Der Wind kennt meinen Namen -  Isabel Allende

Der Wind kennt meinen Namen (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman
eBook Download: EPUB
2024
335 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77999-6 (ISBN)
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Wien, 1938. Samuel Adler ist sechs Jahre alt, als sein Vater und die Familie alles verlieren. In ihrer Verzweiflung verschafft Samuels Mutter ihrem Sohn einen Platz in einem Kindertransport, aus dem von den Nazis besetzten Österreich nach England. Samuel macht sich allein auf die Reise, außer einer Garnitur Wechselkleidung und seiner Geige hat er nichts bei sich - die Last der Einsamkeit und Ungewissheit wird ihn ein Leben lang begleiten.

Arizona, 2019. Acht Jahrzehnte später steigen Anita Díaz und ihre Mutter in den Zug, um der Gewalt in El Salvador zu entkommen und in den Vereinigten Staaten Zuflucht zu finden. Doch ihre Ankunft fällt mit der neuen brutalen Einwanderungspolitik zusammen: Die siebenjährige Anita wird an der Grenze von ihrer Mutter getrennt und landet in einem Lager. Allein und verängstigt, weit weg von allem, was ihr vertraut ist, sucht sie Zuflucht in Azabahar, einer magischen Welt, die nur in ihrer Fantasie existiert. Wie aber soll sie zurückfinden zur Mutter?
Isabel Allende hat eine fulminante historische Saga geschrieben, die miteinander verwobenen Geschichten zweier junger Menschen, die auf der Suche nach Familie und Heimat sind. Sie erzählt von den Opfern, die Eltern bringen, und es ist ein Liebesbrief an die Kinder, die unvorstellbare Widrigkeiten überleben - und die niemals aufhören zu träumen und zu hoffen.

Isabel Allende, geboren 1942 in Lima, ist eine der weltweit beliebtesten Autorinnen. Ihre Bücher haben sich millionenfach verkauft und sind in mehr als 40 Sprachen übersetzt worden. 2018 wurde sie - und damit erstmals jemand aus der spanischsprachigen Welt - für ihr Lebenswerk mit der National Book Award Medal for Distinguished Contribution to American Letters ausgezeichnet. Isabel Allendes gesamtes Werk ist im Suhrkamp Verlag erschienen.

 Die Adlers 


Wien, November 1938

Ein Unglück lag in der Luft. Seit dem frühen Morgen fegte der Wind unstet durch die Straßen, pfiff um die Häuser und drang durch die Ritzen von Türen und Fenstern. »Es wird eben Winter«, redete Rudolf Adler sich gut zu, doch die Beklemmung, die ihm seit Monaten die Brust eng machte, konnte er schwerlich dem Wetter oder der Jahreszeit anlasten.

Die Angst war ein Gestank von Rost und Unrat, der ihm beständig in der Nase hing. Weder sein Pfeifentabak noch der Zitrusduft seines Rasierwassers vermochte ihn zu überdecken. Von den Böen aufgewirbelt, nahm ihm dieser Angstgestank jetzt am Nachmittag den Atem, ihm war schwindelig und übel. Deshalb beschloss er, die letzten Patienten im Wartezimmer fortzuschicken und die Praxis vorzeitig zu schließen. Seine Sprechstundenhilfe fragte besorgt, ob er krank sei. Sie arbeitete seit elf Jahren bei ihm, und in all der Zeit hatte er seine Pflichten niemals vernachlässigt. Dr. Adler war ein gewissenhafter und pünktlicher Mensch. »Nichts Ernstes, nur eine Verkühlung, Frau Goldberg«, sagte er. »Ich gehe nach Hause.« Sie brachten noch gemeinsam das Sprechzimmer in Ordnung, desinfizierten die Instrumente und verabschiedeten sich wie jeden Tag an der Tür, ohne zu ahnen, dass sie einander nie wiedersehen würden. Frau Goldberg bog ab zur Tramhaltestelle, und Rudolf Adler zog den Kopf zwischen die Schultern, hielt mit der einen Hand seinen Hut, mit der anderen die Arzttasche fest und ging schnellen Schrittes zur nahe gelegenen Apotheke. Das Pflaster war feucht, und der Himmel hing tief. Es musste genieselt haben, dachte er, und sicher würde später einer dieser Herbstschauer niedergehen, die ihn immer ohne Schirm antrafen. Tausende Male war er durch diese Straßen gegangen, er hätte den Weg mit geschlossenen Augen gefunden und staunte doch stets aufs Neue über seine Stadt, die eine der schönsten der Welt war, bewunderte ihre barocken Häuserzeilen und Jugendstilfassaden, ihre majestätischen Bäume, die langsam die Blätter verloren, den Platz in seinem Viertel mit dem Reiterstandbild, das Schaufenster der Konditorei mit den süßen Verlockungen und den Antiquitätenladen voller rarer Fundstücke. Doch heute hob er den Blick nicht vom Boden. Er trug das Gewicht der Welt auf seinen Schultern.

