Plädoyer für die Psalmen

Warum sie unentbehrlich sind

(Autor)

Buch | Softcover
152 Seiten
2015 | 1., Auflage
Francke-Buch (Verlag)
978-3-86827-539-1 (ISBN)
9,95 inkl. MwSt
Das großartige Liederbuch im Herzen der Bibel war das tägliche Lebenselixier der frühen Christen und natürlich auch des jüdischen Volkes. Jesus und seine ersten Nachfolger kannten sie sicher auswendig. Die Psalmen gehören zu den ältesten Gedichten der Welt und sie können es immer noch mit jeder anderen Poesie aufnehmen. Sie sind voller Kraft und Leidenschaft, entsetzlichem Elend und unbändigem Jubel, voller zarter Sensibilität und kraftvoller Hoffnung.
Überraschenderweise geht dieser Eindruck bei der Übersetzung nicht verloren. Aber in vielen christlichen Kreisen werden die Psalmen heute kaum noch verwendet. Dabei bieten sie uns einen Weg an, auf dem wir in einen Chor aus Lobpreis und Gebet einstimmen können, der seit Jahrtausenden und über alle Kulturen hinweg geschieht.
N. T. Wright lädt mit diesem Buch dazu ein, die Psalmen wiederzuentdecken und sich von ihnen verändern zu lassen.

N.??T. Wright war anglikanischer Bischof und ist einer der führenden Neutestamentler im englischen Sprachraum. Er ist verheiratet und hat vier erwachsene Kinder.

