Bannmeilen -  Anne Weber

Bannmeilen (eBook)

Ein Roman in Streifzügen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
301 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-0956-6 (ISBN)
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Wo die Stadt aufhört und die Vorstadt anfängt, ist in Paris klar markiert durch den Périphérique, den zu überschreiten Anne Webers Erzählerin bisher kaum in den Sinn gekommen ist. Denn was gibt es dort, in den verruchten Banlieues, außer einem Geflecht aus Schienen, Schnellstraßen und Autobahnen, zwischen denen Lagerhallen, gewaltige Supermärkte und Baustellen und Millionen von Menschen eingeklemmt sind? Außer der so notorischen Not, Gewalt und Armut? Als ihr alter Freund Thierry ihr jedoch vorschlägt, ihn für einen Film durch die Vorstädte des Départments Seine-Saint-Denis zu begleiten, die vor den Olympischen Spielen 2024 einem tiefgreifenden Wandel unterzogen werden, muss sie sich eingestehen, dass sie für die nächste Nähe jahrzehntelang blind gewesen ist. Da sind zum Beispiel der von Schrotthalden umgebene muslimische Friedhof von Bobigny, auf dem ein algerischer Olympiasieger der 1920er-Jahre begraben liegt; die beiden kreisrunden Sozialwohnungsbauten von Noisy-le-Grand, die einander wie gigantische Camemberts gegenüberstehen; und tausend andere von Kolonialismus und Leid, von Hoffnung und Fortschritt erzählende Orte. Und auch Thierry selbst entpuppt sich mit der Zeit als Teil dieser widersprüchlichen, ihrem Blick bislang verborgenen Welt. Mit leisem Witz und großer Beobachtungsgabe öffnet sich Anne Weber in Bannmeilen dem Unvertrauten und Anderen mitten unter uns und entwirft damit nicht nur das Bild einer komplexen Freundschaft, sondern zugleich die Geschichte einer vielschichtigen Gesellschaft in der so noch nicht gesehenen Vorstadt der Liebenden.

Anne Weber, 1964 in Offenbach geboren, lebt seit 1983 als freie Autorin und Übersetzerin in Paris. Sie hat sowohl aus dem Deutschen ins Französische übersetzt (u. a. Sibylle Lewitscharoff, Wilhelm Genazino) als auch umgekehrt (Pierre Michon, Marguerite Duras). Ihre eigenen Bücher schreibt sie sowohl in deutscher als auch in französischer Sprache. Ihre Werke wurden u. a. mit dem Heimito von Doderer-Literaturpreis, dem 3sat-Preis, dem Kranichsteiner Literaturpreis, dem Johann-Heinrich-Voß-Preis und dem Solothurner Literaturpreis 2024 ausgezeichnet. Für ihr Buch Annette, ein Heldinnenepos wurde Anne Weber mit dem Deutschen Buchpreis 2020 ausgezeichnet.

Rückblickendes Vorspiel


Thierry ist der einzige Franzose, den ich je im sogenannten Passé simple habe sprechen hören, einer Vergangenheitsform, die im Französischen schon lange nur noch in der Schriftsprache überlebt. Im Deutschen gibt es dafür keine Entsprechung, doch die Wirkung ist ungefähr, als würde jemand sagen: In diesem Haus ward meine Mutter geboren. Es war befremdlich, ihn so reden zu hören. Und es war komisch, denn er verwendete diese altertümlichen Verbformen ohne jedes ironische Lächeln, als sei dies die übliche Art, sich auszudrücken.

Nicht, dass er ständig derart gestelzt gesprochen hätte. Es ist eine ferne Erinnerung, die jetzt, da ich über ihn nachdenke und von ihm erzählen will, in mir aufsteigt und eine neue Bedeutung erlangt. Ich habe ihn nur ein paar Wochen und nicht einmal in Frankreich, sondern in Guatemala so sprechen gehört. Thierry träumte damals davon, einen Film über die 1944 bei einer Demonstration erschossene guatemaltekische Lehrerin María Chinchilla zu drehen, und er war zu Recherchezwecken längere Zeit dort unterwegs. Zusammen mit Nadia, einer gemeinsamen Freundin, über die ich ihn kennengelernt hatte, war ich für drei Wochen zu ihm gestoßen und dort, vor den Maya-Tempeln von Calakmul, Nakum, Aguateca, Ixkun und Tikal, deren Geschichte er uns erklärte, hatte er unvermittelt angefangen, im Passé simple zu sprechen. Wie ein Buch. Nicht im Sinne von: am laufenden Band, sondern so korrekt, wie nur Bücher klingen können. Warum fällt mir das heute wieder ein? Vielleicht, weil mir nun erst bewusst wird, was ich zwar damals schon hätte wissen können, worüber ich mir aber nicht viele Gedanken gemacht hatte, nämlich womit dieses Wie-ein-Buch-Reden womöglich zu tun hatte: Thierrys Vater konnte weder lesen noch schreiben. Er war Algerier und 1958, als Siebzehnjähriger, mitten im Unabhängigkeitskrieg von einem Onkel mit nach Frankreich genommen worden, wo er bei Renault arbeiten sollte. Die ersten Jahre wohnte er in den bidonvilles oder Slums der Pariser Vorstadt Nanterre.