Die bedrohlichen Gerüchte hatten am Morgen mit der Nachricht von einem Attentat in Paris begonnen: Ein deutscher Diplomat war von einem jüdischen Jungen aus Polen mit fünf Schüssen getötet worden. Die Lautsprecher des Dritten Reichs plärrten nach Rache.

Seit sich Deutschland im März Österreich einverleibt hatte und die Wehrmacht, unter dem Jubel der Massen, mit militärischem Pomp in Wien aufmarschiert war, lebte Rudolf Adler in Angst. Seine Unruhe reichte Jahre zurück und war in dem Maß gewachsen, in dem die Nazis im Land, von Hitler mit Geld und Waffen versorgt, stärker wurden. Sie benutzten den Terror als politische Waffe, schürten den Unmut, vor allem der Jugend, über die wirtschaftliche Misere, die sich seit der Weltwirtschaftskrise von 1929 hinzog, und das Gefühl der Demütigung nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg. 1934 hatten sie Bundeskanzler Dollfuss bei einem gescheiterten Putschversuch getötet und seitdem weitere achthundert Menschen durch Attentate ermordet. Sie schüchterten ihre politischen Gegner ein, zettelten Straßenunruhen an und drohten mit Bürgerkrieg. Zu Beginn des Jahres 1938 geriet die Gewalt im Land außer Kontrolle, und zugleich drängte Deutschland von jenseits der Grenze auf den Anschluss Österreichs. Obwohl die Regierung den Deutschen Zugeständnisse machte, befahl Hitler schließlich den Einmarsch. Die österreichischen Nationalsozialisten hatten den Boden bereitet, und die Wehrmachtsverbände trafen nicht auf Widerstand, ja, wurden von einer Mehrheit der Bevölkerung sogar mit Applaus empfangen. Die Regierung dankte ab, und zwei Tage später zog Hitler selbst triumphal in Wien ein. Die Nazis brachten das Land umfassend unter ihre Kontrolle. Jede Opposition wurde verboten. Unverzüglich traten die deutschen Gesetze in Kraft, wurde der Unterdrückungsapparat aus Gestapo und SS mit seinem fanatischen Judenhass auf Österreich ausgeweitet.

Rudolf war klar, dass auch seine Frau Rachel, die früher so überlegt und tüchtig gewesen war und nie zu Schwarzseherei geneigt hatte, inzwischen wie gelähmt war vor Angst und ihren Alltag nur noch mit Hilfe von Medikamenten bewältigen konnte. Beide bemühten sich, ihren Sohn Samuel von allem abzuschirmen, aber mit seinen bald sechs Jahren war der Junge fast schon reif wie ein Erwachsener: Er beobachtete, hörte zu und verstand, ohne Fragen zu stellen. Am Anfang hatte Rudolf seiner Frau dieselben Beruhigungsmittel gegeben, die er auch einigen seiner Patienten verschrieb, doch als sie zusehends ohne Wirkung blieben, stellte er die Behandlung auf starke Tropfen um, die er in dunklen Flakons ohne Etikett bekam. Er selbst hätte sie genauso nötig gehabt wie seine Frau, durfte sie aber nicht nehmen, weil sie seine Berufsausübung beeinträchtigt hätten.

