Aktuelle psychiatrische Diagnostik (eBook)

Ein Leitfaden für das tägliche Arbeiten mit ICD und DSM
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2015 | 1. Auflage
168 Seiten
Georg Thieme Verlag KG
978-3-13-200531-0 (ISBN)

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Aktuelle psychiatrische Diagnostik -  Markus Jäger
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Leitfaden für die tägliche Arbeit: - Praxisnahe Einführung sowie Vor- und Nachteile der Diagnosesysteme ICD 10 und DSM 5. - Überblick über verschiedene Krankheitsmodelle in der Psychiatrie. - Entwicklungsgeschichtliche Aspekte, aktuelle Ansätze und Zukunftsperspektiven. Zuverlässiger Begleiter für die Diagnosestellung: - Konkrete, praxisnahe Fallbeispiele. - Beschreibung verschiedener Hilfsinstrumente. - Zahlreiche Tabellen und Abbildungen. - Hilfe bei der Anwendung diagnostischer Algorithmen.

Markus Jäger: Aktuelle psychiatrische Diagnostik 1
Innentitel 4
Impressum 5
Geleitwort 6
Vorwort 8
Inhaltsverzeichnis 10
Kapitel 1 16
1 Diagnose als Grundelement ärztlichen Denkens 17
Medizin als wissenschaftliche Heilkunde 17
Zwei Fallbeispiele als Einführung 17
Was ist Medizin? 17
Beschreiben, Ordnen und Klassifizieren 18
Kritik an der Medizin 18
Diagnose, Prognose und Therapie 19
Medizin als praktische Wissenschaft 19
Grundelemente ärztlichen Denkens und Handelns 19
Nomothetisches und idiografisches Vorgehen 20
Ebenen der Diagnostik 20
Unterscheidung der diagnostischen Ebenen 20
Symptomebene 21
Syndromebene 21
Nosologische Ebene 21
Diagnose als Zuordnung 22
Diagnose als Wahrscheinlichkeitsaussage 22
Kategoriale und dimensionale Ansätze 22
Praktisches Vorgehen in der Diagnostik 23
Diagnostische Zuordnung als Testoperation 23
Frage nach der Validität einer diagnostischen Zuordnung 24
Krankheitsmodelle 25
Ontologische und funktionelle Modelle 25
Real- und Nominaldefinitionen 25
Konzeption von Krankheitsentitäten 26
Krankheitsentitäten und diagnostische Validität 26
Krankheitsmodelle und die Frage nach der Ätiologie 27
Probleme des Krankheitsbegriffs 27
Naturalistische und normativistische Auffassungen 27
Versuch einer Krankheitsdefinition 28
Krankheit als Rechtsbegriff 28
Kapitel 2 29
2 Aktuelle psychiatrische Diagnostik 30
Psychopathologie als Grundlage der psychiatrischen Diagnostik 30
Bedeutung der Psychopathologie 30
Psychopathologie als Methodenlehre 30
Gefahr einer reduktionistischen Sichtweise 30
Psychiatrische Diagnostik auf Symptomebene 31
Instrumente zur psychopathologischen Befunderhebung 31
Befunderhebung mit dem AMDP-System 32
Befunderhebung mit der Hamilton Depression Scale 33
Befunderhebung mit der Positive and negative Syndrome Scale (PANSS) 33
Probleme bei der Verwendung von Rating-Skalen 34
Psychiatrische Diagnostik auf Syndromebene 34
Konzeption von psychopathologischen Syndromen 34
Psychopathologische Syndrome im AMDP-System 35
Psychopathologische Syndrome in der PANSS 36
Möglichkeiten einer dimensionalen Diagnostik 36
Psychiatrische Diagnostik auf nosologischer Ebene 37
Würzburger Diagnoseschema 37
Klassifikationssysteme der WHO und der APA 38
DSM-III als Reaktion auf Reliabilitätsprobleme 39
Weiterentwicklung zu ICD-10 und DSM-5 39
Überblick über die psychiatrische Diagnostik im DSM-5 39
Revisionsprozess und Gliederung des Manuals 39
Grundlegende Prinzipien des DSM-5 40
Aufbau der Klassifikation im DSM-5 41
Weitere Instrumente und Modelle im DSM-5 43
Überblick über die psychiatrische Diagnostik in der ICD-10 46
Psychische Störungen im Rahmen des Klassifikations„systems der WHO 46
Aufbau der Klassifikation in der ICD-10 46
Entwürfe für die psychiatrische Diagnostik in der ICD-11 48
Charakteristika der operationalen Diagnosesysteme 49
Verwendung eines kategorialen Systems 49
Deskriptiver Ansatz 49
Verzicht auf ein explizites Krankheitsmodell 50
Verwendung von Ein- und Ausschlusskriterien 50
Elementaristischer psychopathologischer Ansatz 51
Prinzip der Komorbidität 51
Strukturierte diagnostische Interviews 52
Strukturierte Interviews auf verschiedenen diagnostischen Ebenen 52
PSE, CATEGO und SCAN 53
Strukturiertes klinisches Interview für das DSM (SKID) 53
Kapitel 3 55
3 Praktisches Arbeiten mit DSM-5 und ICD-10 56
