Sozialwissenschaftliches Erklären - Renate Mayntz

Sozialwissenschaftliches Erklären

Probleme der Theoriebildung und Methodologie

(Autor)

Buch | Softcover
182 Seiten
2009
Campus (Verlag)
978-3-593-38891-5 (ISBN)
24,90 inkl. MwSt
Der Band versammelt zentrale, teilweise unveröffentlichte Aufsätze von Renate Mayntz zu den relevanten Fragen sozialwissenschaftlicher Methodologie und Theoriebildung. Die Themen reichen von Problemen der Kontextabhängigkeit über die Herausforderungen der Soziologie durch die moderne Biologie bis hin zu den Mikro-Makro-Beziehungen. Dabei werden auch die Konzepte Rationalität, Mechanismus und Emergenz beleuchtet.

Renate Mayntz war Gründungsdirektorin des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln, das sie bis zu ihrer Emeritierung 1997 gemeinsam mit Fritz W. Scharpf leitete. Renate Mayntz lehrte an der Freien Universität Berlin und der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, der Universität zu Köln sowie in New York, Edinburgh, Santiago de Chile und an der Stanford University. Sie erhielt Doktorgrade honoris causa von den Universitäten Uppsala und Paris und vom Europäischen Hochschulinstitut und wurde unter anderem mit dem Schader-Preis, dem Bielefelder Wissenschaftspreis und dem Ernst- Hellmut-Vits-Preis der Universität Münster ausgezeichnet.

Inhalt

1 Sozialwissenschaftliche Erkenntnisinteressen und
Erkenntnismöglichkeiten: Eine Einführung (2009) ................................ 7

2 Forschungsmethoden und Erkenntnispotenzial:
Natur- und Sozialwissenschaften im Vergleich (2005) ............................. 37

3 Einladung zum Schattenboxen: Die Soziologie und die
moderne Biologie (2008) .............................................................................. 51

4 Rationalität in sozialwissenschaftlicher Perspektive (1999) ..................... 67

5 Kausale Rekonstruktion: Theoretische Aussagen im
akteurzentrierten Institutionalismus (2002) ............................................... 83

6 Soziale Mechanismen in der Analyse gesellschaftlicher
Makrophänomene (2005) ............................................................................... 97

7 Individuelles Handeln und gesellschaftliche Ereignisse: Zur
Mikro-Makro-Problematik in den Sozialwissenschaften (2000) .......... 123

8 Emergence in Philosophy and Social Theory (2008) ............................... 133

9 Embedded Theorizing: Perspectives on Globalization
and Global Governance (2008) .................................................................. 157

Quellennachweise ................................................................................................ 181

