliothek Morandi
Sabine Kalff

Stören, Vergessen, Zerstören - Ein anderer Blick auf einen frühneuzeitlichen Kulturtransfer
Mareike Menne

Antiquarische Topik - Der Codex Pighianus und die Wissensverarbeitung der Frühen Neuzeit
Kathrin Schade

Das Museum als Sacharchiv - Deponieren und Exponieren von antiker Plastik in den Berliner Sammlungen des 19. Jahrhunderts
Astrid Fendt


Archive als Orte der (Re-)Präsentation und der Wandlung

Das Zeigen, Vergessen und Erinnern von Pressefotografien - Zur Funktionsweise der Massenmedien als visuelles Archiv
Maren Tribukait

Film als Archivmedium und Medium des Archivs
Anja Horstmann

Das "Archiv des Bia?ystoker Judenrats" - Selbstbilder jüdischer Akteure in den Quellen des geheimen Ghettoarchivs 1941-1943
Karsten Wilke

Die Rettung des Archivs - Ein Vorschlag zur Analyse eines Wissensnetzwerks
Yaman Kouli


Ausblick

Vom Sammler zum Jäger - Überlegungen zur archivischen Überlieferungsbildung im nichtamtlichen Bereich
Stefan Sudmann


Autorinnen und Autoren

Aber was genau ist ein Archiv? Um sich dieser Frage anzunähern, soll eine allgemeine Definition vorangestellt werden: Das Archiv ist ein komplexes System, in dem verschiedene kulturelle Techniken und Materialien in unterschiedlichen Verhältnissen zueinander stehen. Weitere Anhaltspunkte, die gleichsam Stoßrichtungen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Archiv vorgeben, liefert die Definition eines ›Dispositivs‹ von Michel Foucault: "Es ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebenso wie Ungesagtes umfasst. […] Das Dispositiv ist selbst das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann. Zweitens möchte ich mit dem Dispositiv gerade die Natur der Verbindung deutlich machen, die zwischen diesen heterogenen Elementen sich herstellen kann." Die Parallelen zum Archiv werden in den folgenden Erklärungen deutlich, in denen das ›Dispositiv‹ "als Operator […] zur Bearbeitung, Lösung gesellschaftlicher Problemlagen und Transformationsphasen verstanden werden" kann. Dabei ist das Dispositiv strategisch zu nutzen: "Drittens verstehe ich unter Dispositiv eine Art - sagen wir - Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand (urgence) zu antworten." Diese Definition weist auf mehrere Aspekte hin, die ein Archiv auszeichnen: unterschiedliche Organisationen, Verknüpfungen zwischen der Gesellschaft und den Diskursen von Macht und Wissen, die den Fokus darauf richten, die Wirklichkeit in ihren als wesentlich betrachteten Elementen abzubilden. Jede Verschiebung oder Umcodierung eines Parameters bringt eine Verschiebung im ›Dispositiv‹ mit sich und somit eine Änderung in der Perzeption der Wirklichkeit. Das Archiv umfasst eine Datenmenge, die je nach Belieben und Können umgeformt oder anders gelesen werden kann, um neue Sinnzusammenhänge zu kreieren oder sich neuen Begebenheiten anzupassen und bildet somit die Basis auf der sich Wirklichkeiten konstruieren können. Dies ist scheinbar mit der Vorstellung von ›klassischen‹, institutionellen Archiven schwer zu vereinbaren, wird aber umso einleuchtender, wenn man an die Wandelbarkeit und Anpassungsfähigkeit von Erinnerungen oder von modernen (Speicher-)Medien denkt. An der Schnittstelle all dieser Überlegungen fragen die Autorinnen und Autoren dieses Buches auf der einen Seite danach, was für Formen und Ausprägungen Archive in unterschiedlichen Zeiten angenommen und wie Gesellschaften Wissen über sich gespeichert, geordnet und genutzt haben. Auf der anderen Seite soll analysiert werden, was diese Archive