Geschichte im politischen Raum (eBook)

Theorie - Praxis - Berufsfelder

(Autor)

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2016 | 1. Auflage
196 Seiten
UTB (Verlag)
978-3-8463-4619-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Geschichte im politischen Raum -  Hilmar Sack
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Geschichte ist nirgends interessanter als da, wo sie politisch relevant wird. Erinnerungskultur ist immer (auch) eine Aufgabe staatlicher Kulturpolitik. Geschichtspolitik wiederum ist Gegenstand der Wissenschaft. Beide Aspekte werden in diesem Lehrbuch beleuchtet, das in akademische Forschungsfragen einführt, kulturpolitische Handlungsfelder benennt und praxis- wie berufsrelevante Hinweise gibt. Thematisiert werden u. a. Feier- und Gedenktage, Gedenkstätten, Museen und Denkmale, außerdem die großen geschichtspolitischen Debatten, die juristische und politische Aufarbeitung der doppelten Diktaturerfahrung sowie die politisch-historische Rede. Ein Gespräch über Geschichtspolitik in den Medien beschließt den Band, der sich vorrangig an Bachelor- und Masterstudenten richtet.

Dr. Hilmar Sack war bis 2007 im Deutschen Bundestag wissenschaftlicher Mitarbeiter der Enquete-Kommission 'Kultur in Deutschland', betraut u.a. mit den Themen Museen und Stiftungen. Er arbeitet seit Jahren zu Fragen der Erinnerungskultur und des Museumswesens.

Dr. Hilmar Sack war bis 2007 im Deutschen Bundestag wissenschaftlicher Mitarbeiter der Enquete-Kommission "Kultur in Deutschland", betraut u.a. mit den Themen Museen und Stiftungen. Er arbeitet seit Jahren zu Fragen der Erinnerungskultur und des Museumswesens.

1 Einleitung
2 Erinnerungskultur: Leitbegriff in Wissenschaft und Gesellschaft5
2.1 Von der Sehnsucht nach Geschichte in Zeiten globalen Wandels5
2.2 Dreiklang der geschichtswissenschaftlichen Gedächtnisforschung:
Kollektives, kommunikatives und kulturelles Gedächtnis9
2.3 Zur Relevanz politischer Mythen12
2.4 Geschichtspolitik und Geschichtsgefühl18
2.5 Kein Recht auf Vergessen? Und wo bleibt die Zukunft?21
3 Zur Zukunft des Gedenkens – neue Herausforderungen der Geschichtspolitik25
3.1 Das Ende der NS-Zeitzeugenschaft25
3.2 Erinnern in Zeiten von Europäisierung und Globalisierung29
3.3 Erinnern in der Einwanderungsgesellschaft34
4 Deutsche Geschichtsbezüge und die großen geschichtspolitischen Debatten41
4.1 Geschichtsbezüge41
4.2 Geschichtsdebatten55
5 Politische Symbolik: Von Verfassung, Hoheitszeichen und Architektur65
6 Erinnern und Gedenken als kulturpolitisches Handlungs- und Berufsfeld75
6.1 Von der Vergangenheitsbewältigung zur Aufarbeitung75
6.1.1 Begriffsbestimmung75
6.1.2 Fallbeispiel: Die politische Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit78
6.2 Grundlagen und Akteure deutscher Kulturpolitik83
6.3 Das Gedenkstättenkonzept des Bundes89
6.4 Nationalfeiertag und Gedenktage92
6.5 Arbeiten am authentischen Ort: Die Gedenkstätte106
6.6 Forschungseinrichtungen, Museen und außerschulische Bildungsträger110
6.7 In Stein gemeißeltes Erinnern: Deutsche Denkmalspolitik115
7 "Auch Reden sind Taten": Geschichte in der politischen Rhetorik131
7.1 Politische Reden und die Rolle von Geschichte131
7.2 Gelungene, misslungene und überhörte Reden: Drei Fallbeispiele137
7.3 Redenschreiben ist keine Wissenschaft – aber eine Kunst146
7.4 Redenschreiben als Beruf149
8 Geschichtspolitik und Medien155
9 Glossar161
10 Wichtige Institutionen, Ansprechpartner, Zeitschriften und Links163
11 Literatur167
12 Personen- und Sachregister185
13 Abbildungsnachweis190