Anders als bei Nadia und mir, die wir aus kleinbürgerlichen, aber eben doch aus bürgerlichen Verhältnissen stammen, hatte es bei Thierry zu Hause keine Bücher gegeben, und heute glaube ich, dass das der Grund war, warum er wie ein Buch sprach. Er war sich der Gebildeten- oder auch nur der korrekten Sprache nicht sicher, weshalb er einmal gelesene Erläuterungen – zur Geschichte Guatemalas in diesem Fall – nicht frei nacherzählte, sondern wie auswendig gelernt aufsagte. Nadia und ich amüsierten uns heimlich über seine Sprechweise, ohne uns über ihn lustig machen zu wollen, dafür mochten wir ihn viel zu gern, außerdem spürten wir wohl, woher diese gesprochene Schriftsprache kam. Auf undeutliche Weise hatte sie mit seiner Herkunft zu tun, mit seinem algerischen Vater und mit seinem damaligen Wohnort – Drancy, eine der vierzig nordöstlichen Vorstädte von Paris, die das Département Seine-Saint-Denis, wegen seiner mit 93 beginnenden Postleitzahl auch le neuftrois, »das Neun-Drei«, genannt, bilden. Er lebte »im Neun-Drei«, war in einer der Gemeinden des Neun-Drei, in Le Bourget, zur Schule gegangen und in einer anderen, in La Courneuve, geboren. Und heute lebt er immer noch im Neun-Drei, und zwar in Pantin. Er ist viel gereist und zugleich aus dem Neun-Drei nie herausgekommen.

So wenig wie wir uns Gedanken darüber machten, woher diese gesprochene Schriftsprache kam, so wenig fragten wir uns, ob es mit unserer Herkunft zu tun hatte, dass wir, Nadia und ich und auch fast all unsere Freunde, innerhalb von Paris wohnten. Nicht im Zentrum, aber doch in der Stadt. In winzigen Wohnungen oder Zimmern zwar, aber eben in der Stadt. Thierry hingegen wohnte mit seiner damaligen Freundin in der Banlieue, und zwar in einem Häuschen mit kleinem Garten. Wir besuchten einander, luden uns gegenseitig zum Essen ein; Nadia und mir schien es jedes Mal eine Expedition, bis zu ihm nach Drancy zu gelangen, denn das hieß, erst einmal mit mindestens einer Metrolinie, dann mit der Vorstadtbahn, dann mit dem Bus zu fahren. Thierry war diese langen Fahrten gewohnt, zudem besaß er, wie viele Banlieue-Bewohner, ein Auto. Auch das war für uns etwas Erstaunliches, wir hätten uns kein Auto leisten können und brauchten auch keines, mit der Metro war man schnell überall – überall jedenfalls, wo es uns hinzog. Fast wären wir bereit gewesen, die Vorstadtbewohner für privilegiert zu halten: Na, wenn sie ein Auto haben …

Nadias Eltern kamen beide aus der Provinz, wie die Franzosen alles nennen, was weder Paris noch Banlieue ist. Sie ist in Poitiers geboren und früh, zum Studium, nach Paris gegangen. Nie hätte es sie in die Vorstädte verschlagen, lieber hätte sie in zehn Quadratmetern mit Blick auf einen düsteren Pariser Hinterhof gewohnt als in einer Vorstadt so weit »ab vom Schuss«. Mir ging es ähnlich. Für Thierry aber stellte sich die Frage offenbar nicht. Er war dort geboren und geblieben.