Verwendung von diagnostischen Algorithmen 56
Schizophrenie 56
Konzeptuelle Grundlagen der Schizophrenie 56
Diagnostik der Schizophrenie im DSM-5 58
Diagnostik der Schizophrenie in der ICD-10 59
Fallbeispiele zur Diagnostik der Schizophrenie 61
Probleme bei der Schizophreniediagnose 65
Schizoaffektive Störungen 65
Konzeptuelle Grundlagen der schizoaffektiven Störungen 65
Diagnostik der schizoaffektiven Störungen im DSM-5 66
Diagnostik der schizoaffektiven Störungen in der ICD-10 67
Fallbeispiele zur Diagnostik schizoaffektiver Störungen 67
Probleme bei der Diagnostik von schizoaffektiven Störungen 70
Depressive Störungen 71
Konzeptuelle Grundlagen der depressiven Störungen 71
Diagnostik depressiver Störungen im DSM-5 73
Diagnostik depressiver Störungen in der ICD-10 75
Fallbeispiele zur Diagnostik depressiver Störungen 76
Probleme bei der Diagnostik von depressiven Störungen 78
Anpassungsstörungen 79
Konzeptuelle Grundlagen der Anpassungsstörungen 79
Diagnostik der Anpassungsstörungen im DSM-5 80
Diagnostik der Anpassungsstörungen in der ICD-10 80
Fallbeispiel zur Diagnostik von Anpassungsstörungen 81
Probleme bei der Diagnostik von Anpassungsstörungen 82
Dissoziative und somatoforme Störungen 82
Konzeptuelle Grundlagen der dissoziativen und somatoformen Störungen 82
Diagnostik von dissoziativen und somatoformen Störungen im DSM-5 83
Diagnostik von dissoziativen und somatoformen Störungen in der ICD-10 84
Fallbeispiel zur Diagnose eines dissoziativen Stupors 84
Probleme bei der Diagnose von dissoziativen und somatoformen Störungen 86
Emotional-instabile bzw. Borderline-Persönlichkeitsstörungen 86
Konzeptuelle Grundlagen der Persönlichkeitsstörungen 86
Diagnostik der Borderline-Persönlichkeitsstörung im DSM-5 87
Diagnostik der emotional-instabilen Persönlichkeits„störungen in der ICD-10 88
Fallbeispiel zur Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung 89
Komorbiditätsprinzip 91
Konzeptuelle Grundlagen des Komorbiditätsprinzips 91
Komorbiditätsprinzip in DSM-5 und ICD-10 91
Fallbeispiel zum Komorbiditätsprinzip 92
Probleme bei der diagnostischen Entscheidungsfindung 93
Differenzierung auf Symptomebene 93
Zeitkriterien und Abwägung zwischen Symptombereichen 93
Simulation, Aggravation und Dissimulation 94
Kapitel 4 95
4 Probleme, Lösungsansätze und Zukunftsperspektiven 96
Kritik an der Diagnostik in DSM-5 und ICD-10 96
Gefahr einer diagnostischen Inflation 96
Unzureichende Beachtung des Gesamtbilds 97
Vernachlässigung der subjektiven Psychopathologie 97
Gefahr einer Trivialisierung der Diagnostik 98
Reliabilität auf Kosten der Validität 98
Diagnose und Nosologie 99
Syndromale und nosologische Diagnostik 100
Forderung nach einer syndromalen Diagnostik 100
Polysyndromale Diagnostik in DSM-5 und ICD-10 101
Probleme einer syndromalen Diagnostik 101
Verbindung von syndromalen und nosologischen Ansätzen 102
Dimensionale und kategoriale Diagnostik 103
Unterscheidung zwischen kategorialen und dimensionalen Modellen 103
Quantitative und qualitative Vorgehensweise 103
Forderung nach dimensionalen Ansätzen 104
Dimensionale Ansätze in DSM-5 und ICD-10 105
Klinisch-intuitive und algorithmische Diagnostik 106
Praktisches Vorgehen in der Diagnostik 106
Grenzen der algorithmischen Diagnostik in DSM-5 und ICD-10 106
Nomothetisches und idiografisches Vorgehen 107
Neurobiologische und psychopathologische Fundierung 108
Neurobiologische Fundierung der Psychiatrie 108
Versuche einer Validierung von psychopathologisch konzipierten Entitäten 108
Entwürfe einer funktionellen Psychopathologie 109
Research Domain Criteria (RDoC) 110
Rolle der Psychopathologie in der psychiatrischen Diagnostik 111
Frage nach der Validität psychiatrischer Diagnosen 112
Bedeutung der Verlaufsforschung für die Psychiatrie 113
Etablierung einer psychopathologischen Verlaufstypologie 113
Verbindung von quantitativen und qualitativen Methoden 114
Verbindung von psychopathologischen und neurobiologischen Ansätzen 114
Vorschlag eines triaxialen Diagnosemodells 115
Konzeption der diagnostischen Achsen 115
Folgerungen für ein Diagnosesystem 115
Diagnostik im Kontext einer personalisierten Psychiatrie 116