1. Kapitel Einleitung Dieses Buch ist ein persönliches Plädoyer. Die Psalmen, die das großartige Liederbuch im Herzen der Bibel bilden, waren das tägliche Lebenselixier der Christen und natürlich auch des jüdischen Volkes seit frühesten Zeiten. Aber in vielen christlichen Kreisen werden die Psalmen heute schlicht und einfach nicht verwendet. Und an vielen Orten, an denen sie noch verwendet werden, sei es gesprochen oder gesungen, werden sie oft auf ein paar Verse reduziert, die zur „Auffüllung“ zwischen anderen Teilen der Liturgie oder von Anbetungsgottesdiensten rezitiert werden. Im zweiten Fall scheinen die Leute oft gar nicht zu realisieren, was sie singen. Im ersten Fall scheinen sie nicht zu realisieren, was ihnen entgeht. Dieses Buch ist ein Versuch, diese Trends umzukehren. Ich halte das für eine dringende Aufgabe. Angenommen, die Psalmen wären verlorengegangen und niemals in irgendwelchen Bibeln oder Gebetsbüchern abgedruckt worden. Angenommen, sie würden dann in einer verblichenen, aber noch lesbaren Schriftrolle auftauchen, die von Archäologen in der Wüste Jordaniens oder Ägyptens entdeckt wurde. Was würde passieren? Nach ihrer Entzifferung und Übersetzung würden sie auf der Titelseite jeder Zeitung auf der ganzen Welt stehen. Viele Gelehrte aus vielen Fachbereichen würden über die Schönheit und den Inhalt dieser antiken Anbetungslieder und Gedichte staunen. Die Psalmen gehören zu den ältesten Gedichten der Welt und sie können es immer noch mit jeder Poesie in jeder alten oder modernen Kultur überall auf der Welt aufnehmen. Sie sind voller Kraft und Leidenschaft, entsetzlichem Elend und unbändigem Jubel, voller zarter Sensibilität und kraftvoller Hoffnung. Wessen Herz offen ist für neue Dimensionen menschlicher Erfahrung, wer gute Literatur liebt, wer ein Fenster zu den hellen Lichtern und dunklen Ecken der menschlichen Erfahrung sucht – wer offen ist für den wunderschönen Ausdruck einer größeren Vision der Wirklichkeit, sollte auf diese Gedichte wie jemand reagieren, der seit ein oder zwei Wochen kein gutes Essen mehr hatte. Es ist alles vorhanden. Überraschenderweise geht dieser Eindruck bei der Übersetzung nicht verloren. Die meiste Poesie leidet, wenn sie in eine andere Sprache übersetzt wird, denn sie ist in ihrer Wirkung vom Klang und Rhythmus der ursprünglichen Wörter abhängig. Es stimmt, dass das Hebräisch dieser Gedichte seine eigene Schönheit hat – für die, die dafür empfänglich sind. Aber die Wirkung der Psalmen hängt von der Art und Weise ab, auf die sie die Hauptthemen darstellen. Sie sagen etwas aus einer bestimmten Perspektive und wiederholen es dann aus einer etwas anderen Perspektive: Der Himmel ist durch das Wort des HERRN gemacht und all sein Heer durch den Hauch seines Mundes. (Psalm 33,6) Ich will meinen Mund auftun zu einem Spruch und Geschichten verkünden aus alter Zeit. (Psalm 78,2) Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege. (Psalm 139,3) Selbst wenn dies nicht Zeile für Zeile geschieht, geschieht es oft zwischen verschiedenen Abschnitten eines Psalms oder im Gleichgewicht der Sammlung als Ganzer oder eines Teils der Sammlung. Der wichtige Punkt lautet an dieser Stelle, dass einige der wichtigsten Dinge, die wir sagen wollen, noch ein klein wenig jenseits unserer besten Wörter liegen. Der erste Satz ist ein Hinweis auf die tiefe Wirklichkeit; der zweite ein Hinweis von einem etwas anderen Standort aus gesehen. Der Leser ist eingeladen, beidem zu folgen und die größere, unausgesprochene Wahrheit zu sehen, die sich im Hintergrund abzeichnet. Das bedeutet: Die Wirkung kann in der Übersetzung nicht nur erhalten werden, sondern die Wirkung ist selber etwas von dem Tiefsten, was die Psalmen vollbringen, da sie klarmacht, dass die besten menschlichen Worte über sich hinaus auf Wirklichkeiten verweisen, die sogar hohe poetische Beschreibung übersteigen. (Etwas Ähnliches wird andernorts in der Bibel erreicht – zum Beispiel in der Bereitstellung von zwei Schöpfungsgeschichten, die zwei in Bildersprache ausgedrückte Bilder für eine Wirklichkeit anbieten, die jenseits von beiden liegt.) Wie gesagt: All dies sollte die Aufmerksamkeit erregen und die Begeisterung jedes Menschen