Wo die Stadt aufhört und die Vorstadt anfängt, ist in Paris klar definiert, da gibt es keine fließenden Übergänge. Die Stadt ist recht klein für eine europäische Hauptstadt: Nur was innerhalb des Périphérique, des Autobahnrings, liegt, gehört dazu, jenseits davon beginnt die Banlieue. Wer die Stadt meint, spricht daher auch gerne von Paris intra muros, von dem Paris innerhalb der Stadtmauern. Von ihnen ist zwar nicht mehr viel übrig, doch gibt es weiterhin andere, unsichtbare Mauern, die den städtischen Raum in »drinnen« und »draußen«, in Die-drinnen und Die-draußen einteilen – und vor allem gibt es eben den Périphérique.

Der Film über die guatemaltekische Lehrerin ist nie zustande gekommen, doch Thierry ist tatsächlich Filmemacher geworden. Im Moment bereitet er einen Film über die Olympischen Spiele vor, nicht über die Wettbewerbe selbst, sondern über die Veränderungen, die sich dadurch in den Vorstädten, seinen Vorstädten, anbahnen, und das nicht bloß in unmittelbarer Umgebung der Wettbewerbsorte. Es ist eine Auftragsarbeit, die ihm nur halb zuzusagen scheint. Vor einiger Zeit hat er angefangen, zu recherchieren und sich auf die Suche nach möglichen Drehorten zu machen. Als er mir vorschlug, ihn doch einmal auf einen dieser Streifzüge zu begleiten, war ich sofort dabei; gleichzeitig begann ich mir ein paar Fragen zu stellen, die mir durchaus schon früher durch den Kopf gegangen, aber nie Anlass für eine Verunsicherung oder wenigstens zu eingehenderem Nachdenken gewesen waren: Wie war es eigentlich dazu gekommen, dass ich mich, wenn ich vor die Tür ging, so gut wie immer in Richtung Stadtmitte oder von einem Stadtviertel zum anderen und so gut wie nie über die unsichtbaren Stadtmauern hinaus bewegte? Wie kam es, dass ich, die ich früher eine Zeit lang in der Nähe des südlichen Périphérique gelebt hatte und nun schon seit zwölf Jahren bloß eine Viertelstunde Fußweg von der Porte de Pantin, also des nördlichen Périphérique, und damit nah an der Vorstadt Pantin, also in nächster Nähe des Neun-Drei-Départements, lebte, nur ausnahmsweise diese Richtung einschlug und mich vorzugsweise in die entgegengesetzte Richtung aufmachte? Wie kam es, dass diese nahen und doch fremden Gegenden offenbar gar keine Anziehungskraft auf mich ausübten?

Natürlich gibt es einfache Antworten: Hier, im Zentrum, sind die Kinos, Läden, Museen, zu denen es mich wie viele andere zieht, hier sind die schönen alten Häuser und die Ufer der Seine, hier sind die meisten Freunde, hier ist das Zu-Fuß-unterwegs-Sein angenehm. Und natürlich gibt es einfache Gegenfragen: Was soll ich denn da draußen? Weiß ich nicht von meinen seltenen Besuchen oder vom Durchqueren des Gebiets mit der RER B, die zum Flughafen fährt, wie es aussieht in diesen Banlieues? Ist vielleicht irgendetwas Anziehendes an diesem Geflecht aus Schienen, Schnellstraßen und Autobahnen, zwischen denen Lagerhallen, gewaltige Supermärkte (sogenannte »Hypermärkte«), Wohnblöcke und eine Vielzahl pavillons de banlieue, also Vorstadthäuschen, klemmen? Die nordöstlichen Vorstädte des Départements Seine-Saint-Denis gehören zu den ärmsten Gegenden des Landes, dort kommt man nicht zum Flanieren oder Besichtigen hin. Und falls es mich doch dorthin gezogen hätte, hätte ich mich fehl am Platz und als Eindringling, wenn nicht gar als Voyeurin gefühlt: Wollen wir doch mal schauen, wie die Leute in diesen berüchtigten Gegenden leben, von denen im Jahr 2005 die Aufstände, die dann auf Vorstädte in ganz Frankreich übergriffen, ausgegangen sind. So etwa? Nein, nein, eine solche Neugier hätte ich abstoßend gefunden. Doch wahrscheinlicher, ja schlimmer noch scheint mir heute, dass ich gar keine Neugier empfand. Jeder lebte für sich, die einen drinnen und die anderen...

Erscheint lt. Verlag 7.3.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-7518-0956-2 / 3751809562
ISBN-13 978-3-7518-0956-6 / 9783751809566
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