Diagnostik im Kontext einer evidenzbasierten Psychiatrie 117
Kapitel 5 119
5 Sonderstellung der Psychiatrie in der Medizin 120
Psychiatrie als Natur- und Kulturwissenschaft 120
Kurze Geschichte der Psychiatrie 120
Probleme der Psychiatrie als medizinische Fachdisziplin 121
Möglichkeit eines biperspektivischen Zugangs 121
Leib-Seele-Problem 122
Bedeutung des Leib-Seele-Problems für die Psychiatrie 122
Dualistische Positionen 122
Monistische Positionen 122
Verbindung von Monismus und Dualismus 123
Kritik der Antipsychiatrie 123
Begriff der Antipsychiatrie 123
Michel Foucault 123
Erving Goffman 124
Ronald D. Laing 124
Thomas Szasz 124
Würdigung der Antipsychiatrie 125
Krankheitskonzepte in der Psychiatrie 125
Definition psychischer Krankheit 125
Medizinisches Modell 125
Psychologische Modelle 126
Soziologische Modelle 126
Grenzen eines bio-psycho-sozialen Modells 127
Psychische Krankheiten als Rechtsbegriffe 127
Psychische Krankheiten als Störungen in DSM-5 und ICD-10 128
Kapitel 6 130
6 Meilensteine in der Entwicklung der psychiatrischen Diagnostik 131
Nosologische Anschauungen von Emil Kraepelin 131
Bedeutung von Emil Kraepelin 131
Krankheitsmodell von Kraepelin 131
Dichotome Einteilung der endogenen Psychosen 132
Psychopathologische Herangehensweise bei Kraepelin 132
Bezug von Kraepelin zur aktuellen Diagnostik 132
Konzept des exogenen Reaktionstyps von Karl Bonhoeffer 133
Bedeutung von Karl Bonhoeffer 133
Fehlende Spezifität verschiedener Noxen für das klinische Bild 134
Bezug von Bonhoeffer zur aktuellen Diagnostik 134
Methodologie von Karl Jaspers 134
Bedeutung von Karl Jaspers 134
Methodologische statt theoretische Ordnung 135
Unterscheidung zwischen Prozess und Entwicklung 136
Konzept des Typus bei Jaspers 136
Diagnoseschema bei Jaspers 136
Bezug von Jaspers zur aktuellen Diagnostik 137
Klinische Psychopathologie von Kurt Schneider 138
Bedeutung von Kurt Schneider 138
Ordnung der klinischen Psychopathologie 138
Differenzialtypologie und Schizophreniediagnose 139
Bezug von Schneider zur aktuellen Diagnostik 140
Ansätze in der Wernicke-Kleist-Leonhard-Schule 141
Konzept des psychischen Reflexbogens von Carl Wernicke 141
Gehirnpathologie von Karl Kleist 141
Aufteilung der endogenen Psychosen bei Karl Leonhard 142
Bezug der Wernicke-Kleist-Leonhard-Schule zur aktuellen Diagnostik 143
Gestaltpsychologische Konzepte bei Klaus Conrad 144
Bedeutung von Klaus Conrad 144
Gestaltanalyse des Wahns 144
Nosologische Überlegungen bei Conrad 145
Bezug von Conrad zur aktuellen Diagnostik 145
Multiaxiale Ansätze in der psychiatrischen Diagnostik 145
Bedeutung von Erik Essen-Möller 145
Prinzip der multiaxialen Diagnostik 145
Bezug von Essen-Möller zur aktuellen Diagnostik 147
Reliabilitätsprobleme in der psychiatrischen Diagnostik 147
Stengel-Report 147
Untersuchungen zur Reliabilität psychiatrischer Diagnosen 148
US/UK-Studie 148
Reliabilität und aktuelle Diagnostik 148
Syndromale und dimensionale diagnostische Konzepte 149
Syndrombeschreibungen in der traditionellen Psychopathologie 149
Quantitativ-statistische Ansätze in der Diagnostik 149
Dimensionale Modelle in der Persönlichkeitsdiagnostik 150
Dimensionale Konzepte und aktuelle Diagnostik 150
Einfluss des logischen Empirismus auf die psychiatrische Diagnostik 150
Grundlagen des logischen Empirismus 150
Deskriptive und theoretische Stufen wissenschaftlichen Arbeitens 151
Empirischer und systematischer Gehalt von wissenschaftlichen Konzepten 151
Bedeutung von operationalen Definitionen 152
Bezug des logischen Empirismus zur aktuellen Diagnostik 152
Die Strömung der Neo-Kraepelinianer 152
Bedeutung der Neo-Kraepelinianer 152
Nosologisches Modell der Neo-Krapelinianer 153
Neo-Kraepelinismus und Entwicklung diagnostischer Kriterien 153
Bezug des Neo-Kraepelinismus zur aktuellen Diagnostik 154
Kapitel 7 155
7 Zusammenfassung und Fazit 156
Rückblick auf die wesentlichen Gedankengänge 156
Notwendigkeit von Begriffsklärungen 156
Errungenschaften der modernen Diagnosesysteme 157
Grenzen von DSM-5 und ICD-10 158
Plädoyer für eine psychopathologische Fundierung der Diagnostik 158
Zukunft der psychiatrischen Diagnostik 159
Kapitel 8 160
8 Literaturverzeichnis 161
Sachverzeichnis 166