wecken, der ein Gespür für die kraftvollen Schriften zu den großen Themen des menschlichen Lebens hat. Doch für alle, die – in welcher Weise auch immer – in den geistlichen Traditionen des Judentums und Christentums stehen, gibt es all dies und noch viel, viel mehr. Daher ist es umso frustrierender, dass die Psalmen heute so oft vernachlässigt oder bestenfalls auf eine oberflächliche und geistlose Weise verwendet werden. In einigen Kreisen der heutigen Christenheit werden die Psalmen im täglichen und wöchentlichen Gottesdienst nicht mehr verwendet. Das gilt besonders dort, wo es ein bemerkenswertes Wachstum gegeben hat, das sich sowohl zahlenmäßig als auch im Blick auf die Energie niederschlägt, nicht zuletzt in den charismatischen Bewegungen in verschiedenen Denominationen. Unglaublich beliebt sind die „Lobpreislieder“. Einige von ihnen benutzen Formulierungen aus den Psalmen, die meisten allerdings nicht. Für Tausende von regelmäßigen und enthusiastischen Gottesdienstbesuchern haben diese Lobpreislieder den stetigen Rhythmus und die tiefgründige Gewissenserforschung der Psalmen größtenteils ersetzt. Das ist meines Erachtens eine große Verarmung. Ich bin absolut dafür, dass neue Lieder geschrieben werden. Jede Generation muss das tun. Aber die Vernachlässigung des ursprünglichen Liederbuchs der Kirche ist offen gestanden verrückt. Es gibt viele Weisen, auf denen die Psalmen gesungen und gebetet werden können; es gibt Stile für jeden Geschmack. Das ist in der Tat Teil ihres anhaltenden Charmes. Ich hoffe, dass eine der Auswirkungen dieses kleinen Buches darin bestehen wird, diejenigen, die Gottesdienste und Anbetung in vielen unterschiedlichen Umgebungen leiten, zu stimulieren und zu ermutigen, darüber nachzudenken und dafür zu beten, wie das alte Gebetsbuch der Kirche in das regelmäßige und normale Leben ihrer Gemeinschaft neu integriert werden kann. Die Psalmen repräsentieren das der Bibel eigene geistliche Wurzelwerk des großen Baumes, den wir Christenheit nennen. Man muss kein Gartenbaugenie sein, um zu verstehen, was mit der Frucht am Baum passiert, wenn die Wurzeln in keinem guten Zustand sind. Ich schreibe aber nicht, um schlicht und einfach zu sagen: „Dies sind wichtige Lieder, die wir benutzen und zu verstehen versuchen sollten.“ Das stimmt zwar, aber damit wird die Betonung falsch herum gelegt – als ob die Psalmen das Problem wären und als ob wir versuchen sollten, sie in unsere Welt einzupassen. Tatsächlich sind wir das Problem – wir konfusen und verwirrten und halbgläubigen Menschen; und die Frage lautet eher: Wie können wir unseren Weg in ihre Welt finden, in ihren Glauben und ihre Hoffnung, die aus einem Psalm nach dem anderen hervorscheinen. Wie jeden wohlüberlegten christlichen Gottesdienst umgibt auch diesen Ansatz eine gewisse Demut. Gute Liturgie, sei sie formell oder informell, sollte niemals schlicht und einfach ein gemeinschaftliches emotionales Treffen sein, wie „christlich“ auch immer, sondern sollte ein frischer und ehrfurchtsvoller Versuch sein, die größere unaufhörliche Liturgie zu bewohnen, die in den himmlischen Bereichen unablässig geschieht. (Darum geht es in den großartigen Kapiteln Offenbarung 4 und 5.) Die Psalmen bieten uns einen Weg an, auf dem wir in einen Chor aus Lobpreis und Gebet einstimmen können, der seit Jahrtausenden und über alle Kulturen hinweg geschieht. Nicht zu versuchen, sie zu bewohnen, während man damit fortfährt, nicht von den Psalmen beeinflusste „Anbetung“ zu erfinden, die auf unseren eigenen momentanen Gefühlen basiert, heißt zu riskieren, wie ein verwöhntes Kind zu sein, das auf den Gipfel des Tafelbergs gebracht wird, die Stadt und den Ozean vor sich ausgebreitet sieht und sich weigert, den Ausblick zu bestaunen, weil es mit dem Smartphone spielt. Ich schlage in diesem Buch insbesondere vor, dass das regelmäßige Beten und Singen der Psalmen transformativ ist. Es verwandelt die Art und Weise, auf die wir einige der tiefsten Elemente von dem verstehen, wer wir sind, oder besser, wer, wo, wann und was wir sind: Wir sind Geschöpfe aus Raum, Zeit und Materie, und obwohl wir unsere normale Auffassung dieser Dinge für gegeben halten, lautet mein Vorschlag, dass