Wenn man als Sozialwissenschaftler, etwa durch die regelmäßige Lektüre von Zeitschriften wie Nature, die jeweils neuesten Entwicklungen in den verschiedenen Naturwissenschaften verfolgt, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es in Wissenschaften wie Genetik, Festkörperphysik, Astronomie und Molekularbiologie alle paar Jahre einen deutlich erkennbaren Wissensfortschritt gibt, während in den Sozialwissenschaften alle paar Jahre die Themen und die Interpretationen wechseln. Natürlich gibt es auch in der Soziologie, der Politikwissenschaft und der Wirtschaftswissenschaft Wissensfortschritte, aber im Großen und Ganzen scheint es, dass die wissenschaftliche Entwicklung in den Naturwissenschaften kumulativ, in den Sozialwissenschaften dagegen eher additiv ist. Zugleich kann man feststellen, dass der Wissensfortschritt in Naturwissenschaften wie den eben genannten eng mit der Entwicklung neuer Forschungstechnik - von Instrumenten, Apparaten und Verfahren - zusammenhängt, während forschungstechnische Innovationen in den Sozialwissenschaften keine nennenswerte Rolle zu spielen scheinen. Diesen Eindruck vermittelt unter anderem das Heft Forschungsperspektiven der Max-Planck-Gesellschaft 2005 (Max- Planck-Gesellschaft 2005). In den Abschnitten, in denen naturwissenschaftliche Forschungslinien dargestellt werden, wird ständig ganz ausdrücklich vom Erkenntnisgewinn durch neue Forschungstechnik gesprochen - durch noch aufl ösungsstärkere Elektronenmikroskope, neue Detektoren, neue katalytische Verfahren oder den Forschungsreaktor ITER. Dagegen werden forschungstechnische Innovationen bei der Darstellung von Forschungsperspektiven, an denen vor allem sozialwissenschaftliche Institute beteiligt sind, kein einziges Mal erwähnt. Gibt es zwischen diesen beiden Beobachtungen einen Zusammenhang? Oder anders gefragt: Wie ist der Zusammenhang zwischen Wissensfortschritt und forschungstechnischer Entwicklung? Kann es sein, dass Technik in den Naturwissenschaften, aber nur in den Naturwissenschaften eine zentrale Rolle bei der kognitiven Innovation spielt? Um dieser Frage nachzugehen, muss man zunächst zwischen Forschungstechnik und Forschungslogik unterscheiden. Unter Forschungstechnik verstehe ich materielle Artefakte, mit deren Hilfe wir Gegenstände unserer wissenschaftlichen Neugier erfassen, das heißt, direkt oder indirekt beobachten und messen, und gegebenenfalls experimentell manipulieren. Forschungslogik bezeichnet dagegen den bei der Ermittlung wissenschaftlichen Wissens benutzten methodischen Ansatz, der es erlauben soll, gültige ("wahre") - und nachprüfbare - Aussagen über Wirklichkeit zu machen. Die empirischen Sozialwissenschaften haben sich am Modell der Naturwissenschaften orientiert und damit auch die Forschungslogik der Naturwissenschaften übernommen. Sie suchten damit in einer Zeit, in der Physik mehr galt als Metaphysik, den Status von Wissenschaften zu reklamieren - was ihnen im englischen Sprachbereich, wo the sciences die Naturwissenschaften meint, semantisch bis heute nicht ganz geglückt ist. Gewiss ist der Königsweg der wissenschaftlichen Methode, das Experiment, für die Sozialwissenschaften nur in engen Grenzen begehbar. Sozialwissenschaftliche Laborstudien, wie sie unter anderem im Max-Planck-Institut zur Erforschung von Wirtschaftssystemen durchgeführt werden (Jahresbericht 2004: 4-6), gibt es allenfalls im Bereich individuellen Verhaltens, insbesondere von Entscheidungsverhalten, und der Kleingruppendynamik. Aber auch die Naturwissenschaften sind nicht alle Laborwissenschaften, sondern zum Teil sogenannte "Feld wissenschaften", die ihre Objekte - Eisberge etwa, Ozonlöcher, Neutronensterne oder Vulkanausbrüche - nicht zu Versuchszwecken manipulieren können. Auf jeden Fall wollen die empirischen Sozialwissenschaften ebenso wie die Naturwissenschaften ihre Gegenstände durch direkte Beobachtung oder indirekt über Indikatoren erfassen, und für beide besteht wissenschaftlicher Fortschritt zum einen darin, bislang unbekannte Phänomene zu ent decken beziehungsweise bekannte genauer zu beschreiben, zum anderen aber in der Feststellung bislang nicht bekannter beziehungsweise der Korrektur bislang falsch interpretierter kausaler, genetischer und funktionaler Zusammenhänge. Dabei kann man grob die Phase der Datenerhebung von der Phase der Datenanalyse und Interpretation unterscheiden. Praktisch sind beide Phasen oft eng verbunden, zumal wenn die Datenerhebung