1 Diagnose als Grundelement ärztlichen Denkens


1.1 Medizin als wissenschaftliche Heilkunde


1.1.1 Zwei Fallbeispiele als Einführung


Die Diagnose steht im Mittelpunkt des ärztlichen Denkens und Handelns. Sie ist der entscheidende Wegweiser für prognostische Einschätzung und Therapie-Empfehlung.

Fallbeispiel Unterbauchschmerz 1

So stellt sich beispielsweise ein 25-jähriger Mann in der Notaufnahme eines Krankenhauses mit plötzlich aufgetretenen Schmerzen im rechten Unterbauch vor. Er berichtet über Appetitlosigkeit und Übelkeit. Die rektale Körpertemperatur beträgt 38,7 °C, die axilläre Temperatur beträgt 37,5 °C. Bei der Palpation des rechten Unterbauches zeigt sich ein Loslassschmerz. Im Labor fällt ein Anstieg der Entzündungswerte auf. In der Ultraschalluntersuchung zeigt sich ein vergrößerter Wurmfortsatz. Von den Ärzten wird eine akute Appendizitis diagnostiziert und bei zunehmenden Schmerzen und Temperaturanstieg die Indikation für eine Appendektomie gestellt. In der histopathologischen Untersuchung zeigt sich ein granulozytäres Infiltrat, welches den gesamten Wurmfortsatz erfasst.

Aufgrund von Anamnese, klinischem Befund und apparativen Zusatzuntersuchungen wurde hier eine Diagnose gestellt und die bei dieser Diagnose geeignete Therapie durchgeführt. Durch den histopathologischen Befund konnte die Diagnose bestätigt werden.

Was in dem aufgeführten Fallbeispiel trivial erscheint, ist jedoch in anderen Zusammenhängen keineswegs so selbstverständlich. So werden gerade im Fach Psychiatrie und Psychotherapie Sinn und Zweck der Diagnose bis heute recht kontrovers diskutiert.

