Einführung in die Internationale Politik (eBook)
584 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-072259-8 (ISBN)
Dr. Michael Staack ist Professor für Politikwissenschaft (Theorie und Empirie der Internationalen Beziehungen) und Co-Direktor des Instituts für Internationale Politik an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg.
Teil A Internationale Beziehungen in einer Zeit der Umbrüche
Welche Zeitenwende? Globale Risiken, Herausforderungen und Megatrends
1 Ende oder Wende der Geschichte?
Ende 1989 löste sich in wenigen Wochen der Ost-West-Konflikt mit einem Dominoeffekt auf. Überrascht war nicht nur die sozialistische Staatenwelt, die in kurzer Zeit zerfiel, sondern auch der Westen. Der durch den sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow angestoßene Ruf nach Veränderung und „neuem Denken“ öffnete das Tor zum Westen. Nachdem die USA als Ordnungsmacht im „unipolaren Moment“ der Geschichte (Krauthammer 1990/91) übrigblieben, entstand die Vorstellung, die liberale und demokratische Weltordnung habe sich durchgesetzt, gar das „Ende der Geschichte“ erreicht (Fukuyama 1989: 1): „The triumph of the West, of the Western idea, is evident first of all in the total exhaustion of viable systematic alternatives to Western liberalism.“
Die Vorstellung eines „Sieges“ der liberalen Demokratien im Kalten Krieg hat Denken und Handeln in Teilen des Westens nach 1990 geprägt. Dies entsprach der Annahme, westliche Werte, Modelle und Machtansprüche könnten weltweit zum Durchbruch gebracht werden, bei Bedarf auch mit Gewalt. So setzte der Westen seine jahrhundertelange Geschichte der Expansion fort, getrieben von einer Verbindung aus wirtschaftlichem Wachstum, politischer Macht und Gewaltmitteln (Scheffran 1996) und verstärkt durch wissenschaftlich-technologische Innovation, Wohlstand und westliche Werte.
Dies wurde genährt durch die Erwartung, der Westen könne mit seinen Instrumenten die Weltprobleme in seinem Sinne lösen: Durchsetzung von Menschenrechten, Sturz von Diktaturen, Regimewechsel zur Demokratie und Nationenbildung, Bewältigung von Klimawandel und anderen globalen Problemen. Es wurden verschiedene Prozesse angestoßen, so der Gipfel für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro, mit den Abkommen gegen Klimawandel, Artensterben und Wüstenbildung sowie für nachhaltige Entwicklung. Dabei wurde die Frage von Krieg und Frieden ausgeblendet und vernachlässigt, dass in einer überfüllten, vernetzten und multipolaren Welt Rüstung und Krieg sich mit anderen Krisentreibern wie Globalisierung und Klimawandel verbinden können, die Unsicherheit und Destabilisierung multiplizieren.
Statt 1990 eine friedliche Weltordnung einzuleiten und die Friedensdividende zur Bewältigung globaler Probleme zu nutzen, versuchten die USA und ihre Verbündeten mit Geld und Diplomatie sowie mit Rüstung und Militärinterventionen die liberale Weltordnung abzusichern und ihren Vorsprung weiter auszubauen. Dabei wurde die Rechtfertigung durch universelle Werte vermischt mit der Durchsetzung eigener Interessen, die in der Regel Vorrang hatten. Seit den Terroranschlägen des 11. September 2001 und der Wirtschaftskrise 2008 kam eine Kette von Krisen in Gang, die auch den Westen erfassten. So ist die Welt gegenwärtig mehr mit Krisenbewältigung beschäftigt als mit Zukunftsgestaltung, die angesichts vernetzter Problemkomplexe dringlicher wäre denn je.
Wie es nach den epochalen Umwälzungen vor drei Jahrzehnten zur Krise der liberalen Weltordnung (Rupnik 2015) kommen konnte, hat viele Gründe. Hierzu gehören Widersprüche der Ausdehnung des westlichen Einflussbereichs: der globalisierte Kapitalismus produziere nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer, schaffe Leid und Ungleichheit, Bruchstellen und Turbulenzen, die einer stabilen Ordnung entgegenwirken (Klein 2007). Die Vernachlässigung von sozialen Bedürfnissen, Identitäten und Gemeinschaften öffnet den Raum für Konkurrenten: Nationalismus, religiösen Fundamentalismus, Rassen- und Ethnobewusstsein (Fukuyama 1989). Entsprechend setzte Huntington (1996) der demokratisch-kapitalistischen Angleichung den „Kampf der Kulturen“ entgegen, mit asymmetrischen Konflikten und dem Erstarken autoritärer politischer Strömungen.