bereits von der Suche nach Zusammenhängen gesteuert wird. Wenn sich Natur- und Sozialwissenschaften in ihrer Forschungslogik nicht unterscheiden, wie steht es dann mit dem Gebrauch technischer Hilfsmittel? Forschungstechnik hilft uns zu "sehen", was für uns nicht sichtbar ist, hilft Frequenzen, Strahlen und Partikel zu erfassen, die unsere Sinne nicht registrieren können, und sie hilft zu manipulieren, was für unsere Hände zu klein ist. In den Naturwissenschaften wird Forschungstechnik in Form von Instrumenten, Apparaten und technisch basierten Verfahren dementsprechend beim Erfassen von Gegenständen und bei ihrer experimentellen Manipulation genutzt. Es war die Forschungstechnik, die es uns erlaubt hat, immer tiefer in die direkter menschlicher Wahrnehmung unzugänglichen Bereiche des ganz Kleinen und des ganz Großen einzudringen. Schon am Beginn der kognitiven Neurowissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielte ein Apparat, das zum Präzisionsinstrument zur Zeiterfassung entwickelte Chronoskop eine wichtige Rolle (Rötger 2004). Damit konnte man aber lediglich menschliche Reaktionsgeschwindigkeiten messen. Heute erlauben es Positronenemissionstomografie und Magnetresonanztomografi e, Vorgänge im lebenden Gehirn anhand messbarer Indikatoren (zum Beispiel Stoffwechsel) zu beobachten. In der Astrophysik haben die neuen Teleskope, Raumsonden und Forschungssatelliten die rasante Entwicklung der letzten Jahrzehnte ermöglicht, während die neue Fluoreszenz- Mikroskopie es im Nanobereich erlaubt, durch nichtinvasive Verfahren noch unverstandene Prozesse in der Physiologie der Zelle aufzuklären. In den Laborwissenschaften basieren auch Fortschritte in der experimentellen Manipulation auf moderner Forschungstechnik; die Genforschung ist hierfür ein geläufi ges Beispiel. Selbst bei der Erforschung von Vergangenem, das sich allenfalls aufgrund von Spuren untersuchen lässt, die es hinterlassen hat und die wir erfassen können, spielt moderne Technik eine entscheidende Rolle. Erst Satellitenaufnahmen von einer Raumfähre aus erlaubten es, den Krater zu lokalisieren, der an der Wende zwischen Kreidezeit und Tertiär durch den Einschlag eines circa 10 Kilometer großen Himmelskörpers entstand und unter anderem das lange Zeit rätselhaft gebliebene Aussterben der Dinosaurier verursachte (Lausch 2004). Und es brauchte moderne Bohrtechnik und chemische Analysetechnik, ehe es gelang, durch die Analyse meterlanger Eisbohrkerne längst vergangenes Klima zu rekonstruieren. In allen diesen Fällen sind technische und theoretische Entwicklung in einer Art von Ko-Evolution miteinander verbunden. Zwar scheint sich die Entwicklung von Forschungstechnik, je voraussetzungsvoller sie wird, vom substanziellen Forschungsprozess zu lösen und sich zu verselbstständigen, so bei der Entwicklung von Teilchenbeschleunigern, Detektoren, Tomographen oder hochempfi ndlichen Sensorchips, wie im Münchener Halbleiterlabor der Max-Planck-Gesellschaft (Röhlein 2004). Aber als es zum Beispiel darum ging, die komplexe Struktur von Eiweißmolekülen mit den Methoden der Röntgen- Kristallographie zu bestimmen, wussten die Forscher, was sie sehen und tun können müssten, um ihre Fragen beantworten zu können; dieses Wissen stimulierte dann die Entwicklung spezieller Apparate und Verfahren (Law 1976). Die verfügbare Forschungstechnik bestimmt, was untersucht werden kann, aber es sind die offenen Fragen der Wissenschaftler, die umgekehrt die Entwicklung von Forschungstechnik anregen. Ohne Zweifel wurde also die naturwissenschaftliche Entwicklung der Neuzeit ganz wesentlich von der Verfügung über immer leistungsfähigere Instrumente zur Beobachtung, Messung und experimentellen Manipulation in Bereichen bestimmt, die dem Forscher nicht unmittelbar zugänglich sind. Die empirischen Sozialwissenschaften brauchen dagegen keine technischen Krücken, um sich ihrem Gegenstand zu nähern. Ihre Gegenstände sind menschlicher Erfahrung direkt zugänglich. Menschen erfahren unmittelbar nicht nur das Tun und Lassen anderer Menschen, sondern auch Ereignisse wie die Wiedervereinigung und soziale Gebilde wie das Unternehmen Siemens oder den deutschen Staat. Dennoch haben die Sozialwissenschaften beim Erfassen ihrer Gegenstände, beim Beobachten, Messen und experimentellen Manipulieren Probleme. Die Gründe dafür sind oft erörtert worden. Da ist zum einen die Tatsache der Historizität sozialer Phänomene. Traditionen, Familienformen, Produktionsweisen