Fallbeispiel Unterbauchschmerz 2

Eine 45-jährige Frau stellt sich bei ihrem Hausarzt vor. Sie berichtet darüber, dass sie seit Wochen unter Schmerzen im Unterbauch leide. Am Arbeitsplatz komme sie nicht mehr zurecht, da man sie hier fertigmachen wolle. Grund hierfür sei, dass sie unsaubere Finanztransaktionen aufgedeckt habe, die sie nun an die Öffentlichkeit bringen wolle. Sie bitte nun um ein Beruhigungsmedikament.

Hier tut man sich viel schwerer, eine Diagnose zu stellen und aus dieser klare Therapie-Empfehlungen abzuleiten.

Das vorliegende Buch möchte einen Überblick über die aktuelle psychiatrische Diagnostik geben und in das praktische Arbeiten mit DSM-5 und ICD-10 einführen. Das Fach Psychiatrie und Psychotherapie wird hierbei ausdrücklich als medizinische Fachdisziplin angesehen.

In diesem Kontext stellt sich zunächst die Frage, was eigentlich Medizin ist.

1.1.2 Was ist Medizin?


Aufgabe der Medizin ist es, Krankheiten zu heilen und das Auftreten von Krankheiten zu verhindern ▶ [183]. Doch fallen nicht alle solchen Bemühungen unter den Begriff der Medizin. Der Medizinhistoriker Paul Unschuld (geb. 1943) unterscheidet deshalb streng zwischen Medizin auf der einen und Heilkunde auf der anderen Seite ▶ [198]. Heilkunde ist hierbei der deutlich weiter gefasste Begriff. Er umfasst jegliche Versuche, Kranksein zu heilen oder auch vorzubeugen. Heilkunde ist sehr alt und geht bis in die prähistorische Zeit zurück. Heilkunde gibt es bis heute noch in vielfältiger Form. Medizin ist demgegenüber noch recht jung. Der Ursprung der europäischen Medizin liegt maßgeblich in der griechischen Antike. Medizin entstand aus dem Bemühen, Krankheit und Kranksein auf Naturgesetzlichkeiten zurückzuführen und wissenschaftlich zu erforschen ▶ [198]. Hierbei dürfte die vorsokratische Naturphilosophie eine wichtige Rolle gespielt haben. Medizin ist demnach ein Teil der Heilkunde, und zwar der wissenschaftliche Teil der Heilkunde. Medizin in diesem Sinne ist eine empirische Wissenschaft. Akut auftretende Bauchschmerzen im rechten Unterbauch, die mit Fieber und einem Loslassschmerz einhergehen, werden beispielsweise nicht als Ausdruck eines Wirkens von diffusen Kräften angesehen, sondern auf Naturgesetze zurückgeführt.

Die Entwicklung der Medizin war zu allen Zeiten stark von kulturellen Faktoren und den vorherrschenden Weltanschauungen beeinflusst. Dieser Umstand wurde beispielsweise von Henry Sigerist (1891–1957) ▶ [183] und von Paul Unschuld ▶ [198] sehr anschaulich dargestellt. So gibt es beispielsweise eine klare Korrespondenz zwischen der Viersäftelehre in der griechischen Medizin und den naturkundlichen Anschauungen der Vorsokratiker. Die Entwicklung der modernen Anatomie ist ohne Zweifel eng mit dem Gedankengut der Renaissance verbunden. Die zellularpathologischen Anschauungen eines Rudolf Virchow (1821–1902) haben durchaus eine Entsprechung in dessen sozialpolitischen Anschauungen. So kommt der Gedanke von „Zellen“ im Sinne von kleinen, eigenständigen Einheiten als Basis aller Lebensvorgänge der demokratischen Überzeugung von Virchow recht nahe ▶ [198]. Die enge Verbindung von gesellschaftlichen Anschauungen und medizinischen Theorien in Form von Erklärungsmodellen kann bis in die heutige Zeit hinein beobachtet werden. Dies trifft vor allem auch für das Fach Psychiatrie und Psychotherapie zu. Hier gibt es einen besonderen Bezug zu soziokulturellen Faktoren.

Medizin als wissenschaftliche Form der Heilkunde ist mit einer Professionalisierung der hierbei tätigen Berufsgruppen verbunden. Dies trifft natürlich insbesondere für die Ärzteschaft zu, schließt aber auch andere Berufsgruppen wie zum Beispiel klinische Psychologen, Psychotherapeuten oder Gesundheits- und Krankenpfleger ein. Charakteristisch ist hierbei, dass in geregelten Studien- bzw. Ausbildungsgängen ein Spezialwissen erworben wird.