die Psalmen unser Verständnis aller drei Elemente sanft, aber bestimmt transformieren werden. Sie tun das, damit wir verwandelt werden, damit wir die Welt, uns gegenseitig und uns selbst auf radikal andere Weise ansehen – eine Weise, die wir für Gottes Weise halten. Ich hoffe, dass meine Auslegung dieser Themen helfen wird, meinen eigenen Enthusiasmus für die Psalmen zu erklären und zu vermitteln, aber ich hoffe noch stärker, dass diese Themen jene Kirchen, die den Kontakt zu den Psalmen verloren haben, ermutigen, so schnell wie möglich zu ihnen zurückzukehren. Und ich hoffe, dass die Kirchen, die die Psalmen benutzen, ohne groß zu begreifen, worum es in ihnen geht, ermutigt werden, die Psalmen auf eine neue Weise von innen kennenzulernen. Die Psalmen transformieren also das, was ich unsere „Welt- anschauung“ genannt habe. Ich benutze diesen Begriff auf eine spezifische Weise, die ich über die letzten zwanzig Jahre hinweg entwickelt habe. Eine „Weltanschauung“ ist in diesem Sinne wie eine Brille: Sie ist das, durch das man hindurchsieht, nicht das, was man ansieht. Weltanschauungen sind in diesem Sinne komplex und bestehen aus einer wirbelnden Kombination von Storys, Symbolen, gewohnheitsmäßiger Praxis und angenommenen Antworten auf Schlüsselfragen folgender Art: Wer sind wir? Wo sind wir? Was läuft schief? Wie sieht die Lösung aus? Und: Welche Stunde hat geschlagen? Diese entwickelte Vorstellung von „Weltanschauung“ hat ihre Wurzeln in einigen Aspekten der Philosophie des Europas, obwohl ich sie etwas anders weiterentwickelt habe. Das alles habe ich an verschiedenen Stellen dargelegt, wie in den Bänden der in der Fußnote erwähnten Reihe „Die Ursprünge des Christentums und die Frage nach Gott“. Es gibt allerdings eine ziemlich andere Bedeutung von „Weltanschauung“, die vor Kurzem in einigen Kreisen in Amerika Beliebtheit erlangt hat, insbesondere unter dem Einfluss von Francis Schaeffer und seinen Schülern. Dort wird der Begriff verwendet, um auf eine grundlegende Reihe von vermeintlich christlichen Annahmen zu verweisen, die aus irgendwelchen Gründen einen bestimmten politischen Anstrich bekommen haben. Es wird klar werden, dass ich hier nicht über diese Art von „Weltanschauung“ rede. Dieses Buch unternimmt keinen Versuch zu diskutieren, wer die Psalmen schrieb oder wann das geschah. Ich diskutiere auch nicht die Theorien, wie sie geformt und editiert wurden bis zu ihrer gegenwärtigen Gestalt. Das sind wichtige Fragen, aber nicht für dieses Buch. Jüdische und christliche Traditionen sehen König David tausend Jahre vor Jesus als Verfasser der Psalmen; die wissenschaftliche Tradition, wie immer erpicht darauf, nicht als naiv zu erscheinen oder auf frühere Überzeugungen hereinzufallen, hat sie erheblich später datiert – in die letzten drei- oder vierhundert Jahre vor Christus. Unsere Kenntnis der frühen Geschichte Israels ist bestenfalls lückenhaft und bildet eine ziemlich unebene Oberfläche, auf der die Billardkugeln der antiken Evidenz auf dem Tisch hin und her gestoßen werden. Man kann nicht beweisen, dass irgendeiner der Psalmen auf König David selbst zurückgeht, aber man kann auch nicht beweisen, dass kein Psalm auf ihn zurückgeht. Viele Psalmen spiegeln ganz klar sowohl die Sprache als auch die Lage viel späterer Zeiten wider. Wie im Falle unserer modernen Liederbücher könnte das mit späteren editorischen Eingriffen zu tun haben, oder es könnte sein, dass sie von Autoren komponiert wurden, die sich selbst in einer poetischen Tradition stehend verstanden, von der sie selbst annahmen, dass sie auf Israels frühen Monarchen zurückging. Diese Debatten haben manchmal moderne „Inspirationstheorien“ widergespiegelt, die etwa fragen, ob Psalmen durch eine Einzelperson oder durch eine Gemeinschaft geschaffen wurden. Aber es gibt keine Anzeichen, dass die alten Israeliten oder Juden aus der Zeit des zweiten Tempels sich über solche Dinge Sorgen machten. Es scheint sehr weise zu sein, davon auszugehen, dass die Psalmen in ihrer vorliegenden Form in der Zeit des Exils in Babylon (das im 6. Jahrhundert v. Chr. begann) gesammelt und gestaltet wurden. Dort merkte das Volk, für das es undenkbar war, das Lied des Herrn in einem