abbilden und welche Auswahlmechanismen nicht nur das Wissen und das Material, sondern auch die Zugänglichkeit und Kontrolle desselben konditionierten. Kurzum: In welche Wissens- und Machtstrukturen fügte sich das jeweils Archivierte, seien es amtliche Dokumente, private Buchsammlungen, Filme oder Erinnerungen, ein? Im Hintergrund zieht sich die methodologische Frage durch die vorliegenden Texte, wie historisch mit diesem Material umgegangen werden kann. Archiviertes ist einerseits Zeugnis einer Vergangenheit, andererseits auch Zeuge seiner Entstehung. Dieser Zusammenhang zwischen Realität und ihrer Repräsentation bewegt die (Geschichts-)Wissenschaft, wenn es um die Frage geht, wie Wirklichkeiten analysiert werden können, die ihrerseits durch die Überlieferung und ihre sozialen, politischen und diskursiven Bedingungen konstruiert sind. Das folgende lateinische Wortspiel illustriert anschaulich, dass keine Information (data) selbstverständlich gegeben (data) ist. Nutzer sind davon abhängig, welche Informationen unter welchen Bedingungen überliefert und wie diese institutionell und technisch zugänglich sind. Nicht zuletzt treten Historikerinnen und Historiker selbst als Akteure der Selektion auf, indem sie diese oder jene Informationen für ihre Forschung auswählen oder nicht. Dies bedeutet nicht nur, das Archivierte zu nutzen, sondern gleichzeitig die Bedingungen seiner Entstehung mit einzubeziehen. Etwas überspitzt ausgedrückt gilt es nicht, wie im Historismus, im Archiv alles als getreues Abbild der Wirklichkeit zu betrachten und zu edieren, um zu beschreiben, "wie es eigentlich gewesen ist". Denn der Blick ins Archiv täuscht, Selektionsprozesse und die daraus erfolgenden Leerstellen müssen immer mitgedacht werden: Das Eigentliche des Archivs ist "seine Lücke, sein durchlöchertes Wesen", das bedeutet, dass es ohne das Mitdenken dieser Leerstellen nicht möglich ist, eine Realität zu rekonstruieren. Deshalb ist es wichtig, Prozesse der Auswahl, der Inklusion (und noch viel häufiger der Exklusion), die dem Archiv inhärent sind, zu berücksichtigen. Dies gilt für die materielle und institutionelle Wirklichkeit des Archivs (was wird als archivwürdig betrachtet, was wird kassiert?) ebenso wie für die immaterielle und erweiterte Wirklichkeit (welche Spuren hinterlässt sie und wie werden diese gespeichert?). Diese Prozesse auszublenden würde bedeuten, den Bedingungen der Selektion, ihren Verlusten und Manipulationen, aufzusitzen. Der Umgang mit dem Zeichenträger, dem Archivmedium, muss in diesem Zusammenhang ebenfalls überdacht werden. Dies gilt sowohl für nichtamtliche und semi-institutionalisierte Bestände, als auch für ›neue‹ Medien wie Fotografien oder Filme, die aus dem institutionellen Rahmen fallen. Es gilt nicht nur das Material ›handwerklich‹ zu verstehen, sondern ebenso seinen Platz im diskursiven Archivraum wiederzufinden und zu reflektieren, das heißt die Bedingungen seiner Entstehung, den Prozess seiner Archivierung und der Benutzung. Insbesondere für immaterielle und diskursiv konstruierte Archive ist diese Reflexion notwendig, da ihnen die ›übliche‹ Formatierung des Archivs per se fehlt. Gedanklich vorgegangen werden soll nicht institutions- sondern archivgebunden, denn dies ermöglicht, andere Archivkonstruktionen zu betrachten und zu analysieren. Der vorliegende Sammelband hat sich nicht zum Ziel gesetzt zu klären, was das Archiv ist, wohl aber, seine Rolle, seine diversen Ausformungen und Zusammenhänge aus kulturgeschichtlicher Sicht in sich wandelnden