1.1.3 Beschreiben, Ordnen und Klassifizieren


Medizin als wissenschaftliche Form der Heilkunde ist im Wesentlichen eine empirische Wissenschaft. Als solche strebt sie nach möglichst objektiven Erkenntnissen, welche durch Beobachtungen oder geeignete Experimente überprüft werden können. Der erste Schritt ist hierbei eine genaue Beschreibung der beobachteten Phänomene ▶ [64]. Hierzu ist eine präzise Terminologie erforderlich. Mit Hilfe einer solchen Fachsprache soll eine hohe Übereinstimmung zwischen verschiedenen Beobachtern erreicht werden. Im zweiten Schritt sollen die einzelnen beobachtbaren Phänomene in eine sinnvolle Ordnung gebracht und mit Hilfe von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten bzw. Theorien erklärt werden ▶ [64]. Eine auf bestimmten Gesetzmäßigkeiten beruhende Ordnung kann schließlich in einem Klassifikationsschema zum Ausdruck gebracht werden. Man spricht dann auch von einer Taxonomie.

Die Naturwissenschaften haben inzwischen zumeist eine allgemein anerkannte Terminologie entwickelt. Als Beispiel sei die Formelsprache der Chemie genannt. Gesetzmäßigkeiten in der Physik werden zumeist mit Hilfe der Mathematik beschrieben, beispielsweise in Form von Differenzialgleichungen. Das Periodensystem der Elemente bildet die Taxonomie der Chemie, die auf Carl von Linné (1707–1778) zurückgehende Systematik der Lebewesen bildet die Taxonomie der Biologie.

Die Medizin befasst sich mit der Behandlung von Krankheiten. Auch hier wurde eine spezifische Terminologie entwickelt, um die vom Patienten geschilderten Symptome und die vom Arzt erhobenen Untersuchungsbefunde präzise zu beschreiben. Auf der Suche nach Erklärungsmodellen und Gesetzmäßigkeiten stützt sich die Medizin vor allem auf die Naturwissenschaften. Auch gibt es vielfältige Bemühungen, Klassifikationssysteme für Krankheiten aufzustellen. Im Gegensatz zur Chemie oder zur Biologie gibt es in der Medizin bisher jedoch noch keine allgemein anerkannte Systematik.

1.1.4 Kritik an der Medizin


Die Medizin als wissenschaftliche Form der Heilkunde war in der Vergangenheit und ist bis heute einer zum Teil recht vehementen Kritik ausgesetzt. Als Beispiel soll hier auf die Ausführungen des ehemaligen katholischen Priesters und Gesellschaftskritikers Ivan Illich (1926–2002) eingegangen werden. Dieser hatte sich erstmals 1975 mit den Problemen der modernen Medizin auseinandergesetzt ▶ [76]. Sein Buch mit dem deutschen Titel „Die Nemesis der Medizin“ kann heute als ein Klassiker der medizinkritischen Literatur bezeichnet werden. Von Illich wurden hierbei insbesondere die wissenschaftliche Heilkunde sowie die Professionalisierung des Gesundheitssystems kritisiert. Die etablierte Medizin habe sich, so Illich, zu einer Gefahr für die Gesundheit entwickelt. Es sei zu einer „Medikalisierung“ von großen Bereichen des Lebens gekommen ▶ [76]. Von dieser Entwicklung profitiere insbesondere auch die pharmazeutische Industrie. Die umfangreichen Ausführungen von Illich lassen sich im Wesentlichen in drei Thesen zusammenfassen:

  • ...

Erscheint lt. Verlag 13.5.2015
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie Klinische Psychologie
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Studium 2. Studienabschnitt (Klinik) Anamnese / Körperliche Untersuchung
Schlagworte Anpassungsstörungen • Antipsychiatrie • Depression • diagnostische Algorithmen • DSM 5 • Emil Kraepelin • evidenzbasierte Psychiatrie • ICD11 • Karl Bonhoeffer • Karl Jaspers • Klassifikationssysteme • Klinische Psychopathologie • Kurt Schneider • Nosologie • pauschalisierte Entgeltsysteme für Psychiatrie und Psychosomatik • PEPP • Personalisierte Psychiatrie • Psychiatrische Krankheitskonzepte • Schizophrenie • syndromale Diagnostik nosologische Diagnostik • Therapieentscheidung • triaxiales Diagnosemodell • Wernicke-Kleist-Leonhard Schule
ISBN-10 3-13-200531-2 / 3132005312
ISBN-13 978-3-13-200531-0 / 9783132005310
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