fremden Land zu singen, vielleicht paradoxerweise, dass das tatsächliche Singen dieser Lieder (und das Schreiben einiger neuer) sie bei geistiger Gesundheit erhielt und ihnen Hoffnung gab. Wir sollten keinen Zweifel haben, dass sie das grundlegende Gesangbuch zusammenstellen, sowohl für den zweiten Tempel in Jerusalem (der Tempelbau begann mit dem Wiederaufbau nach der Rückkehr aus dem Exil, welche in zeitlicher Nähe zum Übergang vom sechsten zum fünften Jahrhundert v. Chr. geschah) als auch für Tausende jüdische Versammlungen in „Synagogen“ auf der ganzen Welt und im heiligen Land selbst. An dieser Stelle ist ein Vorbehalt angezeigt. Es ist wahrscheinlich, dass im ersten Tempel in Jerusalem und vielleicht auch im zweiten, der nach dem Exil wiederaufgebaut wurde, die tatsächlichen Sänger ausgebildete Leviten waren, Musik im Namen des ganzen Volkes zu machen. Es war wie beim Opferkult: Die Leute kamen zum Tempel, aber die vorgesehenen Offiziellen vollzogen die letztendliche Handlung im Namen der Leute. Das heißt nicht, dass die Mehrheit der Anbeter nicht wusste, was gesungen wurde oder dass sie von den Wörtern oder der Musik nicht berührt wurden. Es heißt nur, dass sie mit hoher Sicherheit ein Gespür für eine gemeinschaftliche Solidarität hatten, das stärker war als das, was im modernen westlichen Individualismus üblich ist. Der Gottesdienst war der Gottesdienst des ganzen Volkes Gottes, auch wenn einige Personen ausgesondert, ausgebildet und ausgerüstet wurden, um die öffentlichen Kulthandlungen auszuführen. Fernab des Tempels entwickelten die Juden Zentren der Begegnung und des Gottesdienstes namens „Synagogen.“ Es ist frustrierend, dass wir nicht so viel darüber wissen, wie Juden im ersten Jahrhundert ihren regelmäßigen Synagogengottesdienst gestalteten, weder im Heiligen Land noch in der jüdischen Diaspora. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass die Psalmen eine prominente Rolle spielten und dass gewöhnliche Gottesdienstbesucher ermutigt wurden, einzustimmen und sich die Psalmen zu eigen zu machen. Das bedeutet natürlich, dass die Psalmen das Liederbuch waren, das Jesus und seine ersten Nachfolger auswendig kannten. Selbst in der heutigen Welt, in der elektronische Geräte aller Art die Notwendigkeit radikal reduziert haben, etwas auswendig zu lernen, können sich die meisten von uns an die sakralen wie auch die säkularen Lieder erinnern, die in unserer Kindheit oder Jugendzeit populär waren. Jesus und seine Zeitgenossen werden die Psalmen in- und auswendig gekannt haben. Paulus wird sie seit ganz frühen Jahren gebetet und gesungen haben. Das, was Jesus hinsichtlich seiner eigenen Identität und Berufung glaubte und verstand, und das, was Paulus hinsichtlich dessen zu glauben und zu verstehen lernte, was Jesus auf einzigartige Weise erreicht hatte, glaubten und verstanden sie innerhalb einer Welt, die ihre Gestalt auch von den Psalmen her gewann. Dieselbe Gestaltung steht uns erstaunlicherweise auch heute offen. Weil dieses Buch mehr ist als schlicht und einfach eine intellektuelle Argumentation, möchte ich auch mein eigenes Leben als ein Beispiel dafür vorbringen, wie die Psalmen existentiell und inkarnatorisch wirken. Daher habe ich ein Nachwort mit dem Titel „Mein Leben mit den Psalmen“ ins Buch einbezogen. Ich hoffe, dort beispielhaft zu zeigen, was ich in den vorangehenden Kapiteln argumentativ dargelegt habe. Eine technische Anmerkung: In der Nummerierung der Psalmen und in der Verszählung folgt die deutsche Übersetzung der Lutherbibel. Die alttestamentlichen Bibeltexte sind der Lutherbibel entnommen, die neutestamentlichen Bibeltexte folgen der Übersetzung von N. T. Wright, The New Testament for Everyone (London: SPCK, 2011). Diese Übersetzung wird auch in der allgemein verständlichen Kommentarreihe „Für heute“ verwendet, die schrittweise auf Deutsch herausgegeben wird. Bereits erschienen sind: Matthäus für heute (2 Bände; Gießen: Brunnen, 2013); Paulus für heute: Römerbrief (2 Bände; Gießen: Brunnen, 2014); Offenbarung für heute (Gießen: Brunnen, 2014); Die Gebete des Neuen Testaments für heute (Gießen: Brunnen, 2014). N. T. Wright: Plädoyer für die Psalmen: Warum sie unentbehrlich sind

