Tagebücher der Henker von Paris -  Henry Sanson

Tagebücher der Henker von Paris (eBook)

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2016 | 1. Auflage
681 Seiten
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978-3-7392-3299-7 (ISBN)
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Henry Sanson (15.2.1739 - 4.7.1806) war seit 1778 offizieller Henker von Paris und wurde als der 'Scharfrichter der Französischen Revolution' bekannt.

Henry Sanson (15.2.1739 - 4.7.1806) war seit 1778 offizieller Henker von Paris und wurde als der 'Scharfrichter der Französischen Revolution' bekannt.

Charles Sanson de Longval


Charles Sanson war zu Abbeville im Jahre 1635 geboren. Als er noch in der Wiege lag, starben ihm schon Vater und Mutter.

Er hatte einen schon 1624 geborenen, also elf Jahre älteren Bruder, Jean Baptiste Sanson.

Ein Bruder der Mutter, Pierre Brossier, Herr von Limeux, nahm die beiden Waisen zu sich. Seine Güte und Zärtlichkeit entschädigten sie für die Traurigkeit ihrer Lage. Er hatte eine Tochter, die Colombe hieß; seine beiden Neffen behandelte er ganz wie diese, nicht allein, was die Sorgfalt, mit der er sie umgab, anbetraf, sondern auch mit seiner väterlichen Liebe.

Colombe Brossier und Charles Sanson waren beinahe von demselben Alter. Die süße Kameradschaft der Kinder wurde durch die Bande des Blutes noch fester geschlossen und stellte gegenseitige Zuneigung zwischen ihnen her.

Jean Baptiste stand durch sein Alter seiner Kusine und seinem Bruder ferner. Sein Onkel hatte ihn für den Gerichtsstand bestimmt; das Studium ersetzte ihm also schon frühzeitig die Kinderspiele; er begann die Tiefen des Rechts zu ergründen, als die anderen beiden fast noch stammelten und ihre ersten Zärtlichkeitsbezeigungen austauschten.

Diese Zuneigung wuchs mit ihnen, aber es kam der Tag, an dem sie begriffen, dass sie sich einen süßeren Namen geben müssten als den von Bruder und Schwester.

Ihre Freundschaft war Liebe geworden.

Diese Liebe hatten weder Pierre Brossier noch Jean Baptiste entstehen sehen; keiner von ihnen dachte daran, dass sie zur Leidenschaft geworden sei.

Für sie waren Colombe und Charles noch immer Kinder; sie beurteilten die Gefühle, welche die beiden jungen Leute füreinander kundgaben, nur nach deren Alter.

Indessen kündigte Pierre Brossier eines Sonntags nach dem immer etwas feierlichen Mahle, das zwischen der Messe und der Vesper stattfand, seiner Tochter an, dass er tags zuvor für Jean Baptiste die Stelle eines Rates beim Landgerichte zu Abbeville erhalten habe.

Colombe und Charles wollten den neuen Rat beglückwünschen, aber Pierre Brossier gab ihnen ein Zeichen, dass er noch nicht zu Ende sei, und fügte hinzu, es scheine ihm gut, dass Jean Baptiste sich verheirate, ehe er sein Amt anträte.

Ohne ein Wort miteinander gewechselt zu haben, warfen sich die beiden jungen Leute den angstvollen Blick zweier armen Gazellen zu, die das Blei des Jägers gleichzeitig tödlich getroffen hat; eine düstere Ahnung erfasste sie, und sie zitterten, den Beschluss des Greises zu hören; die Pausen, die dieser zwischen allen seinen Worten machte, schienen ihnen ebenso viel Jahrhunderte.

Pierre Brossier hatte kaum geendet, so stand das junge Mädchen auf, schützte ein plötzliches Unwohlsein vor und floh in ihre Kammer, wo sie ihren Tränen, die sie im ersten Augenblick zu ersticken gedroht hatten, freien Lauf ließ. Der Vater setzte dieses plötzliche Verschwinden auf Rechnung ihrer tiefen Bewegung, die bei einem so unschuldigen Kinde, das zum ersten Male das Wort Hochzeit aussprechen hört, sehr natürlich war.