und Staaten haben sich ständig verändert; sie sind gewissermaßen "moving targets", und die sind notorisch schwer zu erfassen. Aber auch HIV-Viren sind ein "moving target", und auch die Erde und die Gattung Homo sapiens haben Geschichte. Historische Wandelbarkeit ist insofern keine prinzipielle Grenze der Erfassbarkeit. Sie zwingt allerdings dazu, eher nach Wandlungsprozessen und ihren Ursachen als nach zeitlos gültigen Eigenschaften von Phänomenen zu fragen. Dann ist da zweitens die große Rolle schwer erfassbarer immaterieller Faktoren, von Ideen, Glaubensinhalten und Werten für soziales Verhalten und soziales Geschehen. Auch dies ist jedoch keine unüberwindbare Grenze; Ideologien, Werthaltungen oder kulturelle Leitbilder lassen sich empirisch durchaus ermitteln. Wo aber liegt dann das Problem? Das zentrale Problem ist der Konstruktcharakter sozialer Makrophänomene. Das Verhalten von Individuen und die Vorgänge in Kleingruppen wie Schulklassen oder Familien lassen sich grundsätzlich direkt erfassen, auch wenn der Zugang etwa bei kriminellem Verhalten oder zu den Zellen von Al Qaeda praktisch eingeschränkt ist. Die Sozialwissenschaften haben sogar eine Zugangsmöglichkeit, die den Naturwissenschaften fehlt: Sie können mit ihrem Gegenstand, mit Menschen sprechen. Der großen Bedeutung sprachlicher Kommunikation bei der Datenerhebung entsprechend ist vor allem das Befragen in den Sozialwissenschaften zu einer ausgefeilten Methodik entwickelt worden. Technische Artefakte spielen dabei abgesehen von Aufnahmegeräten keine Rolle. Soziale Makrophänomene jedoch, soziale Gebilde wie Märkte oder Parteiensysteme existieren nicht als wahrnehmbare Ganze; sie haben keine physische Realität. Moleküle, Mikroben und ferne Galaxien sind prinzipiell sichtbar, auch wenn wir sie mit unbewaffnetem Auge nicht sehen können. Aber das deutsche Parteiensystem, der Staat oder das Unternehmen Siemens existieren nur als Strom von Aktionen, Interaktionen und Transaktionen; sie sind nur greifbar in ihren Elementen und Produkten. Unternehmen, so Gabel und Bruner (2003, X, 28-33), existieren weniger im geographischen Raum als innerhalb von Märkten; aber auch ein Markt ist nichts weiter als ein Strom von Transaktionen, die zwischen Zulieferern, Herstellern, Verkäufern und Abnehmern stattfinden. Nun hat uns schon Max Weber eingeschärft, dass "Verband" oder "Staat" theoretische Konstrukte sind. Das gilt allerdings auch für manche naturwissenschaftliche Kategorien etwa in der theoretischen Physik: Das "Atom" und der "Urknall" sind ebenfalls theoretische Konstrukte. Phänomene wie Verbände und Staaten (und wohl auch das Atom) sind aber, ontologisch gesprochen, auch reale Konstrukte. Soziale Makrophänomene wie das Internet, die Deutsche Bank oder die SPD jedenfalls sind in einem sehr direkten Sinn tatsächlich konstruiert, das heißt, von realen Menschen handelnd erzeugt. Diese sozialen Konstrukte lassen sich wissenschaftlich erfassen, indem man ihre Elemente, das Handeln von Menschen, und ihre individuellen und kollektiven Hervorbringungen (zum Beispiel Gesetze, Entscheidungen) erfasst. Dabei hilft es, dass Menschen nicht nur über ihr eigenes Tun und Denken, sondern auch über Ereignisse Auskunft geben können, die sie miterlebt haben oder an denen sie aktiv beteiligt waren. Menschliche Tätigkeiten hinterlassen außerdem vielfältige schriftliche Spuren; derartige prozessproduzierte Daten - Akten, Pläne, Berichte - erlauben es uns, viele Arten von Transaktionen zu registrieren und zu zählen; zumal wo Geld involviert ist, hinterlassen Transaktionen messbare Spuren. Gespräche und schriftlich Festgehaltenes sind die wichtigsten sozialwissenschaftlichen Datenquellen, auch für die Untersuchung von Makrophänomenen.

Erscheint lt. Verlag 11.5.2009
Reihe/Serie Schriften des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung Köln ; 63
Zusatzinfo 2 Abbildungen
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 140 x 213 mm
Gewicht 235 g
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Politische Theorie
Schlagworte Emergenz • Hardcover, Softcover / Politikwissenschaft/Politische Theorien, Ideengeschichte • Methode • Soziale Mechanismen • Sozialwissenschaft • Sozialwissenschaften • Sozialwissenschaft/Methode • Sozialwissenschaft/Theoriebildung • Theoriebildung
ISBN-10 3-593-38891-X / 359338891X
ISBN-13 978-3-593-38891-5 / 9783593388915
Zustand Neuware
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