Die Tropfen bekam er unter der Hand von Peter Steiner, dem Apotheker, mit dem er seit vielen Jahren befreundet war. Adler war der einzige Arzt, dem Steiner die eigene Gesundheit und die seiner Familie anvertraute. Kein Gesetz, das Beziehungen zwischen Ariern und Juden unter Strafe stellte, hätte an der Wertschätzung, die sie füreinander empfanden, etwas ändern können. In den letzten Monaten musste Steiner es jedoch vermeiden, mit seinem Freund gesehen zu werden, weil er sich keinen Ärger mit der Naziverwaltung im Bezirk leisten konnte. Früher hatten sie unzählige Partien Poker und Schach miteinander gespielt, Bücher und Zeitschriften getauscht und Ausflüge in die Berge oder zum Angeln unternommen, um ihren Ehefrauen zu entfliehen, wie sie lachend sagten, und in Steiners Fall auch einem Stall voll Kindern. Jetzt nahm Adler an den Pokerrunden in Steiners Hinterzimmer nicht mehr teil. Der Apotheker empfing ihn am Hintereingang und gab ihm die Tropfen, ohne das in seiner Buchhaltung zu vermerken.

Vor der Machtübernahme hatte sich Peter Steiner nie Gedanken über die Herkunft der Adlers gemacht, für ihn waren sie Österreicher wie er selbst. Dass sie, wie rund 200 ‌000 weitere Einwohner des Landes, Juden waren, spielte für ihn keine Rolle. Er war Agnostiker, fand den christlichen Glauben, mit dem er selbst aufgewachsen war, genauso vernunftwidrig wie jede andere Religion und wusste, dass es Rudolf nicht anders ging, auch wenn der seiner Frau zuliebe bei einigen Gebräuchen seine Rolle wahrnahm. Rachel legte Wert darauf, ihrem Sohn Samuel in der Tradition und der jüdischen Gemeinschaft einen Halt zu geben. Die Steiners waren am Freitagabend zumeist zur Schabbatfeier bei den Adlers. Rachel und ihre Schwägerin Leah bereiteten immer alles liebevoll vor: das feine Tischzeug, neue Kerzen, den Fisch nach einem Rezept der Großmutter, das Brot und den Wein. Rachel und ihre Schwägerin standen sich sehr nah. Leah war jung Witwe geworden, sie hatte keine eigenen Kinder und sich der kleinen Familie ihres Bruders Rudolf angeschlossen. Rachels Drängen, doch zu ihnen zu ziehen, gab sie zwar nicht nach und wohnte weiter allein, aber sie kam oft zu Besuch. Sie war gern unter Menschen und engagierte sich in der Synagoge bei verschiedenen Hilfsangeboten für bedürftige Gemeindemitglieder. Von ihren beiden Brüdern war ihr nur Rudolf geblieben, seit der jüngere nach Palästina in einen Kibbuz ausgewandert war, und Samuel war ihr einziger Neffe. Am Schabbatabend saß Rudolf der Tafel vor, wie es vom Familienvater erwartet wurde. Er hielt die Hände über Samuels Kopf und bat um Gottes Segen und Schutz, um seine Gnade und um Frieden. Mehr als einmal ertappte Rachel ihn dabei, dass er gleichzeitig seinem Freund Peter zuzwinkerte. Sie ließ ihm das durchgehen und verstand es nicht als Spott, sondern bloß als Geste der Verbundenheit zwischen diesen beiden Ungläubigen.

Die Adlers gehörten zum säkularen und gebildeten Bürgertum, waren typische Vertreter der besseren Wiener Gesellschaft allgemein und insbesondere der jüdischen. Rudolf hatte Peter erklärt, dass seine Leute wegen der jahrhundertelangen Diskriminierung, Verfolgung und Vertreibung überall auf der Welt erheblich mehr Wert auf Bildung als auf Besitz legten. Der konnte ihnen genommen werden, wie es ja im Lauf der Geschichte immer wieder geschehen war, doch konnte sie niemand ihrer geistigen Schätze berauben. Ein Doktortitel wurde...

Erscheint lt. Verlag 15.4.2024
Übersetzer Svenja Becker
Sprache deutsch
Original-Titel El viento conoce mi nombre
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Arizona • Chile • Das Geisterhaus • dieser weite weg • El Salvador • Entwurzelung • Familienroman • Fantasiewelt • Frauen • Geschenk für Freundin • Gewalt • Historischer Roman • Hoffnung • Imagination • Lateinamerika • Liebe • Mitgefühl • Mutter-Tochter-Beziehung • Solidarität • Südamerika • Trennung • violeta • Wien
ISBN-10 3-518-77999-0 / 3518779990
ISBN-13 978-3-518-77999-6 / 9783518779996
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