Einige Worte, die Charles mit Colombe wechseln konnte, und das Fieber, das die ganze Nacht hindurch das Blut des Jünglings in Wallung setzte, gaben ihm einen Teil seiner Energie zurück.

Am folgenden Morgen harrte er ungeduldig auf die Stunde, zu der sein Bruder gewöhnlich ausging, und suchte dann seinen Onkel auf, der sein Frühstück an dem Kamin im niedrigen Saale einnahm, in welchem man auch zu Mittag speiste. Er warf sich dem edlen Manne zu Füßen und gestand ihm mit einem Ausdrucke, der einen Stein gerührt haben würde, die Liebe zu seiner Kusine; er beschwor ihn, die nicht zu trennen, die Gott so auffällig füreinander bestimmt habe.

Während Charles sprach, goss Pierre Brossier sein braunes Bier aus der Zinnkanne in seine Tasse und trank es in kleinen Zügen.

Er hatte eben eine neue Tasse ausgetrunken, als er plötzlich den ihn stets charakterisierenden Ernst verlor und so laut und heftig zu lachen begann, dass er sich verschluckte. Auf dieses Lachen folgte ein starker Husten, durch den noch immer die Heiterkeit hervorbrach, der aber auch schmerzlich genug sein musste, um dem alten Manne ein ängstliches Schlucken zu verursachen.

Charles war ganz betroffen.

Aber seine Gefühle waren zu leidenschaftlich, um lange Zeit unterdrückt werden zu können. Er begann von neuem mit seinen Klagen und suchte seinen Onkel dadurch zu rühren, dass er ihm bemerklich machte, welche Folgen das Unglück, das sich vorbereitete, haben könne. Er berief sich auf das Andenken der vielgeliebten Schwester des Greises, er rief ihren Schatten an, er möge mit ihm nicht allein für das Glück, sondern auch für das Leben seines Kindes bitten.

Der Herr von Limeux stellte das Altersrecht ebenso hoch, als es nur ein Sire von Concy, wenn es damals noch solche gegeben haben würde, hätte treiben können.

Er war kein schlechter Mensch, aber er hatte die Leidenschaft niemals gekannt und fand es ganz logisch, zu leugnen, was er selbst nicht kannte. Für ihn hatte das Leben ein gewisses Programm, das alle Zufälle von Wichtigkeit im Voraus berechnete; er war fest überzeugt, dass es nur Gott allein zustehe, etwas daran zu ändern.

Charles' Dringen auf ihn verletzte seine Gefühle; er hörte auf zu lachen und sprach zu seinem Neffen mit einer Strenge, an die er ihn nicht gewöhnt hatte. Er sagte ihm, dass man in seinem Alter und in seiner Lage daran denken müsse, sich eine Existenz dadurch zu begründen, dass man dem Könige diene, und nicht, sich zu bereichern, indem man eine Frau nähme. Er setzte hinzu, dass, wenn er auch nicht beschlossen hätte, seine Tochter an den ältesten seiner Neffen zu verheiraten, an den, welchen die Vorsehung bestimmt habe, sein Geschlecht fortzuführen, nichts in der Welt ihn vermögen könne, jene einem Kadetten zu geben. Er warf ihm auf harte Weise seine Undankbarkeit vor.

Charles erhob sich schwankend und ging gesenkten Hauptes aus dem Saale.

Hinter der Tür des Korridors erblickte er eine weibliche Gestalt, die auf den Steinen saß.

Es war Colombe, welche die Unterhaltung ihres Vaters und dessen, den sie liebte, belauscht hatte und jetzt, das Gesicht in ihre Hände verbergend, bitterlich weinte.

Als sie den Schritt ihres Freundes hörte, erhob sie den Kopf nicht; Charles ging, ganz seiner Verzweiflung hingegeben, schweigend an ihr vorüber.

Beide hatten begriffen, dass für sie alles in dieser Welt zu Ende sei.

