Das sprachbegabte Tier (eBook)

Grundzüge des menschlichen Sprachvermögens
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2017 | 1. Auflage
655 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75114-5 (ISBN)

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Das sprachbegabte Tier -  Charles Taylor
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Seit Jahrhunderten wird in der Philosophie über die Natur der Sprache gestritten. Für die rationalistisch-empiristische Tradition in der Folge von Hobbes, Locke und Condillac ist sie ein Werkzeug, das Menschen erfunden haben, um Informationen auszutauschen. In seinem neuen Buch bekennt sich Charles Taylor zum gegnerischen Lager der Romantik um Hamann, Herder und Humboldt und zeigt, dass der rationalistisch-empiristische Ansatz etwas Entscheidendes übersieht: Sprache beschreibt nicht bloß, sie erschafft Bedeutung, formt alle menschliche Erfahrung und ist integraler Bestandteil unseres individuellen Selbst.

Taylor geht jedoch noch einen Schritt über das Denken der deutschen Romantik hinaus und entwirft eine umfassende Theorie der Sprache im Sinne des linguistischen Holismus: Sprache ist ein geistiges Phänomen, aber sie kommt auch in künstlerischen Darstellungen, Gesten, Stimmen, Haltungen zum Ausdruck und kennt daher keinen Gegensatz von Körper und Geist. Indem er dieses grundlegende Vermögen des »sprachbegabten Tiers« erhellt, wirft Taylor ein neues Licht darauf, was es heißt, ein Mensch zu sein.



<p>Charles Taylor ist emeritierter Professor f&uuml;r Philosophie an der McGill University in Montreal und einer der einflussreichsten Sozialphilosophen der Gegenwart. Geboren 1931 in Kanada, studierte er an der McGill University und an der Universit&auml;t Oxford, wo er 1961 seinen Ph.D. erwarb. Danach kehrte er nach Montreal zur&uuml;ck und lehrte dort bis zu seiner Emeritierung politische Philosophie. Er hat bahnbrechende Studien vorgelegt, u.a. zu Hegel sowie zum Kommunitarismus, S&auml;kularismus und Multikulturalismus. Charles Taylor nahm Gastprofessuren u.a. an den Universit&auml;ten von Oxford, Princeton, Berkeley, an der J.W. Goethe-Universit&auml;t Frankfurt und der Hebrew University Jerusalem wahr. 1997 erhielt er den Hegel-Preis der Stadt Stuttgart und 2007 den Templeton-Preis (f&uuml;r <em>Ein s&auml;kulares Zeitalter</em>), 2008 wurde er f&uuml;r sein Lebenswerk mit dem Kyoto-Preis ausgezeichnet, der als &raquo;Philosophie-Nobelpreis&laquo; gilt. Charles Taylor war zudem Mitglied der britischen Labour-Partei und kandidierte f&uuml;r das kanadische Unterhaus.</p>

Charles Taylor ist emeritierter Professor für Philosophie an der McGill University in Montreal und einer der einflussreichsten Sozialphilosophen der Gegenwart. Geboren 1931 in Kanada, studierte er an der McGill University und an der Universität Oxford, wo er 1961 seinen Ph.D. erwarb. Danach kehrte er nach Montreal zurück und lehrte dort bis zu seiner Emeritierung politische Philosophie. Er hat bahnbrechende Studien vorgelegt, u.a. zu Hegel sowie zum Kommunitarismus, Säkularismus und Multikulturalismus. Charles Taylor nahm Gastprofessuren u.a. an den Universitäten von Oxford, Princeton, Berkeley, an der J.W. Goethe-Universität Frankfurt und der Hebrew University Jerusalem wahr. 1997 erhielt er den Hegel-Preis der Stadt Stuttgart und 2007 den Templeton-Preis (für Ein säkulares Zeitalter), 2008 wurde er für sein Lebenswerk mit dem Kyoto-Preis ausgezeichnet, der als »Philosophie-Nobelpreis« gilt. Charles Taylor war zudem Mitglied der britischen Labour-Partei und kandidierte für das kanadische Unterhaus. Joachim Schulte ist Autor mehrerer Bücher über Ludwig Wittgenstein und Mitherausgeber der Kritischen Editionen von Wittgensteins Hauptwerken.

2 Wie sich die Sprache entwickelt


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102Mit seiner Kritik an Condillac wird Herder also zum Begründer der Konstitutionstheorien; zumindest bricht er eine Lanze für diese Theorien. Allerdings liegt eine gewisse Ironie in der Sache, auf die jene Kritiker nicht hinzuweisen versäumen, die (wie etwa Hans Aarsleff[1]) Herders Status als Neuerer in Frage stellen. Denn obwohl sich Herder über Condillacs Erklärung des Ursprungs der Sprache mokiert, gelingt es ihm selbst kaum besser, diese Aufgabe zu erfüllen. In der von Herder erzählten Entstehungslegende prägt ein Mensch unversehens einen Ausdruck für ein Schaf, und zwar in dem Augenblick, in dem ihm eine bestimmte kriteriale Eigenschaft dieser Tierart – nämlich ihr Blöken – zum Bewußtsein kommt. Demnach bringt der ursprüngliche Erfinder der Sprache plötzlich (an die eigene Adresse gerichtet) diese Einsicht zum Ausdruck, indem er (innerlich das Schaf ansprechend) die folgende Wendung gebraucht: »Ha! du bist das Blökende!« Das sagt er im Selbstgespräch, denn Herder nennt dieses »erste Wort« ein »Wort der Seele«.