2 Erinnerungskultur: Leitbegriff in Wissenschaft und Gesellschaft


2.1 Von der Sehnsucht nach Geschichte in Zeiten globalen Wandels


„Die Suche nach der Erinnerung hat eingesetzt“, verkündete 1982 ein Sammelband über Geschichte und demokratische Identität in Deutschland (Ruppert 1982, 9). Was damals vermeintlich erst begann, gehört heute unbestritten zu den prägenden Zeittendenzen: die Hinwendung zur Vergangenheit. Das Erinnerungspostulat ist so allgegenwärtig, dass sich kaum mehr vorstellen lässt, dies sei einmal anders gewesen. Doch tatsächlich bedurfte es dazu eines tiefgreifenden Mentalitätswandels. Zuvor hatte eher der Begriff „Geschichtslosigkeit“ (Heimpel 1957, 4) das gesellschaftliche Klima in der Bundesrepublik bestimmt. Mit dem Zivilisationsbruch zwischen 1933 und 1945 schien die Brücke zur nationalen Vorgeschichte abgebrochen – ein Eindruck, der sich mit der Fixierung auf die nationalsozialistische Diktatur im Generationenkonflikt der 1960er Jahre und durch die intensivierte Aufarbeitung dieser Epoche in der Folge zunächst noch verstärkte.

 

Heute sagt Paul Nolte hingegen: „So viel Geschichte war selten“ (Nolte 2003, 24). Der Trend wechselte rasant von der „Geschichtsvergessenheit“ zur „Geschichtsversessenheit“ (Assmann/Frevert 1999). Erinnern wurde zu einer gesellschaftlichen Leitinstanz und „Erinnerungskultur“ (→ Glossar) avancierte zum dominierenden Begriff in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft – mit ihr weitete sich das Interesse auf andere Epochen der Geschichte, auch wenn die NS-Aufarbeitung in Deutschland geschichtspolitisch stets im Mittelpunkt blieb. Numerisch lässt sich das historische Interesse, das über Wissenschaft, Feuilleton und Politik hinaus längst in der Breite der Gesellschaft anzutreffen ist, an der hohen Zahl von Museen ablesen. Binnen weniger Jahrzehnte wuchs sie in Deutschland um ein Drittel auf heute weit über 6000. Neben zahlreichen von Vereinen getragenen kleineren Dorfmuseen und Heimatstuben ziehen Ausstellungen großer staatlicher Museen als gesellschaftliches Ereignis regelmäßig die Massen an. Daneben folgen seit den 1970er Jahren viele historisch interessierte Bürger in lokalen Geschichtswerkstätten dem Aufruf: „Grabe, wo Du stehst!“ Parallel zu diesen Formen gewissenhafter (wissenschaftlicher) Aufarbeitung der Vergangenheit hat sich das ‚Histotainment‘ entwickelt, das vom aufwendig inszenierten Ritterspektakel über das Computerspiel bis zur interaktiven App fester Bestandteil der Tourismus- und Unterhaltungsindustrie geworden ist. Geschichte erweist sich obendrein als film- und fernsehtauglich, sogar als quotenstark. Auf den Bestsellerlisten erscheinen historische Romane, dazu Biographien und Memoiren. Magazine füllen regelmäßig ihre Titelgeschichten mit Serien zu historischen Ereignissen und Persönlichkeiten. Selbst vor der Wirtschaft und ihren Unternehmen macht der Trend nicht Halt: „Zukunft braucht Herkunft“ – Odo Marquards Kurzformel zur nachhaltigen Bedeutung der Vergangenheit für Gegenwart und Zukunft (Marquard 2003) ist bis in die Etagen der Marketingabteilungen vorgedrungen. Als eingängiger ‚Claim‘ legitimiert sie hier in Abgrenzung zu klassischen Kommunikationsmaßnahmen eine populäre, spezifisch historische Ausrichtung von Werbung und Marketing.

 

