Der Amok-Komplex

oder die Schule des Tötens

(Autor)

Buch | Hardcover
343 Seiten
2012 | 1. Aufl. 2012
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-94627-7 (ISBN)
20,00 inkl. MwSt
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Ist der Amoklauf Teil unserer westlichen Gesellschaft und was verbindet die Taten der jungen Todesschützen weltweit? Ines Geipel stellt fünf exemplarische Orte ins Zentrum ihrer vielschichtigen Recherchen - darunter auch die drei Amokläufe in Deutschland: Erfurt, Emsdetten, Winnenden.


Junge Amokschützen lernen voneinander: Die »Schule des Tötens« erstreckt sich vom australischen Port Arthur bis zum norwegischen Utoya. Die drei deutschen Tatorte Erfurt, Emsdetten und Winnenden stellt Ines Geipel in den Kontext der weltweiten Geschichte des Amoklaufs und sie zeigt, wie diese neue Form der Gewalt aus der Mitte unserer befriedeten westlichen Gesellschaften herausbricht. Was treibt junge Amokläufer an? Warum sind Waffen noch immer so mühelos verfügbar? Wie schützt die Polizei, was klärt die Politik, wer ist für die Hinterbliebenen da? Unveröffentlichte Akten und Materialien, Gespräche mit Augenzeugen, Angehörigen und Experten geben tiefe Einblicke in den AmokKomplex.

Ines Geipel, geboren 1960, ist Schriftstellerin und Professorin für Verssprache an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«. Die ehemalige Weltklasse-Sprinterin floh 1989 nach ihrem Germanistik-Studium aus Jena nach Westdeutschland und studierte in Darmstadt Philosophie und Soziologie. 2000 war sie Nebenklägerin im Prozess gegen die Drahtzieher des DDR-Zwangsdopings. Ihr Buch »Verlorene Spiele« (2001) hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Bundesregierung einen Entschädigungs-Fonds für DDR-Dopinggeschädigte einrichtete. 2005 gab Ines Geipel ihren Staffelweltrekord zurück, weil er unter unfreiwilliger Einbindung ins DDR-Zwangsdoping zustande gekommen war.Ines Geipel hat neben Doping auch vielfach zu anderen gesellschaftlichen Themen wie Amok, der Geschichte des Ostens und auch zu Nachwendethemen publiziert. 2020 erhielt sie den Lessingpreis für Kritik, 2021 den Marieluise-Fleißer-Preis.

Vorwort 7
PROLOG
PORT ARTHUR, 28. APRIL 1996
Das Arsenal in der Clare Street, Nr. 30 13


ERFURT, 26. APRIL 2002 Elster hört!
Polizeinotrufe, Erfurt, am 26. 4.2002
57
Betreff: Kein schneller Notzugriff 71
Der Fall nach dem Fall 114


EMSDETTEN, 20. NOVEMBER 2006 Ich bin keine Kopie
Aus dem Textnachlass von Sebastian Bosse
167
S. A. A. R. T 174


WINNENDEN, 11. MÄRZ 2009 Kaba und Rührkuchen
Auszüge aus den Zeugenvernehmungen zum Amoklauf in Winnenden/Wendlingen vom 11.3.2009
223
Spur Nr. 244 236


EPILOG


INSEL UTØYA, 22. 7. 2011Auf Autopilot 299

Quellenhinweise 335
Danksagung 337
Literaturauswahl 339

VORWORT

Nach dem Todeslauf von Robert Steinhäuser am 26. 4. 2002 am Erfurter Gutenberg-Gymnasium hieß es von seiten der Politik, die Tat sei »ein Unheil, das vom Himmel gefallen ist«. Die Schockstarre schien so groß, dass es unmöglich war, den Fall umfassend aufzuklären. Nach Erfurt aber kamen Coburg, Emsdetten, Winnenden, Ludwigshafen, Lörrach. Mehr als 100 Menschen wurden in Deutschland allein im vergangenen Jahrzehnt durch hochkalibrige Schusswaffen getötet. Wie viel sind zehn Jahre im Lebenstakt einer Gesellschaft?