Die rein innerliche und monologische Natur dieses Tuns 103läuft Einsichten zuwider, die Herder an anderen Stellen seines Werks äußert, wo es um das Gebärdenhafte und Dialogische der Sprache geht. Aber davon abgesehen, reicht Herders großer Schritt – der Hinweis auf die neue Dimension der Besonnenheit – als solcher nicht aus, um die von Condillac gestellte Frage zu beantworten. Der mokante Ton bezieht sich auf Condillacs (für Rahmentheorien typische) Annahme, der erste Schritt auf dem Weg in die Sprache sei klein und daher unproblematisch. Nach Condillac mußten die Menschen lediglich dahin gelangen, ein reaktives (natürliches) Zeichen als Wort (und mithin als instituiertes Zeichen) für das auslösende Moment zu verwenden – und er sagt das so, als wäre das ein Klacks, dabei ist es ein gewaltiger Sprung. Daß man ein Zeichen als Wort für etwas begreift, setzt voraus, daß man sich in der sprachlichen Dimension aufhält; daher besteht die eigentliche Herausforderung in der Beantwortung der Frage: Wie ist dieser Wandel zustande gekommen? Jede Theorie über den Ursprung der Sprache muß sich dieser Herausforderung stellen, aber Condillac duckt sich einfach weg. Daher der mokante Ton Herders, der zwar auch keine überzeugende Antwort geben kann, aber immerhin zur Klärung dessen beiträgt, was erklärt werden muß: die Entstehung einer sprachlichen Dimension in der Welt einiger Hominiden.

Nun, wie erklärt man eine solche Entwicklung? Leicht ist es nicht, und vielleicht wird es niemals in befriedigendem Maße gelingen, und sei es nur darum, weil wir nie imstande sein werden, die genaue Abfolge der Ereignisse in vorpaläolithischer Zeit zu rekonstruieren. Andererseits sind wir durchaus dazu in der Lage, einige mehr oder weniger gut begründete Vermutungen anzustellen und auf diese Weise eine gewisse Vorstellung von den Wegen zu vermitteln, auf denen die Sprache in unser Repertoire Eingang gefunden hat.104

Was uns dabei hilft, ist ein Blick auf ein Gebiet, das wir tatsächlich untersuchen können, nämlich die Entwicklung des Sprachvermögens in der Ontogenese. Diesem Thema wollen wir uns nun zuwenden.

2


Werfen wir also einen Blick auf die Ontogenese der Sprache, um auf diese Weise aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten, was Sprache überhaupt ausmacht. Das erste offenkundige Faktum ist der Umstand, daß Kinder nur dadurch zu Sprechern werden können, daß man ihnen die Sprache beibringt. Das heißt, sie müssen die Sprache von einer Gemeinschaft oder einer Familie, die sich um sie kümmert, übernehmen, also von einer Gemeinschaft, deren Angehörige miteinander und mit den Kindern reden. Ist diese Bedingung nicht erfüllt, kommt das menschliche Sprachvermögen nicht zur Entfaltung. Unter solchen Umständen können die Kinder nicht sprechen, wie aus gelegentlich vorkommenden Fällen »wilder« Kinder zu ersehen ist, die von Tieren erzogen wurden. Außerdem fehlen ihnen alle Fähigkeiten, die mit der Sprache einhergehen. Die berühmten Erinnerungen Helen Kellers bezeugen die sprunghafte Zunahme der Verständnisfähigkeiten und sonstiger Möglichkeiten, die in ihrem Fall die Einführung in die Sprache begleiteten.[2] Es kann auch passieren, daß die Entwicklung des Sprachvermögens unterbleibt oder nur in eingeschränkter Form vonstatten geht, sofern die 105Möglichkeiten des Kindes, sich mit anderen zu verständigen, eingeschränkt sind, wie es beispielsweise in Situationen der Fall ist, die gern mit dem Wort »Autismus« beschrieben werden.

Aber wenn man einmal von dieser allgemeinen Bedingung des Spracherwerbs absieht, scheint es auch so zu sein, daß Kinder besonders effektiv neue Wörter lernen, wenn sie sich wirklich mit den Eltern oder anderen Betreuern unterhalten. Hier ist ein Wort wie »Gespräch« vielleicht zu schwach. Bei den Unterhaltungen, um die es geht, handelt es sich um häufig gleichsam ritualisierte Phasen geteilter Aufmerksamkeit, in denen sich das Kind und die Eltern auf dasselbe Spiel oder dieselbe Aktivität konzentrieren. Hier ist das neu eingeführte Wort das Wort für den hervorstechenden Gegenstand im gemeinsamen Brennpunkt der betreffenden Aktivität, beispielsweise »Puppe«, wenn wir gerade mit einer Puppe spielen, oder »Schaukel«, wenn wir gerade zusammen schaukeln. Im Hinblick auf diese wiederholten Augenblicke gemeinsamer Aufmerksamkeit spricht Bruner von »Formaten«, in deren Rahmen Eltern und Kind gemeinsam mit einer Aufgabe (wie Anziehen oder Baden) befaßt sind oder rein spielerisch zusammen handeln. Auf diese Weise kommt es zu einer Situation der gemeinsam fokussierten Aufmerksamkeit, ohne die das Lernen gar nicht stattfände.[3]