History rules – and sells. Was hat diesen Paradigmenwechsel bewirkt? Die Forschung verweist auf mehrere Prozesse, die seit den 1970er Jahren zu einer „grundlegenden mentalitätsgeschichtlichen Wende“ geführt haben (Cornelißen 2003, 553; zum Folgenden vor allem auch Schmid 2009c, 56ff.). So sei mit der ersten großen Energie- und Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit der Fortschrittsglaube aus der Gründungsära verloren gegangen. Mehr noch: Neue soziale und ökologische Bewegungen, die die ‚Grenzen des Wachstums‘ und soziale Ungerechtigkeiten in einem globalen Rahmen problematisierten, hätten den planvollen Zukunftsoptimismus der Moderne grundsätzlich in Frage gestellt. An seiner Stelle seien Skepsis und Krise getreten. Überdies sei es nach den ideologischen ‚Sechzigern‘ zu einer Abkehr von politischen Utopien gekommen, habe etwa der Marxismus, nicht zuletzt angesichts der ernüchternden Erfahrung mit dem realexistierenden Sozialismus, an Strahlkraft verloren. Orientierung versprach man sich nun weniger von Ideologien und ihren Zukunftsentwürfen, sondern vom Blick zurück: von den Erfahrungen der Vergangenheit. Nach der Wende 1989/90 beschleunigte sich zudem ein in jeder Hinsicht grenzenloses Phänomen gesellschaftlichen Wandels: die Globalisierung. Rasante technische Neuerungen, insbesondere auf dem Feld der Kommunikationsmittel, ließen die Welt zum Dorf schrumpfen. Nationale Ereignisse bekommen heute globale Bedeutung, Entwicklungen in weiter Ferne nehmen unmittelbar Einfluss auf das eigene Land. Dies führt nicht nur zwangsläufig zur Universalisierung der Erinnerung an historische Ereignisse (→ Kapitel 3.2). Die Komplexität der Welterfahrung lässt in einer Gegenreaktion zugleich auch lokale und regionale Traditionen an Bedeutung gewinnen. Mit dem Fall des ‚Eisernen Vorhangs‘ und der Wiedervereinigung erfuhr zudem die Nation als identitätsstiftender Rahmen einen Bedeutungszuwachs, jedenfalls in Deutschland und in den jungen mittelost- und osteuropäischen Demokratien. Konträr zum zeitlich parallel verlaufenden europäischen Einigungsprozess wurden verschüttete nationale Traditionen neu in den Blick genommen. Und noch etwas nährte das Interesse an der Vergangenheit: Die untergegangene DDR forderte nach Aufarbeitung (so wie die alte Bundesrepublik nach Historisierung). Gleichzeitig vergegenwärtigten sich ehemalige DDR-Bürger in wiederkehrenden nostalgischen Schüben ihrer Alltagserfahrungen jenseits von Diktatur und Staatssicherheit – heftige politische Kontroversen darüber inbegriffen.

 

Der Antiquitäten- und Flohmarktboom in Deutschland, die Rekonstruktionen ganzer Bauensembles oder die politische Idee der UNESCO-Weltkulturerbestätte: Sie alle sind Ausdruck von gesellschaftlichen Musealisierungsprozessen. Was liegt diesem Großtrend zugrunde? Aufschlussreich ist die Kompensationstheorie eines Kreises liberalkonservativer Denker um Joachim Ritter (19031974), unter ihnen Hermann Lübbe und Odo Marquard (19282015) (siehe Hacke 2006). Die sich von Tradition und Vergangenheit entfremdende Moderne entwickelt demnach eine paradoxe Eigendynamik, indem sie selbst wieder die Beschäftigung mit der Vergangenheit produziere. Nur so seien die beschleunigten Modernisierungsprozesse, die ja erst zur Geschichtslosigkeit geführt hätten, auszuhalten (Lübbe 1982, 18). Als diagnostischer Erklärungsansatz für die dynamische Hinwendung zur Vergangenheit ist diese Theorie einleuchtend und bis heute wirkmächtig. Widerspruch löst hingegen aus, sie normativ zu begreifen. Den Geisteswissenschaften und den kulturellen Akteuren würden dann nämlich, so lautet die Kritik, nur eine gesellschaftsstabilisierende Funktion zufallen, indem sie – ökonomische und soziale Defizite ausgleichend – „Modernisierungsschäden“ (Marquard 1986, 105) kompensierten.

Infobox
UNESCO-Weltkulturerbe

1972 verabschiedete die Generalkonferenz der UNESCO in Paris die „Internationale Konvention zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt“. Stätten von „außergewöhnlichem universellen Wert“ stehen seitdem unter der Obhut der gesamten Menschheit. Die Unterzeichner (die Bundesrepublik trat 1976 bei) verpflichten sich dazu, diese ausgewählten Orte im eigenen Land zu pflegen und für die Nachwelt zu erhalten. In Deutschland sind heute 41 Natur- und Kulturdenkmale (Stand: Herbst 2016) auf der Welterbeliste der UNESCO verzeichnet. Das Spannungsverhältnis von moderner Stadtentwicklung und Schutz des Welterbes zeigten in der jüngeren Vergangenheit die heftigen Debatten um die Bebauung am Kölner Dom und um die Waldschlösschenbrücke im Dresdner Elbtal.

Mit dem gesellschaftlichen Bedeutungsgewinn der Vergangenheit verband sich ein gewachsenes Bewusstsein für die Geschichte als Politikum. Wer sich politisch auf Vergangenes bezieht, strebt in der Regel nach Sinnstiftung, ihm geht es um Identität, um Bindungen und...

Erscheint lt. Verlag 21.11.2016
Reihe/Serie Public History - Geschichte in der Praxis
Public History – Geschichte in der Praxis
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Geschichte Allgemeines / Lexika
Schlagworte Erinnerung • Erinnerungskultur • Geschichte • Geschichte erleben • Geschichtsbewusstsein • Holocaust-Denkmal • Kulturpolitik
ISBN-10 3-8463-4619-5 / 3846346195
ISBN-13 978-3-8463-4619-8 / 9783846346198
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