Die Welt ist grenzenloser, schneller, atemloser geworden. Dem Amoklauf von Port Arthur folgten Columbine, Minnesota, Pennsylvania, Cleveland, Jokela, Utøya, Lüttich. Amok ist zum globalen Handlungsmodell geworden, die Schule des modernen Tötens zu einem Topsystem der Destruktion. Es giert nach maximaler Resonanz, bei der die dramatische Szene je nach medialem Referenzsystem umgebaut wird. Nach wie vor gehören Schulen als Tatorte dazu, aber mehr und mehr - wie Tucson und Oslo 2011 belegen - auch Senatorenbüros und Regierungsgebäude. Was sind zehn Jahre? Im Epizentrum der Tat ereignet sich unverändert das Absolutum, der Schrecken, nur Sekunden später unendliches Leid bei den Opfern und Angehörigen. Außerhalb des Epizentrums zeigt sich mehr und mehr Achselzucken. Ein Amoklauf? Schon wieder? Bloß gut, dass ich weit weg gewesen bin. Die gesellschaftliche Halbwertszeit der Trauer sinkt mit jedem Fall. Ist das die Lösung?

Das Buch nähert sich dem Amok-Komplex über fünf Fälle. Fünf biographische Vignetten, in denen jeweils ein anderer Fokus gewählt wird: In Port Arthur 1996 rückt das Transgenerationelle in den Blick, in Erfurt 2002 die Politik, in Emsdetten 2006 das Täterprofil, in Winnenden 2009 die Angehörigen und das deutsche Waffenprinzip, in Utøya 2011 die versuchte Virtualisierung und Ideologisierung von seiten des Täters. Parallelen und Muster sind das eine, Konkretes und Überkomplexes dieser menschlichen Katastrophen das andere. Es geht ums Beschreibbare, um Selbst- und Fremdbilder, um seelische Verkrümmungen, Indifferentes, Entglittenes, Psychotisches, Verstörtes. Wo sonst kreuzen sich Wirkliches und Unmögliches so dicht wie im Töten?

Dieser Zugang legitimiert weder Gewalttätigkeit noch Brutalität. Er sagt nur, dass es nichts bringt, Amokläufe zu anonymisierten Menetekeln zu machen. Die Täter sind keine Monster, Dämonen oder Teufels-Killer. Sie haben mit 17 ein Auto, eine Doppeletage im Haus der Eltern oder ein dickes Konto. Amokläufer töten aus unserer Mitte heraus. Sie zu psychiatrisieren hieße, sie aus der Gesellschaft zu exkulpieren. Hilft das weiter? Der kategorische Nichtumgang der Politik mit dem offenkundigen Grauen hat die Ohnmacht nur potenziert. Was sind zehn Jahre? Das Einrichten in Politfloskeln, einer Angstkultur und gesellschaftlicher Abwehr, aber auch jede Menge Mordswut.

Verleugnete Instanzen arbeiten effizient. Seit Columbine beziehen sich die Täter auf ihre dunklen Väter aus dem Internet. Das Gefangensein in der virtuellen Welt ist eine Parallelerfahrung zur Demütigung im Realen geworden. Dabei liegt der Unterschied auf der Hand: Amokschützen lernen schnell, und sie lernen voneinander. Sich im Virtuellen aufzuladen und der problemlose Zugang zu Waffen ermöglichen das Systemische, aber auch Systematische ihrer Inszenierungen: Anders Breivik und sein Kompendium »2083« oder der parzellierte Amok der Jenaer Todes-Troika, die im November 2011 ganz Deutschland in Bann hielt, sind ein Beleg dafür, dass sich die Täter in ihrem VerwüstungsAkt nicht mehr entladen. Sie sind in der Lage, ihr NegationsProgramm im Inneren zu halten und über den Anschlag hinaus zu verlängern. Wenn alles zum schrankenlosen Spiel erklärt ist, warum nicht auch das Töten? Auf diese Weise sind Amokläufe zu kaltblütigen Entrees für den vermeintlichen Missions-Akt nach der Tat geworden. Ein herberParadigmenwechsel.

Erscheint lt. Verlag 19.3.2012
Sprache deutsch
Maße 138 x 210 mm
Gewicht 550 g
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Soziologie
Schlagworte Amok • Amoklauf • Emsdetten • Erfurt • Gesellschaft • Gesellschaftskritik • Gewalt • Mord • Norwegen • Politik • Psychologie • Schule • Töten • Utoya • Waffen • Winnenden • Zeitgeschichte
ISBN-10 3-608-94627-6 / 3608946276
ISBN-13 978-3-608-94627-7 / 9783608946277
Zustand Neuware
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