In diesem Beitrag werden Triebkräfte aktueller Krisenlandschaften kritisch beleuchtet und zukünftige Entwicklungslinien aufgezeigt, die schon vor dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 mit einer Zeitenwende in Verbindung gebracht wurden (Scheffran 2020a; Gabriel 2018; Friedmann/Welzer 2020). Vordergründig geht es dabei um die Ersetzung einer Hegemonialmacht durch eine andere, bedingt durch die Grenzen und Spannungen des westlichen Expansionismus, damit verbundene Reaktionen und geopolitische Kämpfe zwischen Demokratien und Autokratien und das Verhältnis zwischen Koexistenz und Kooperation in einer multipolaren Welt. Eine echte Zeitenwende, die nicht nur den Teufelskreis aus Wachstum, Macht und Gewalt perpetuiert, würde drei Megatrends zukünftiger Entwicklung konstruktiv nutzen: die nachhaltige Transformation des fossilen Kapitalismus, Machtverschiebungen im Nord-Süd-Verhältnis und den Einfluss von Zivilgesellschaft und sozialen Netzwerken zwischen Demokratie und Autokratie. In allen drei Prozessen geht es um die Wechselwirkung zwischen der gesellschaftlichen und der wissenschaftlich-technischen Entwicklung, etwa in den Bereichen Energiewende, Digitalisierung und Biotechnologie.001
2 Wie weit reicht die Expansion?
Die Ausbreitung des westlichen Modells wird meist als Erfolgsgeschichte dargestellt, vernachlässigt aber oft damit verbundene Probleme, Widersprüche und Konflikte.
2.1 Koloniales Erbe, Expansion und die Spaltung der Welt
Die vergangenen Jahrhunderte wurden maßgeblich durch die von Europa ausgehende kolonialistische Expansion geprägt, die weltweit natürliche Ressourcen und menschliche Arbeitskraft ausbeutete (Reinhard 2016). Millionen Sklaven wurden aus Afrika verschleppt, Genozide überzogen nicht nur den amerikanischen Kontinent und führten zur Vernichtung indigener Völker, wenn nicht durch Gewalt, dann durch eingeschleppte Krankheiten, durch invasive Tiere und Pflanzen und die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen. Die Kolonisierung und Aneignung fremder Reichtümer trugen bis heute maßgeblich zur Entwicklung Europas bei und brachten komparative Vorteile, die für die wirtschaftliche Entwicklung und Finanzierung von Kriegen genutzt wurden. Zugleich veranlassten Armut, Hunger, Verfolgung und Krieg in Europa Millionen von Menschen in mehreren Auswanderungswellen, den überfüllten alten Kontinent zu verlassen und sich in der „Neuen Welt“ oder anderen Siedlungskolonien niederzulassen.
Mit der Industriellen Revolution und der Nutzung heimischer Kohle konnte Großbritannien seinen Vorsprung ausbauen und ein Weltreich errichten. Das Deutsche Reich sah sich beim Erwerb von Kolonien zu kurz gekommen und versuchte in beiden Weltkriegen vergeblich, das Mächtespiel militärisch zu seinen Gunsten zu verschieben. Die Russische Revolution (1917) begründete die Sowjetunion, die große Teile des eurasischen Kontinents vereinte und so ein mächtiges Gegengewicht gegenüber dem Westen bildete. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten die USA ihre hegemoniale Machtbasis ausbauen (durch Atlantik-Charta, Bretton-Woods-System und NATO). Im Ost-West-Konflikt führte die ideologische Konkurrenz zweier Systeme zum nuklearen Wettrüsten und fast zur Auslöschung der Menschheit durch einen Atomkrieg.
Auch wenn die koloniale Vergangenheit immer noch überwiegend verdrängt wird, wirkt sie weiter fort. Der Wohlstand der Industrieländer geht auf Kosten ärmerer Regionen, die genötigt werden, sich zu verschulden, ihre Ressourcen billig abzugeben, zu niedrigen Löhnen, schlechten und gefährlichen Bedingungen zu arbeiten, Umweltzerstörung und Klimawandel hinzunehmen. Obwohl die Staaten des Globalen Südens nie die Entwicklungsmöglichkeiten der westlichen Welt hatten und Opfer auswärtiger Invasionen waren, wird Ihnen vorgeworfen, sie seien an ihren Schwächen (Hunger, Armut, Konflikte, fehlende Demokratie, korrupte Eliten, geringe Effizienz, usw.) selbst schuld. Dies prägt gegenseitige Wahrnehmungen bis heute.
2.2 Widersprüche zwischen westlichen Werten und Interessen
Die Hegemonie des Westens gründete nicht nur auf harter Macht, sondern auch auf Werten, Normen und Institutionen, die sich seit der Aufklärung herausbildeten. Was den Westen für viele attraktiv macht, sind neben Wohlstand und Konsum Werte wie Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz, Bürger- und Menschenrechte. Die normativen Maßstäbe mussten gegen Widerstände der Privilegierten erkämpft werden; bei der Abschaffung der Sklaverei, der Durchsetzung der Demokratie oder der Rechte von Frauen und Arbeiterklasse. Zu den zivilisatorischen Fortschritten und Werten der Menschheit haben auch andere Kulturkreise beigetragen, etwa der chinesische, indische und arabische, aber auch die indigenen Völker Afrikas, des Indo-Pazifiks sowie Süd- und Mittelamerikas.
Nach 1990 schien es manchen nur noch eine Frage der Zeit, bis sich westliche Ideen und Werte durchsetzen, doch sind sie bislang nur unzureichend umgesetzt oder geraten mit...
Erscheint lt. Verlag | 20.3.2023 |
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Zusatzinfo | 6 b/w ill., 10 b/w tbl. |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung ► Vergleichende Politikwissenschaften |
Schlagworte | Außenpolitik • globale Ordnungsprobleme • Internationale Beziehungen • Konfliktforschung |
ISBN-10 | 3-11-072259-3 / 3110722593 |
ISBN-13 | 978-3-11-072259-8 / 9783110722598 |
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