Der junge Mann verließ sogleich das Asyl seiner Kindheit; er floh zu einem Verwandten, der in Amiens wohnte, und ging von da nach Paris. Aber in Paris befand er sich noch in gar zu großer Nähe Colombes.

Als der Tag, der für die Hochzeit Jean Baptistes und Colombes festgesetzt war, näher herankam, fürchtete er, in dem Kampfe zwischen Liebe und Pflicht den Verstand zu verlieren.

In einem dieser niederdrückenden Augenblicke, die der Krise, in der sich seine Verzweiflung zum Paroxismus gesteigert hatte, folgten, ergriff ihn Furcht.

Er beschloss, bis an das Ende der Welt zu gehen, um sich der Verführung zu entziehen, gegen die ihn der Gedanke, dass Colombe einem anderen angehöre, so schwach machte.

Er glaubte, das Gespenst, das ihn weder Tag noch Nacht verließ, würde verschwinden, wenn er die Luft nicht mehr atmete, die sie atmete, wenn er nicht mehr Wesen sähe, die ihn an ihre Züge erinnerten, nicht mehr die klangvolle Sprache hörte, die sie redete; er glaubte, dass die Entfernung auch Vergessenheit mit sich bringe und dass er jenseits der Meere sein Herz wiederfinden werde, das er ihr streitig machen konnte.

Er beschloss also, sich einzuschiffen.

Als er seinen Namen genannt hatte, nahm ihn der Großadmiral von Frankreich unter die Zahl der Flaggengarden Seiner Majestät Marine auf; er reiste auf der Stelle nach Rochefort, bat um den Befehl zur Einschiffung und ging wenige Tage nach seiner Ankunft in dieser Stadt nach Kanada unter Segel. In Quebeck fand er eine Schwester seines Vaters wieder, deren Haus sich ihm öffnete.

Aber weder die unwiderstehlichen Zerstreuungen, welche die Neue Welt einer so frischen Einbildungskraft darbot, noch der herzliche Empfang, den er bei seiner Tante fand, noch die Freundschaft, die ihm sein Cousin Paul Bertaut mit dem naiven Vertrauen seines jugendlichen Alters zutrug, konnten in dem traurigen Zustande seines Herzens eine Änderung hervorbringen.

Als er zum zweiten Male nach Toulon zurückkehrte, fand er dort einen Brief, der ihn schon erwartet hatte.

Dieser Brief war von Colombe, und Colombe rief ihn unverzüglich zu sich.

Er ließ sich kaum die Zeit, Urlaub zu nehmen, und reiste ab. Während dieser Reise wurde er von den verschiedensten Vermutungen beunruhigt.

Colombes Brief war kurz; er konnte zu der Annahme berechtigen, dass sie ein großes Unglück betroffen habe; sie sprach darin gar nicht von seinem Bruder.

War Jean Baptiste tot?

Eine Sekunde der Überlegung reichte hin, dieses blendende Zauberbild zu zerstören.

Sollte er sie auch als Witwe finden, sollte er sie auch frei finden, diese für ihn in der Welt allein geheiligte Frau – er hatte das Recht verloren, nach ihrer Hand zu streben, und er dachte mit Schrecken daran, dass, nachdem er die Eifersucht auf einen Bruder kennengelernt habe, er vielleicht auch noch die auf einen Fremden werde ertragen lernen müssen.

Man brauchte damals beinahe fünf Wochen, um von Toulon nach Abbeville zu kommen. Charles reiste Tag und Nacht und legte den Weg in zwölf Tagen zurück.

Sobald er am Horizonte den Glockenturm erblickte, der in den Strahlen der untergehenden Sonne glänzte, und das rote Ziegeldach, aus dem er sich erhob, stieg er vom Pferde und warf sich auf die Knie.

Er wollte beten, aber er fand kein Wort, um Gott zu...

Erscheint lt. Verlag 18.1.2016
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Geschichte
ISBN-10 3-7392-3299-4 / 3739232994
ISBN-13 978-3-7392-3299-7 / 9783739232997
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