Wirklichkeiten zu untersuchen. Die Beiträge behandeln zwei grundlegende Fragen: Welche Archivkonstruktionen haben Gesellschaften hervorgebracht? Wie sind diese Spuren und Sedimente sozialer und kultureller Prozesse aus historischer Perspektive erforschbar? So unterschiedlich wie die Archivalien sind auch die sprachlichen Formen, die das Archiv beschreiben: Als das lateinische Derivat archivum im Jahre 1282 zum ersten Mal überliefert wurde, gab es bereits vorher und später verschiedene Namen und Formen des Archivs, wie sie in diesem Sammelband diskutiert werden. Zunächst bezeichnen ›Schriftarchiv‹, ›Urkundenarchiv‹ samt ›Kanzlei‹ oder gar ›Depot‹ die disparaten materiellen Lokalitäten unter dem Fokus der Lagerung, die unter der Paraphrase ›vor dem Archiv‹ subsumiert werden können. Solange institutionell und chronologisch das ›klassische‹ Aktenarchiv eine Schimäre bleibt, treten Bibliotheken, einzelne Berichte oder Enzyklopädien als Träger eines kulturell konturierten Archivs auf. Ebenso geraten ›Dingarchive‹ wie Museen und Monumente als Archivkonstruktionen in den Blick, die über ihre Ordnungen und Sammlungen jede Art Wissen und Gedächtnis speichern. In diesem Sammelband analysierte Archivkonstruktionen wie ›Register‹, ›Typologien‹ oder ›Wissenskorpora‹ bilden die Fähigkeit einer Kultur ab, sich Wissen zu vergegenwärtigen und Wirklichkeiten zu (re-)konstruieren, oder, nach Michel Foucault, Aussagen zu treffen. Archivbezeichnungen verändern sich jedoch im Laufe der Zeit, vor allem durch das Verhältnis des Archivierungswürdigen zu den technischen Verfahren. Filme und Bilddatenbanken bilden beispielsweise ›visuelle‹ ebenso wie ›virtuelle‹ Archive einer Epoche ab. Mit Diskursen oder Netzwerken, verstanden als Archive, kann man einen abstrakten und immateriellen Archivraum fassen. Wie in den folgenden drei Abschnitten über das Archiv als Ort der Herrschaftspraxis, der Wissenskonstruktion und der (Re-)Präsentation und Wandlung gezeigt werden soll, nutzt der vorliegende Sammelband einen weiten Archivbegriff: Erscheint das Archiv zu Beginn noch als verräumlichte Sammlung von Dokumenten, so wird es im Laufe der Zeit uneindeutiger, vielschichtiger und diffuser. Archive müssen deshalb in ihrer ganzen Ambiguität und Durchlässigkeit verstanden werden, vom konkret Räumlichen zum intellektuell Konstruierten. Zu zeigen wäre, dass jede Epoche und jede Gesellschaft ihre spezifischen Archivformen konstruiert, in denen sie sich spiegelt, im Anblick derer sie sich wiederfindet und sich für die Zukunft archiviert.

Erscheint lt. Verlag 12.4.2010
Co-Autor Michael Aumüller, Hubertus Büschel, Astrid Fendt, Marc-André Grebe, Anja Horstmann, Sabine Kalff, Vanina Kopp, Yaman Kouli, Andreas Litschel, Mareike Menne, Kathrin Schade, Stefan Sudmann, Maren Tribukait, Karsten Wilke
Zusatzinfo 11 Abbildungen
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 141 x 213 mm
Gewicht 345 g
Themenwelt Geisteswissenschaften Geschichte Allgemeines / Lexika
Sozialwissenschaften Pädagogik Allgemeines / Lexika
Schlagworte Archiv • Archive • Bibliothek • Bibliotheken • Codex Pighianus • Diskurs • Erinnerung (Geschichte) • Erinnerungskultur • Friedrich Haarmann • Hardcover, Softcover / Geschichte/Allgemeines, Lexika • Herrschaft • Herrschaftspraxis • Herrschaftsrepräsentation • Johann Neuhoff • Macht • Museum • Repräsentation • Simancas • Wissenschaftsgeschichte
ISBN-10 3-593-39146-5 / 3593391465
ISBN-13 978-3-593-39146-5 / 9783593391465
Zustand Neuware
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