1. Kapitel

Einleitung

Dieses Buch ist ein persönliches Plädoyer. Die Psalmen, die das großartige Liederbuch im Herzen der Bibel bilden, waren das tägliche Lebenselixier der Christen und natürlich auch des jüdischen Volkes seit frühesten Zeiten. Aber in vielen christlichen Kreisen werden die Psalmen heute schlicht und einfach nicht verwendet. Und an vielen Orten, an denen sie noch verwendet werden, sei es gesprochen oder gesungen, werden sie oft auf ein paar Verse reduziert, die zur "Auffüllung" zwischen anderen Teilen der Liturgie oder von Anbetungsgottesdiensten rezitiert werden. Im zweiten Fall scheinen die Leute oft gar nicht zu realisieren, was sie singen. Im ersten Fall scheinen sie nicht zu realisieren, was ihnen entgeht. Dieses Buch ist ein Versuch, diese Trends umzukehren. Ich halte das für eine dringende Aufgabe.
Angenommen, die Psalmen wären verlorengegangen und niemals in irgendwelchen Bibeln oder Gebetsbüchern abgedruckt worden. Angenommen, sie würden dann in einer verblichenen, aber noch lesbaren Schriftrolle auftauchen, die von Archäologen in der Wüste Jordaniens oder Ägyptens entdeckt wurde. Was würde passieren? Nach ihrer Entzifferung und Übersetzung würden sie auf der Titelseite jeder Zeitung auf der ganzen Welt stehen. Viele Gelehrte aus vielen Fachbereichen würden über die Schönheit und den Inhalt dieser antiken Anbetungslieder und Gedichte staunen.
Die Psalmen gehören zu den ältesten Gedichten der Welt und sie können es immer noch mit jeder Poesie in jeder alten oder modernen Kultur überall auf der Welt aufnehmen. Sie sind voller Kraft und Leidenschaft, entsetzlichem Elend und unbändigem Jubel, voller zarter Sensibilität und kraftvoller Hoffnung. Wessen Herz offen ist für neue Dimensionen menschlicher Erfahrung, wer gute Literatur liebt, wer ein Fenster zu den hellen Lichtern und dunklen Ecken der menschlichen Erfahrung sucht - wer offen ist für den wunderschönen Ausdruck einer größeren Vision der Wirklichkeit, sollte auf diese Gedichte wie jemand reagieren, der seit ein oder zwei Wochen kein gutes Essen mehr hatte. Es ist alles vorhanden.
Überraschenderweise geht dieser Eindruck bei der Übersetzung nicht verloren. Die meiste Poesie leidet, wenn sie in eine andere Sprache übersetzt wird, denn sie ist in ihrer Wirkung vom Klang und Rhythmus der ursprünglichen Wörter abhängig. Es stimmt, dass das Hebräisch dieser Gedichte seine eigene Schönheit hat - für die, die dafür empfänglich sind. Aber die Wirkung der Psalmen hängt von der Art und Weise ab, auf die sie die Hauptthemen darstellen. Sie sagen etwas aus einer bestimmten Perspektive und wiederholen es dann aus einer etwas anderen Perspektive:

Der Himmel ist durch das Wort des HERRN gemacht
und all sein Heer durch den Hauch seines Mundes.
(Psalm 33,6)

Ich will meinen Mund auftun zu einem Spruch
und Geschichten verkünden aus alter Zeit.
(Psalm 78,2)
Ich gehe oder liege, so bist du um mich
und siehst alle meine Wege.
(Psalm 139,3)

Selbst wenn dies nicht Zeile für Zeile geschieht, geschieht es oft zwischen verschiedenen Abschnitten eines Psalms oder im Gleichgewicht der Sammlung als Ganzer oder eines Teils der Sammlung.
Der wichtige Punkt lautet an dieser Stelle, dass einige der wichtigsten Dinge, die wir sagen wollen, noch ein klein wenig jenseits unserer besten Wörter liegen. Der erste Satz ist ein Hinweis auf die tiefe Wirklichkeit; der zweite ein Hinweis von einem etwas anderen Standort aus gesehen. Der Leser ist eingeladen, beidem zu folgen und die größere, unausgesprochene Wahrheit zu sehen, die sich im Hintergrund abzeichnet. Das bedeutet: Die Wirkung kann in der Übersetzung nicht nur erhalten werden, sondern die Wirkung ist selber etwas von dem Tiefsten, was die Psalmen vollbringen, da sie klarmacht, dass die besten menschlichen Worte über sich hinaus auf Wirklichkeiten verweisen, die sogar hohe poetische Beschreibung übersteigen. (Etwas Ähnliches wird andernorts in der Bibel

Erscheint lt. Verlag 27.7.2015
Übersetzer Rainer Behrens
Sprache deutsch
Original-Titel The Case for the Psalms
Maße 125 x 187 mm
Gewicht 243 g
Einbandart gebunden
Themenwelt Religion / Theologie Christentum Moraltheologie / Sozialethik
Schlagworte Christlicher Glaube • Gedichte • Psalmen • Religion • Theologie • Theologie, Religion, Psalmen, Gedichte, christlicher Glaube
ISBN-10 3-86827-539-8 / 3868275398
ISBN-13 978-3-86827-539-1 / 9783868275391
Zustand Neuware
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