Ein entscheidender Teil der Heranführung des Kinds an die Sprache erfolgt durch solche Formen der Unterhaltung und des Austauschs. Allerdings ist diese Situation der gemeinsamen Aufmerksamkeit de facto längst hergestellt, ehe das Kind zu sprechen bereit ist. In dem mehr oder weniger 106das erste Lebensjahr umfassenden Zeitraum vor Beginn des Spracherwerbs haben Kind und Eltern bereits wechselseitige Bindungen hergestellt, und zwar hauptsächlich durch solche Rituale, mit Bezug auf die manche Autoren von Protokonversationen sprechen: einander anlächeln, zusammen lallen und glucksen, dem Kind vorspielen, daß man ihm in die Hände oder Füße beißt, den Schmerz »wegpusten«, es wiegen und in den Schlaf singen und so weiter.

Im Grunde ist diese Art der Bindung ein für die Entwicklung des Kindes und sogar für sein körperliches Wachstum ausschlaggebender Faktor. Werden die Kinder – wie es etwa in manchen Waisenhäusern geschieht – dieser Form der emotionalen Verbindung mit einer betreuenden Person beraubt, verkümmern sie. Infolgedessen ist dieser Kontakt wesentlich für die emotionale Entwicklung des Kinds. Tatsächlich beginnen Kinder sehr früh damit, inständig nach diesem Kontakt zu verlangen, der daher in den Brennpunkt des frühkindlichen Gefühlslebens rückt.

Aber solche Interaktionen geben diesem Leben auch seine Form. Indem die Eltern auf die Bedürfnisse des Kinds nach Nahrung, Schmerzstillung und Zuneigung reagieren, helfen sie ihm, die eigenen Wünsche und die Möglichkeiten ihrer Erfüllung zu identifizieren. Empfindungen, die sich sonst in Stürme der Enttäuschung verwandeln würden, werden ein bestimmter Zweck und eine erkennbare Möglichkeit der Abhilfe zugeordnet.[4] Die Eltern vermitteln dem Kind so etwas 107wie eine Protointerpretation seiner Wünsche sowie Einsicht in die Ursache seiner Betrübnis und die Möglichkeiten der Tröstung. Man könnte sogar behaupten, diese Art der Beherrschung explosiver Gefühle durch Formgebung werde zunächst durch die Zweierbeziehung zwischen Elternteil und Kind bewerkstelligt und entwickle sich erst später zu einem Bestandteil des Repertoires, das dem Kind allein zugeschrieben werden kann.

Diese Formgebung betrifft aber nicht nur organische Bedürfnisse. Das Kind sehnt sich außerdem nach Nähe und Gemeinsamkeit. In seinem Austausch mit den Eltern kann es immer deutlicher erkennen, daß es ihm eigentlich darum geht, und außerdem kann es erkennen, durch welche Rituale der Gemeinsamkeit es zur Beschwichtigung oder Erfüllung seines Verlangens kommen kann. Es lernt eine Gebärdensprache der Liebe, des besitzlosen Begehrens und der anschließenden Beruhigung. Das prägt die weitere Entwicklung des Kinds. Fehlt diese Art der Protointerpretation, tendiert das Kind zu explosiven Begierden und Emotionen, die zutiefst verstörend und dennoch formlos – das heißt: ohne klares Ventil oder Hoffnung auf Erfüllung – wirken. Im allgemeinen ersticken diese Gefühle zum Schluß in Apathie und Niedergeschlagenheit.[5] Das weist natürlich auf Erfahrungen voraus, die man in sehr viel späteren Stadien des Lebens machen kann, beispielsweise im Zusammenhang einer strukturlosen und wirren Sehnsucht. Aber unsere Fähigkeit oder Unfähigkeit, damit zurechtzukommen, wird wahrscheinlich von diesen Kindheitserfahrungen geprägt und beeinflußt.108

Dieser frühe gemeinsame Austausch und das Herstellen emotionaler Bindungen sind nicht nur im Hinblick auf die Sprache, sondern auch für die menschliche Entwicklung überhaupt ausschlaggebend.[6] Und dennoch ist bereits hier eine unmittelbare Verbindung zur Sprache erkennbar. Greenspan und Shanker behaupten,...

Erscheint lt. Verlag 13.6.2017
Übersetzer Joachim Schulte
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel The Language Animal. The Full Shape of the Human Linguistic Capacity
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Herder • Humboldt • Linguistik • Sprachwissenschaft
ISBN-10 3-518-75114-X / 351875114X
ISBN-13 978-3-518-75114-5 / 9783518751145
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